Protocol of the Session on February 28, 2014

In einem anderen Fall, der bundesweit Aufsehen erregte, wurden ein ebenfalls türkischstämmiger Imbissbetreiber und seine Freundin in Mücheln attackiert, verletzt, beleidigt und mit Bezügen auf den NSU bedroht. Die Polizei nahm den Notruf nicht ernst. Zuerst machte man bei dem Opfer einen Alkoholtest, statt es medizinisch zu versorgen, ignorierte zunächst Schnittwunden am Kopf des Opfers und schloss dann vor Ort einen rechten Tathintergrund aus. Aus Mangel an Beweisen wurden die Beschuldigten folgerichtig freigesprochen. Für die Opfer und ihre Angehörigen muss das wie Hohn sein.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Nach dem Überfall auf eine syrische Familie auf der Eisleber Wiese im Jahr 2012 wurden die Opfer nicht rechtsmedizinisch untersucht und es wurde ebenfalls lange keine rassistische Tatmotivation gesehen. Mit dem nun ergangenen Urteil äußerte auch das Gericht Kritik an der Ermittlungsarbeit der Polizei. Dass der Ministerpräsident diesen Fall offenkundig zum Anlass dafür nahm, auf ein Zusammensetzen von Justiz- und Innenministerium zu drängen, haben wir der Presse entnehmen können.

Wir finden, dass es bei dem jetzt angekündigten Zusammensetzen von Innenminister und Justizministerin nicht bleiben kann.

(Zustimmung bei der LINKEN und bei den GRÜNEN)

Gerade vor dem Hintergrund der von mir geschilderten Fälle wird deutlich, wie notwendig und überfällig eine ernsthafte und kritische Überprüfung und Neubewertung der Fälle sowie die Hinterfragung und Überarbeitung der zugrunde gelegten Kriterien der behördlichen Einstufung ist. Denn wenn die Opfer rechter Gewalt um ihre Anerkennung kämpfen müssen, widerfährt ihnen erneut Unrecht, wird ihnen Solidarität verweigert, wird die wirkliche Dimension rechter Gewalt nicht erkannt.

Mit Blick auf die Todesopfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt belegt ein weiteres Beispiel aus dem Untersuchungsbericht der Innenministeriums und des Justizministeriums die Notwendigkeit der

Überprüfung nicht nur des konkreten Falls, sondern auch der Erfassungssysteme.

Ein seit 1989 in Halberstadt aktiver Neonazi, der zum Tatzeitpunkt eine größere Anzahl neonazistischer Tonträger besaß, gerät im Jahr 2000 wegen des Abspielens neonazistischer Musik und wegen „Sieg Heil“-Rufen in einen Streit mit seinem Nachbarn Helmut Sackers und tötet ihn daraufhin mit mehreren Messerstichen. Obwohl sich der Streit eindeutig wegen des Abspielens des HorstWessel-Liedes entwickelt hat, kann die Tat dennoch nicht als neonazistisch eingestuft werden, da nicht eindeutig belegbar scheint, dass ein Kausalzusammenhang zwischen der rechtswidrigen Tat und der politischen Orientierung des Täters besteht.

Weil das einschlägige PMK-Bewertungssystem für die Beurteilung der Frage, ob eine Tat kausal auf einen politischen Beweggrund zurückzuführen ist, jedoch auch zwingend das Vorliegen eines strafrechtlich vorwerfbaren Verhaltens voraussetzt, ist dieser Fall statistisch nicht zu bewerten - so der Untersuchungsbericht der Ministerien.

Der Beschuldigte wurde also freigesprochen. Er behauptete, aus Notwehr gehandelt zu haben. Als einzige Zeugin belegte seine Freundin, zwischenzeitliche Verlobte und heutige Ehefrau, die Tat. Der Beschuldigte wurde freigesprochen. Es gibt ein Opfer, es gibt eine Tötung, aber es gibt statistisch gesehen kein Verbrechen.

An diesem Beispiel wird deutlich, dass es das zugrundeliegende Meldesystem zur Erfassung der politisch motivierten Kriminalität nicht vermag, Aussagen über das tatsächliche Ausmaß rechter Ideologie und Gewalt zu treffen bzw. diese adäquat darzustellen. Die amtliche Statistik - das machen die Beispiele deutlich - bleibt in ihren eigenen Kriterien gefangen und beraubt sich damit selbst ihrer Aussagekraft.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Genauso wichtig wie die Erfassung ist die Frage des polizeilichen und behördlichen Umgangs mit den Betroffenen. Um es ganz deutlich zu sagen: Wo Menschen arbeiten, passieren selbstverständlich auch Fehler. Das gilt nicht nur für die Polizei und auch nicht nur für den Phänomenbereich Rechtsextremismus. Dass es beispielsweise Probleme im Bereich der rechtsmedizinischen Untersuchung gibt, das zeigt nicht nur der Fall, über den wir gestern in der Fragestunde sprachen, das belegt auch eindeutig eine Antwort auf eine Kleine Anfrage meiner Kollegin Eva von Angern.

