Der niedersächsische Flüchtlingsrat bezeichnet die Residenzpflicht heute als ein Apartheidsgesetz. Ich erwähne das nicht, weil ich mir diesen Begriff zu eigen machen möchte, aber um zu verdeutlichen, wie rückwärtsgewandt und wie diskriminierend die Residenzpflicht ist.
Das Komitee für Grundrechte und Demokratie nennt die Regelung ein „diskriminierendes Sondergesetz gegen Asylsuchende“. Sie sei in besonderer Weise dazu geeignet, die politische Brandrede vom kriminellen Ausländer zu bestätigen.
Das Flüchtlingshilfswerk UNHCR hat schon mehrfach an deutsche Behörden appelliert, die Residenzpflicht zu überprüfen; der Paragraf sei mit internationalem Recht, insbesondere mit der Genfer Flüchtlingskonvention unvereinbar. Die Residenzpflicht greift unmittelbar in das Leben der Betroffenen ein, und dies in einer Situation, in der das Leben bereits in höchstem Maße von Unselbständigkeit geprägt ist.
Wer sich in Deutschland im Asylverfahren oder in einer jahrelangen Duldung befindet, ist bereits zahlreichen Einschränkungen unterworfen. Das Leben spielt sich im Allgemeinen an einem nicht frei gewählten Wohnort mit einem unbekannten sozialen Umfeld ab.
In Flüchtlingsheimen in Sachsen-Anhalt leben mehrere sich unbekannte Menschen auf einem Zimmer. Der Tagesablauf ähnelt sich meistens stark, sofern keine Arbeitserlaubnis vorliegt, was zumeist nicht der Fall ist. Kontakte zur einheimischen Bevölkerung sind selten. Viele Asylbewerber beklagen das weit verbreitete Desinteresse an ihrer Situation.
Ich möchte einmal daran erinnern, dass während des Hungerstreiks von Flüchtlingen in Bitterfeld im letzten Jahr diese Hungerstreikenden immer wieder geäußert haben, die schlimmste Erfahrung für sie sei, dass sie sich wie Geister vorkommen würden, durch die die Menschen hindurchsehen würden.
Deutschkenntnisse wären hilfreich, werden aber nur selten vermittelt. Gute Beratung durch ausgebildete Fachkräfte in den Heimen ist selten. Obwohl das Land, also wir Steuerzahler, die Heimbetreiber für die Beschäftigung von Sozialarbeitern bezahlen, kann das Gros der tatsächlich eingestellten Personen eine einschlägige Ausbildung noch immer nicht vorweisen.
Wegen der nicht erlaubten Erwerbstätigkeit sind die asylsuchenden Menschen zur Alimentierung durch den Staat verdammt, die die Verwirklichung jeglicher Träume in weite Ferne rückt. Kommunikativ sind Asylsuchende, ebenso wie auf der Ebene des Handelns, bereits extrem eingeschränkt. Die restriktive Aufenthaltsbegrenzung verstärkt diesen Effekt des Sich-ausgeliefert-Fühlens noch zusätzlich.
Meine Damen und Herren! Wir können als Bundesland die größten Übel der Residenzpflicht beseitigen oder abmildern, indem wir die Dokumente der Asylsuchenden mit einer Auflage versehen, sich zeitweilig, beispielsweise für den Zeitraum
einer Woche, auch außerhalb des Landes Sachsen-Anhalt aufhalten zu dürfen. Genau dies fordert unser Antrag.
Auf diese Weise verfahren seit einigen Monaten bereits die Länder Schleswig-Holstein und Hamburg, die sich damit auch auf die Pläne der Koalition im Bund berufen, wo im Koalitionsvertrag vorgesehen ist, die Residenzpflicht aufzuweichen, jedoch nicht in einem genehmigungslosen Verfahren, sondern, so wie es Ihr Alternativantrag fordert, wiederum mit einem Genehmigungsverfahren verbunden.
Der Bund ist noch nicht so weit. Mit Blick auf die derzeitigen Initiativen im Bereich der Asylpolitik auf Bundesebene sind meine Erwartungen an eine wirklich gute Regelung äußerst gering.
Woran derzeit in Berlin gearbeitet wird, meine Damen und Herren, spottet zum Teil jeglicher Beschreibung.
Gestern haben wir uns über das Thema Abschiebehaft unterhalten. Derzeit kursiert ein Referentenentwurf aus dem BMI, nach dem künftig alle Asylsuchenden in Deutschland zu jeglichem Zeitpunkt wegen sogenannter - Zitat - Fluchtgefahr in Haft genommen werden können. Dieser Terminus der Fluchtgefahr erinnert mich schon in sehr betrüblicher Weise an Zeiten, die wir eigentlich längst überwunden geglaubt haben.
