Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mit unserem Antrag greifen wir ein Thema auf, das den meisten Menschen in unserem Land völlig unbekannt sein wird. Bei Besuchen von Werkstätten für Menschen mit Behinderungen, in Gesprächen mit Eltern und Vertreterinnen und Vertretern der Lebenshilfe wurden wir immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass sie sich um die Zukunft ihrer in den Fördergruppen Betreuten Sorgen machen und dass diesbezüglich dringender Handlungsbedarf besteht.
Das Anliegen des Antrages wird nicht die Grundfesten unseres Landes erschüttern. Allerdings kann eine menschengerechte Lösung des Problems sehr dazu beitragen, dass unsere auf dem
Worum geht es? - Schwerstmehrfachbehinderte Menschen, die nicht, noch nicht oder nicht mehr in der Lage sind, wirtschaftlich verwertbare Leistungen in der Werkstatt für Menschen mit Behinderungen zu erbringen, werden in sogenannten Fördergruppen unter dem Dach der Werkstatt für Menschen mit Behinderungen gefördert und betreut. Eine juristisch eindeutige Definition dafür, was wirtschaftlich verwertbare Leistungen sind, gibt es nicht. Die Grenzen der sogenannten Werkstattfähigkeit sind also nirgends eindeutig festgelegt.
Gesetzlich geregelt ist in § 139 SGB IX, dass solche Fördergruppen eingerichtet werden sollen. In Sachsen-Anhalt wurde im zur Rede stehenden Rundschreiben im Jahr 1993 festgelegt, dass die Fördergruppen für jene - ich ziere - Schwerstbehinderten gedacht sind, die im Familienverband leben und von ihren Eltern oder sonstigen Familienangehörigen betreut werden.
Eine gesetzliche Grundlage für diese Einschränkung des Personenkreises und damit auch der Zugangsberechtigten gibt es nicht. Im Rundschreiben heißt es weiter - Zitat -: Das zusätzliche Versorgungsangebot soll der Entlastung dieser Familien dienen und deren Bereitschaft zur Weiterbetreuung der Behinderten stärken. - Das war vor mehr als 20 Jahren. Die Familien sind in die Jahre gekommen, und sowohl die gesellschaftlichen als auch die persönlichen Voraussetzungen der Betroffenen haben sich geändert.
Zusätzlich ist das Angebot auch nicht; denn auch schwerstbehinderte Menschen haben ein Recht auf Teilhabe. Es geht hierbei eben nicht nur um Betreuung und Familienentlastung. Allerdings wurden die Familien meist in dem Gefühl belassen, dass ihnen eine große Gnade widerfährt, wenn ihre Kinder in die Fördergruppe gehen dürfen.
Was die gesellschaftlichen Veränderungen betrifft, stellen wir fest: Der Artikel 3 des Grundgesetzes hat sich 1994 geändert, das SGB IX wurde im Jahr 2001 verabschiedet, das SGB XII im Jahr 2003. Mit den Behindertengleichstellungsgesetzen des Landes Sachsen-Anhalt 2001 und 2010 und des Bundes 2002 und 2007 und natürlich vor allem mit der UN-Behindertenrechtskonvention von 2006, die seit der Ratifizierung vor fünf Jahren in Deutschland Gesetzescharakter trägt, haben sich die Rahmenbedingungen entscheidend verändert.
Hinzu kommt, dass sich in vielen Familien auch die persönlichen Voraussetzungen verändert haben: Die Eltern sind 20 Jahre älter und haben in diesen 20 Jahren nicht über Gebühr von Entlastungen profitieren können. Im Gegenteil, viele bürokratische Neuerungen verlangen vor allem vollen Ein
satz. Gesundheitliche Probleme mit zunehmendem Alter sowie aufgrund der jahrzehntelangen psychischen und physischen Belastungen nehmen zu.
Jüngere schwerstbehinderte Menschen setzen stärker auf Selbstbestimmung und möchten möglichst unter Gleichaltrigen leben und nicht in Altenpflegeheime abgeschoben werden. Auch deren Eltern nabeln sich zum Teil früher ab.
Wie sieht nun die gegenwärtige Praxis im Umgang mit den in Fördergruppen betreuten Menschen aus, wenn sie außerhalb ihrer Familien wohnen wollen oder müssen, weil die Familien sie nicht mehr betreuen können? Da gibt es verschiedene Varianten.
Eltern, die versterben: Der behinderte Mensch wird in eine stationäre Einrichtung nach dem Leistungstyp 2 a, in der ein Platz frei ist, gebracht und verliert damit nicht nur seine engste Bezugsperson in der Familie, sondern auch die tagsüber gewachsene Gemeinschaft in der Fördergruppe und häufig auch den regionalen Bezug.