Fehler, Pannen und Defizite weisen also über den Bereich des Umgangs mit rechter Gewalt hinaus. Nicht nur die beschriebenen Fälle zeigen: Hierbei von Einzelfällen zu sprechen ignoriert die wiederkehrenden Muster, die auf ein systemisches Problem hindeuten.

Der jüngste Bericht der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz ist bereits angesprochen worden. Weil dieser an Klarheit hinsichtlich der Problembeschreibung kaum zu überbieten ist, möchte ich ein längeres Zitat daraus bringen:

„Trotz der Empfehlung von ECRI hat Deutschland bisher noch nicht das Protokoll Nr. 12 zur Europäischen Menschenrechtskonvention ratifiziert. 2012 hat es der Bundesrat in einem weiteren Versuch versäumt, das rassistische Motiv als strafverschärfenden Umstand in das Strafgesetz aufzunehmen. Im Bereich Aufstachelung zum Hass gibt es einen erheblichen Grad von Straffreiheit.

Es fehlt den Opfern von rassistischen Taten oder von Rassendiskriminierung an Unterstützung seitens der staatlichen Stellen, zum Beispiel aufgrund von Racial Profiling…

Die hohe ‚Untererfassung’ von Straftaten, die mit Rassismus und Homo-/Transphobie verbunden sind, spiegelt ein mangelndes Vertrauen seitens der schutzbedürftigen Gruppen im Hinblick auf die Wirksamkeit von Strafverfahren wider, die von der Polizei und der Staatsanwaltschaft eingeleitet werden. Diese Ineffektivität wurde durch die Versäumnisse bei den Ermittlungen über die Morde unterstrichen, die vom Nationalsozialistischen Untergrund begangen wurden. Ein rassistisches Motiv wird nur in einer verschwindend geringen Zahl von Urteilen angeführt.

Der Begriff Rassismus wird in Deutschland häufig zu eng ausgelegt und mit organisierten Gruppen verbunden. Der rassistische und besonders der fremdenfeindliche Charakter in Teilen der öffentlichen Debatte wird immer noch nicht ausreichend verdeutlicht.“

Der Bericht spricht infolge der umfangreichen Untersuchungen eine Reihe von Empfehlungen für verschiedene Politikbereiche aus und fordert alle politischen Ebenen explizit zum Handeln auf. Mit unserem Änderungsantrag zu dem Antrag der GRÜNEN haben wir uns diesen Bericht zu Eigen gemacht, weil wir glauben, dass dieser eine Bereicherung des Ursprungsantrags ist und zudem ein wichtiger Schritt, um Rassismus und Neonazismus nicht nur adäquat zu erfassen, sondern ihm auch effektiv entgegenzutreten. - Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung bei den GRÜNEN)

Danke schön. - Als Nächster spricht in der Debatte Abgeordneter Herr Kolze von der Fraktion der CDU.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin der antragstellenden Fraktion ausgesprochen dankbar dafür, dass wir nach den Ausschussbefassungen zu dieser Thematik auch in diesem Hohen Haus eine intensive Debatte zu der systematischen Überprüfung von Altfällen mit Anhaltspunkten für eine mögliche politische Tatmotivation führen.

Die Aufdeckung der NSU-Mordserie war Anlass für weitreichende bereits erfolgte und aktuell in der Umsetzung befindliche oder noch geplante Reformbemühungen in den Bereichen Polizei, Verfassungsschutz und Justiz. Keine Frage: Die zutreffende Erfassung und Analyse und die wirksame Bekämpfung von politisch motivierten Straftaten ist ein zentrales innenpolitisches Anliegen.

Die schrecklichen Verbrechen der Terrorserie des Nationalsozialistischen Untergrunds haben uns jedoch auch gelehrt, dass es hierbei um mehr geht. Es geht auch darum, dass für die Angehörigen der Opfer, die geliebte Menschen verloren haben, die jahrelange Ungewissheit über die Täter und deren Motive eine nur sehr schwer zu ertragende Belastung ist.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch unserer Auffassung nach ist es schlichtweg geboten, die bislang ungeklärten Altfälle, die mit den NSU-Straftaten vergleichbar sind und bei denen abstrakt denkbare Anhaltspunkte für eine mögliche politisch rechte Tatmotivation bestehen, einer systematischen Überprüfung zu unterziehen.