Das, meine Damen und Herren, soll die Antwort Deutschlands auf die globalen Krisen und Konflikte sein, die Millionen und Abermillionen von traumatisierten Flüchtlingen hinterlassen, wie aktuell in Syrien? Treffend bezeichnete Heribert Prantl diesen Referentenentwurf zur Inhaftnahme wegen sogenannter Fluchtgefahr in der „Süddeutschen Zeitung“ kürzlich als - Zitat - „das Schärfste und Schäbigste, was einem deutschen Ministerium seit Langem eingefallen ist.“
Meine Damen und Herren! Ich habe leider den Eindruck, dass die zaghaften Zugeständnisse hinsichtlich Optionszwang, Arbeits- und Bleiberecht innerhalb der GroKo jetzt mit einem Mehr an Härte im Umgang mit Asylsuchenden und Geduldeten ausgeglichen werden soll.
Ein solcher Kuhhandel auf dem Rücken der Schwächsten in unserer Gesellschaft wäre wahrhaft schäbig, meine Damen und Herren. Wir können auf dieser Welt und auch in unserem Bundesland nur miteinander und nicht gegeneinander leben. Eine Willkommenskultur kennt keine Individuen erster und zweiter Klasse. Bewegungsfreiheit ist nicht verhandelbar.
Erinnern wir uns hier an einen klugen Satz aus einem Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts vom Juni 2012, in dem es heißt: „Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.“ - Vielen Dank.
Danke sehr, Herr Kollege Herbst, für die Einbringung. - Für die Landesregierung spricht Herr Minister Stahlknecht.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN soll die sogenannte Residenzpflicht gelockert werden. Die Landesregierung soll vor dem Hintergrund des Koalitionsvertrages im Bund, der eben - Sie haben es erwähnt - eine Überarbeitung der räumlichen Beschränkung vorsieht, aufgefordert werden, eine Vorgriffsregelung nach dem Beispiel anderer Bundesländer wie Hamburg und Schleswig-Holstein zu treffen.
Einige Anmerkungen zum gegenwärtigen rechtlichen Rahmen. Asylbegehrende erhalten für die Zeit des Asylverfahrens eine Aufenthaltsgestattung, die in der Regel auf den Bezirk der zuständigen Ausländerbehörde räumlich beschränkt ist. Im Einzelfall kann auf Antrag ein vorübergehendes Verlassen erlaubt werden.
Um örtlichen Gegebenheiten Rechnung tragen zu können, besteht darüber hinaus für die Landesregierung gemäß § 58 Abs. 6 des Asylverfahrensgesetzes die Möglichkeit, durch Rechtsverordnung ein die Bezirke mehrerer Ausländerbehörden umfassendes Gebiet zu bestimmen, in dem sich die Asylbegehrenden vorübergehend ohne Erlaubnis aufhalten können. Eine derartige Verordnung existiert in Sachsen-Anhalt bereits seit 2011.
Die Verordnung ermöglicht somit Asylbewerbern den erlaubnisfreien Aufenthalt auf dem gesamten Gebiet unseres Bundeslandes. Der vorübergehende Aufenthalt geduldeter Ausländerinnen und Ausländer ist bereits gemäß § 61 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes erlaubnisfrei möglich.
Der Bund beabsichtigt ausweislich der Ausführungen im Koalitionsvertrag, nunmehr die Residenzpflicht für Asylbewerber und Geduldete auf das Gebiet des jeweiligen Bundeslandes auszuweiten. Die darüber hinausgehenden heute schon möglichen konkreten Vereinbarungen zwischen einzelnen Bundesländern sollen unbenommen bleiben.
Der für den vorliegenden Antrag wesentliche Passus des Koalitionsvertrages beinhaltet zudem das Vorhaben, ein vorübergehendes Verlassen des
Landes bis zu einer Woche auf der Grundlage einer einseitigen Mitteilung der Ausländerin bzw. des Ausländers unter Angabe des Zielortes zu ermöglichen. Versagungsgründe wie Straftaten oder konkret bevorstehende aufenthaltsbeendende Maßnahmen sollen Berücksichtigung finden können.
Nach meinem Verständnis reden wir hier von einem gesetzlichen Vorhaben, das im Vergleich zur gegenwärtigen Rechtslage zu einer vereinfachten Verfahrensweise und somit zu Bürokratieabbau und zu Erleichterungen für die Betroffenen führen dürfte.
Allerdings ist festzustellen, dass Ländererlasse, die eine faktische Aufhebung der Residenzpflicht beinhalten - das ist ja Ihr Petitum -, mit dem geltenden Bundesrecht nicht vereinbar sind. § 61 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes und § 58 des Asylverfahrensgesetzes stehen einer solchen Vorgabe klar entgegen.
Im Übrigen dürfte die hier im Raum stehende Landesregelung auch über die mit dem Koalitionsvertrag beschlossene Vereinbarung hinausgehen. Vor diesem Hintergrund, insbesondere dem juristischen, dass Bundesrecht Landesrecht bricht und dass das Landesrecht in der Normenhierarchie über Verordnungen und Erlassen steht, sehe ich die beantragte Vorgriffsregelung sehr kritisch.