Eltern, die sich wegen gesundheitlicher Probleme um die Abnabelung bemühen und eine Wohnform in der Nähe des bisherigen Wohnortes suchen: Sie werden auf stationäre Einrichtungen - ebenfalls Leistungstyp 2 a - verwiesen, weil die meisten Werkstätten für Menschen mit Behinderungen, an denen Fördergruppen existieren, keine Wohneinrichtungen haben. Diese Einrichtungen sind für die meisten Familien nicht wohnortnah vorhanden. Das bedeutet weitere Entfernungen, wenig Besuchsmöglichkeiten durch die meist immobilen Familien, die infolge der Behinderung ihrer Kinder häufig nicht nur gesundheitlich, sondern auch finanziell am Limit leben.
Daraus ergeben sich folgende Konsequenzen. Die Familien kämpfen buchstäblich bis zum Umfallen, um die Betreuung in der Familie zu sichern und den Besuch der Fördergruppe zu erhalten. Oder die Familien fügen sich und geben Sohn oder Tochter in eine stationäre Einrichtung, trennen sie von der Fördergruppe und riskieren schwere persönliche Katastrophen.
Eltern, die versuchen, flexible Wohnformen zu organisieren oder mithilfe der Werkstattträger Lösungen zu finden, die den Verbleib in der angestammten Fördergruppe ermöglichen: Sie treffen auf zig bürokratische Hürden und immer wieder auf das Rundschreiben von 1993,
das mit seiner Einschränkung auf im Familienverband lebende Schwerstbehinderte den Verbleib in der Fördergruppe verhindert. Und selbst das persönliche Budget, für viele ein großer Hoffnungsschimmer, ist keine Hilfe. Durch die finanziellen Beschränkungen des persönlichen Budgets für
Das Rundschreiben enthält eine weitere Festlegung, die sich ebenfalls als Hürde bei der Weiterentwicklung von Fördermöglichkeiten erweist und rational nicht zu erklären ist. Da ist die Festschreibung der Platzzahl auf 10 % der Werkstattplätze mit einem Personalschlüssel von 1 : 4, in Ausnahmefällen 20 %, dann allerdings mit einem Personalschlüssel von 1 : 6.
In Sachsen- Anhalt werden derzeit etwa 500 Personen in Fördergruppen betreut. Ungefähr die Hälfte davon ist in einem Alter, das auf Eltern schließen lässt, die älter als 60 oder 70 Jahre sind. Das geht aus der Antwort auf eine Große Anfrage in der Drs. 5/1906 auf Seite 17 hervor.
Aus einer Umfrage der Lebenshilfe Sachsen-Anhalt vom letzten Jahr wird deutlich: In den nächsten fünf Jahren könnten etwa 35 % bis 45 % der Fördergruppennutzer Assistenzbedarf im Lebensbereich Wohnen anmelden. Dass dies bisher nicht in diesem Umfang erfolgte, liegt unter anderem daran, dass die Betroffenen keine ihren Vorstellungen entsprechende Lösungsmöglichkeit sehen.
Unsere Aufgabe ist es, den Prinzipien der UN-Behindertenrechtskonvention und des Behindertengleichstellungsgesetzes Geltung zu verschaffen. Deshalb muss der Erlass zur Einführung, Ausgestaltung und Finanzierung der Fördergruppen, mit dem Rundschreiben Nr. 3-7/93 vom 10. Juni 1993 bekannt gemacht, aufgehoben werden und durch den genannten Anforderungen entsprechende Regelungen ersetzt werden.
Flexibilität in der Leistungserbringung, insbesondere bezüglich der Betreuungsform und des Betreuungsortes, muss Menschen mit schwerstmehrfachen Behinderungen nach ihrer Wahl gewährt werden - bei Aufrechterhaltung der Kontaktmöglichkeiten mit der Familie und unter Wahrung des Zweimilieuprinzips. - Ich bitte um Zustimmung zu unserem Antrag.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für heute bin ich das letzte Mal hier. Ich habe schon gemerkt, die Hälfte der Tagesordnungspunkt musste ich heute bestreiten.
(Herr Henke, DIE LINKE: Oh! - Frau Dr. Klein, DIE LINKE: Mein Mitleid hält sich in Grenzen! - Frau Bull, DIE LINKE: Wir auch!)
Ich gebe zu, Frau Zoschke, ich habe bei dem Antrag, als ich ihn das erste Mal und dann noch einmal gelesen habe, nicht gleich gewusst, worum es geht, auch mithilfe der Begründung nicht. Es ist mir erst anschließend klar geworden, als ich im Haus noch einmal diskutiert habe, dass es tatsächlich um ein absolut wichtiges Anliegen geht, um die Gestaltung von Wohn- und Betreuungsmöglichkeiten - darum geht es ja letztlich - für Menschen mit Schwerstmehrfachbehinderungen.