Die vom Bundesministerium des Innern unmittelbar nach der Aufdeckung der NSU-Straftaten angestoßene Überprüfung der ungeklärten Altfälle, die einen den NSU-Straftaten vergleichbaren Modus Operandi aufweisen, erfolgt im neu gegründeten Gemeinsamen Extremismus- und Terrorabwehrzentrum GETZ.

Aktuell werden in einem ersten Schritt zunächst die ungeklärten Tötungsdelikte aus den Jahren 1990 bis 2011 überprüft. Richtschnur für diese Überprüfung ist die Definition von politisch motivierter Kriminalität. Ausgehend hiervon wurde gemeinsam mit polizeiinternen und -externen Wissenschaftlern aus dem Bereich der Rechtsextremismusforschung ein weit gefasster opfer- bzw. objektbezogener Indikatorenkatalog entwickelt und zwischen Bund und Ländern abgestimmt. Anhand dieser Kriterien wurden ungeklärte Tötungsdelikte hinsichtlich abstrakt denkbarer Anhaltspunkte für eine mögliche rechte Tatmotivation in den Blick genommen.

In die aktuelle Überprüfung einbezogen sind zudem jene Tötungsdelikte, die mit der im September 2011 veröffentlichten Publikation „137 Todesopfer rechter Gewalt seit 1990“ korrespondieren. Aus

Sachsen-Anhalt wurden Daten zu insgesamt 41 Straftaten übersandt. Im Blickpunkt standen Straftaten, bei denen in Würdigung der Umstände der Tat und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass diese gegen eine Person gerichtet sind, zum Beispiel wegen ihrer Herkunft oder Hautfarbe, und die Tathandlung damit im Kausalzusammenhang stehen könnte.

Bei der Sichtung der Falldaten zu den Tötungsdelikten wurden neben den aufgeführten harten Opferkriterien auch weiche Kriterien berücksichtigt, zum Beispiel die Tatörtlichkeit selbst oder eine gegebenenfalls vorliegende raum-zeitliche Nähe zu bestimmten Veranstaltungen.

Anders als es die Medienberichterstattung suggeriert, kann anhand der auf der Grundlage des Indikatorenkatalogs getroffenen Vorauswahl jedoch keinerlei Aussage über einen tatsächlichen oder wahrscheinlichen politisch rechtsmotivierten Hintergrund getroffen werden. Die bundesweit 745 Fälle sind lediglich Grundlage für die nun folgende eingehendere kriminalistisch-analytische Aufarbeitung. Die Überprüfung dauert weiter an und wird voraussichtlich erst im Laufe dieses Jahres abgeschlossen sein.

Eine Aussage hinsichtlich einer eventuell erforderlich werdenden Neubewertung der Anzahl der Opfer rechtsextremistischer Gewalt in Deutschland ist daher noch nicht möglich. Wir sind gut beraten, uns nicht an Mutmaßungen zu beteiligen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe es bereits erwähnt: In der zwischen Bund und Ländern abgestimmten Konzeption zur Durchführung der Altfallüberprüfungen sollten nur ungeklärte Tötungsdelikte ohne Tatverdächtige überprüft werden.

Zu der ursprünglich vorgesehenen Deliktgruppe sind auch aufgeklärte Tötungsdelikte einbezogen worden. Der Innenausschuss dieses Hohen Hauses hat sich bereits im Mai 2012 die analytische Aufarbeitung und Einzelfallbetrachtung dieser aufgeklärten Verbrechen von der Landesregierung vorstellen lassen. Sachsen-Anhalt war hierbei bundesweit Vorreiter, so wie es im Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch zutreffend formuliert worden ist.

Die Landesregierung hat acht Tötungsdelikte im Land ausführlich untersucht und dazu eine detaillierte Expertise erstellt. Justiz- und Innenministerium haben sich mithilfe einer unabhängigen Prüfung durch Fachleute mit der Tatbegehung und den jeweiligen Urteilen auseinandergesetzt und letztlich zu jedem Fall ein Votum abgegeben.