Da wir mit unserer Landesverordnung den derzeit rechtlich möglichen und machbaren Geltungsbereich der Aufenthaltsgestaltung ausschöpfen und darüber hinaus zwar nur im Wege des Antragsverfahrens eine Verlassenserlaubnis im Einzelfall erteilt werden kann, plädiere ich dafür, das Gesetzgebungsverfahren des Bundestages abzuwarten. Dann sollten wir darüber im Innenausschuss gemeinsam reden. - Herzlichen Dank.
Vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen, Herr Minister. - Sie verwiesen eben darauf, dass die Bestimmungen des Bundesrechtes weitergehende Erlasse auf Landesebene verhindern würden. Ich möchte dazu - ich frage Sie, ob Sie dies zur Kenntnis nehmen - aus dem von Ihnen erwähnten § 58 des Asylverfahrensgesetzes - Verlassen eines zugewiesenen Aufenthaltsbereichs - Absatz 6 vortragen. Dort heißt es:
„Um örtlichen Verhältnissen Rechnung zu tragen, können die Landesregierungen durch Rechtsverordnung bestimmen, dass sich Ausländer ohne Erlaubnis vorübergehend in einem die Bezirke mehrerer Ausländerbehörden umfassenden Gebiet, dem Gebiet des Landes oder, soweit Einvernehmen zwischen den beteiligten Landesregierungen besteht, im Gebiet eines anderen Landes aufhalten können.“
Danke, Herr Minister. - Wir treten ein in die Fünfminutendebatte. Frau Schindler hat als Erste das Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Thema der Residenzpflicht oder, wie es auch genannt wird, die Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Asylsuchenden und die analoge Anwendung auf geduldete Ausländer ist seit längerer Zeit in der Diskussion.
Die Residenzpflicht ist seit ihrer Einführung im Jahr 1982 in meinen Augen und auch in den Augen meiner Fraktion eine Einschränkung der Freizügigkeit, zwar eine vom Staat gewollte und durch Gesetz festgelegte, aber im Ergebnis eine überarbeitungswürdige Regelung. Deutschland und Österreich sind übrigens die einzigen Staaten in Europa, in welchen es derzeit eine solche Residenzpflicht gibt.
Im positiven Vergleich zu den anderen Bundesländern hat unser Bundesland Sachsen-Anhalt bereits im Jahr 2011 durch Verordnung des Innenministers Hövelmann - darauf möchte ich an dieser Stelle hinweisen - die Residenzpflicht bezogen auf die ehemaligen Regierungsbezirke abgeschafft. Das war das, was unter den damaligen rechtlichen Grundlagen und Rahmenbedingungen, die auch heute noch gelten, möglich war. Ich möchte nur daran erinnern, dass der Freistaat Bayern zu diesem Zeitpunkt noch Lebensmittelpakete an den betroffenen Personenkreis ausreichte.
Wie Frau Quade gesagt hat, gibt es natürlich die Möglichkeit, dies auch über Ländergrenzen hinaus zu vereinbaren, dann aber mit den anderen Bundesländern, so wie es in Berlin und Brandenburg erfolgt ist. Diejenigen, die zum Facharzt oder in die Universitätsklinik mussten, die Verwandte in einem anderen Landkreis besuchen wollten, die zu einem kulturellen oder religiösen Ereignis reisen wollten,
Im Übrigen kann damit eine erhebliche Reduzierung des entsprechenden Verwaltungsaufwandes dargestellt werden. Im Einzelfall konnte gleichwohl für Personen, die zum Beispiel Straftaten begangen haben, diese Bewegungsfreiheit durch Auflagen eingeschränkt werden.
In den jetzigen Koalitionsverhandlungen ist es gelungen, natürlich auch im Kontext der bundesrechtlichen Gegebenheiten, zu vereinbaren, diese Regelung auf alle Bundesländer ausweiten zu lassen, sodass eben nicht mehr nur das Bundesland allein entscheidet, sondern es bundesrechtlich vorgegeben ist. Wir streben darüber hinaus an, dass das Verlassen des jeweiligen Bundeslandes, so wie es in unserem Bundesland geregelt ist, für wenige Wochen zulässig sein soll.
Ich möchte an dieser Stelle an Sie appellieren, dass nicht nur aus unserer Fraktion entsprechender Einfluss auf die Fraktionsmitglieder im Bundestag genommen wird, dass diese Regelung so schnell wie möglich umgesetzt wird.
Ich als langjährige Kommunalpolitikerin möchte aber auch darauf hinweisen, dass die Wohnortzuweisung verbunden mit einer Regelung, die eine Unterstützungsleistung nach sich zieht, beibehalten werden muss, um eben auch die entsprechende Verteilung der Lasten auf die Gebietskörperschaften real zu haben. Dieses darf nicht mit der Festlegung der Residenzpflicht verwechselt werden.
Der vorgelegte Änderungsantrag der Fraktionen der CDU und der SPD bezeichnet, wie festzustellen war, im Wesentlichen die Vereinbarung auf der Bundesebene; dies ist die Vereinbarung mit der CDU. Wir wissen, dass wir als SPD teilweise andere Auffassungen haben, andere Positionen vertreten. Es ist der entsprechende Kompromiss. - Ich bitte um Zustimmung zu unserem Änderungsantrag.