Grundlage der von der Generalstaatsanwaltschaft durchgeführten Prüfung waren - soweit noch nicht vorhanden - die Strafakten. Soweit es möglich war, wurden mit den Vorsitzenden Richtern bzw. den

Sitzungsvertretern der Staatsanwaltschaften Gespräche geführt. Justiz- und Innenressort sind bereits im Frühjahr 2012 in drei Fällen übereingekommen, dass eine politisch rechte Motivation nahe liegt und die statistische Erfassung entsprechend geändert werden soll.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf Bundes- und auf Landesebene wurde sehr viel für eine systematische Überprüfung von Altfällen mit Anhaltspunkten für eine mögliche politische Tatmotivation getan. Das war auch nötig, denn in der heutigen Zeit wird in Bezug auf rechtsextremistische Vorfälle eine höhere Sensibilität an den Tag gelegt als in den frühen 90er-Jahren.

Ich sage aber auch deutlich: Es geht hierbei allein darum, die Statistik zu ändern. Die aufgrund von Prüfungen vorgenommenen Änderungen der statistischen Erfassung stellen für uns keineswegs eine Kritik an der Spruchpraxis der Gerichte dar. Eine solche steht uns auch nicht zu. Dieses Hohe Haus ist keine Superrevisionsinstanz.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mir scheint es aber so, als ob dies noch nicht alle verinnerlicht hätten. Mit großer Sorge nehmen wir zur Kenntnis, dass Mitglieder dieses Hohen Hauses durch ihre öffentlichen Erklärungen versuchen, Einfluss auf die Staatsanwaltschaft und letztendlich auf die richterliche Unabhängigkeit zu nehmen.

Frau Quade hat in ihrer Pressemitteilung vom 14. Februar die Staatsanwaltschaft angegriffen, weil diese ihrer Meinung nach hinsichtlich des Angriffs auf einen türkischstämmigen Imbissbetreiber in Bernburg kein rassistisches Tatmotiv sehe. Es geht hierbei um den subjektiven Tatbestand, also um die Frage, welche Motivation und welche Absicht ein Täter gehabt sowie welche Überlegungen er angestellt hat.

Diese Bewertung steht allein den Gerichten und nicht den Mitgliedern dieses Hohen Hauses zu. Ich weiß nicht, ob die Angreifer von Bernburg aus einer rechten Motivation heraus gehandelt haben.

(Frau Dirlich, DIE LINKE: Das war doch ein- deutig!)

Diese liegt, wenn die Medien- und Augenzeugenberichte zutreffend sind, nahe. Eine schnelle Parallelbewertung in der Laiensphäre schürt aber nur eine Erwartungshaltung in der Öffentlichkeit bezüglich des Strafprozesses, die vielleicht aus der Erwägung staatlicher Grundsätze oder Umstände heraus gar nicht erfüllt werden kann.

Der Umstand, dass eine Person mutmaßlich aus der rechten Szene stammt, ist aus juristischer Sicht nicht ausreichend, um von einer rechten Motivation auszugehen. Diese rechte Motivation muss, wenn sie denn strafschärfend wirkt, unwiderlegbar nachgewiesen sein. Alles andere wäre schlichtweg Gesinnungsstrafrecht.

Meine Fraktion wird immer dafür einstehen, dass die Einordnung von Straftaten bezüglich einer politisch rechten Motivation allein auf der Grundlage belastbarer Beurteilungskriterien erfolgt, auch wenn ständig eine Debatte über die Bewertung der Tatmotivation bei Straf- und Gewalttaten durch einige Mitglieder dieses Hohen Hauses vom Zaun gebrochen wird.

Wenn Sie als Anhaltspunkt für eine rechte Motivation losgelöst von der Würdigung der Umstände der Tat oder der Einstellung eines Täters allein die mutmaßliche Zugehörigkeit zur rechten Szene genügen lassen wollen, dann ist das schlichtweg die Vorstufe zum Gesinnungsstrafrecht. Aber der Weg in die Hölle ist ja bekanntlich durch gute Absichten gepflastert.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Abschließend zu dem uns vorliegenden Antrag nur so viel: Die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden ist dadurch verbessert worden, dass ein persönlicher, auf Expertisen basierender systematischer Austausch der in verschiedenen Behörden vorhandenen Informationen sichergestellt wurde und gemeinsame Bewertungs- und Analysemöglichkeiten umgesetzt wurden.

Es ist richtig, bisher ungeklärte Altfälle, bei denen Anhaltspunkte für eine mögliche politisch rechte Tatmotivation bestehen, einer systematischen Prüfung zu unterziehen. Hierfür wird auf Bundes- und Landesebene sehr viel getan. Das sind wir den Opfern und ihren Angehörigen auch schuldig.