Ich denke, das Problem - es ist ja ein spezielles Problem - hat sich in den letzten 20 Jahren verschärft.
(Herr Lüderitz, DIE LINKE, erhebt sich von seinem Platz und versperrt die Sicht des Mi- nisters auf Frau Zoschke, DIE LINKE)
Deshalb hat das, was im Jahr 1993 festgelegt worden ist, wahrscheinlich seinen Sinn gehabt in der Zeit, in der man noch viel mehr Familien hatte, in denen die Eltern jünger waren und die Betreuung ihres schwerbehinderten Kindes auch gerne übernommen haben. Ich sage „gerne“ mit Riesenrespekt, wirklich mit Riesenrespekt. Aber dass sie wie wir alle älter geworden sind, ist klar, auch dass sich die Probleme innerhalb der Familien verschärfen, weil man in eine ausweglose Situation kommt und weil gerade diese Eltern sich besonders viel Gedanken machen, was mit ihren Kindern wird, wenn sie das selbst nicht mehr leisten können.
Ich will an dieser Stelle keine langen Ausführungen zum Landesaktionsplan machen. Darin steht ein bisschen mehr in diese Richtung. Aber er muss sich auch weiterentwickeln, weil das mit der Behindertenrechtskonvention zu tun hat.
Es geht um Menschen mit Schwerstmehrfachbehinderungen, die in den Fördergruppen in den Werkstätten betreut werden, aber bislang in der eigenen Häuslichkeit wohnten, meist bei ihren Eltern. Das waren sozusagen ihre tagesstrukturierenden Maßnahmen und sozialen Kontakte, die sie hatten.
Offenbar ist der Prozess mit zunehmendem Alter schwieriger zu gestalten. Das bekomme ich nach Diskussionen mit Vertretern der Lebenshilfe oder anderer Organisationen, die mit Menschen mit Behinderungen und deren Eltern zu tun haben, des Öfteren mit. Es ist offenbar in solchen Fällen, in denen die Eltern das nicht mehr leisten können, weil sie hochbetagt sind, schwierig, diesen schwerstmehrfachbehinderten Menschen einen Platz in einem Wohnheim oder in einer betreuten Wohngemeinschaft zur Verfügung zu stellen und
Zu dem, was Sie fordern, muss der genannte Erlass aus dem Jahr 1993 nicht komplett aufgehoben werden, da er nur die Aufnahme in die Fördergruppe regelt und keine verbindliche Regelungen über das Wohnen beinhalt. Es geht ja hauptsächlich darum, dort eine Wohnmöglichkeit zu bekommen.
Offenbar ist die Anmerkung in dem Erlass der Stein des Anstoßes geworden - diese Anmerkung war als Hinweis zu verstehen -, da er keine zwingende Regelung zu diesem Gegenstand vorsieht. Das werden wir gegenüber den Sozialämtern nochmals klarstellen müssen und noch klarstellen. Allerdings - darin liegt die Krux - muss die doppelte Bereitstellung von Leistungen vermieden werden; das habe ich soeben erwähnt.
Zu diesem Zweck sind wir bestrebt, die Leistungen für Wohnen und Tagesförderung in der Eingliederungshilfe und konzeptionell noch stärker voneinander zu unterscheiden. Das ist auch deshalb notwendig, weil das stationäre Wohnen regelmäßig auch die Tagesstruktur umfasst und daher die leistungsrechtliche Kombination mit der Tagesförderung an der Werkstatt für Menschen mit Behinderungen zu einer Doppelleistung führen kann. Dabei - das weiß ich - gehen die Diskussionen immer richtig los. Das müssen wir klären.
Aktuell wird diese Unterscheidung in der zwischen Sozialagentur und Trägern zu schließenden Leistungsvereinbarung vorgenommen, um auch den Leistungsberechtigten aus der eigenen Häuslichkeit die Möglichkeit einzuräumen, tagesstrukturierende Maßnahmen in der Einrichtung in Anspruch zu nehmen, wie sie es bisher machen. Damit wurde ein erster Schritt im Leistungsrecht zur Modularisierung des Wohnens und der Tagesstruktur vorbereitet, um die Durchlässigkeit und Ausweitung der Leistungen zu erhöhen.
Eine weitere Schwierigkeit bei der Öffnung der Wohnheime an Werkstätten für Menschen, die die Fördergruppen besuchen, ergibt sich aus den zuwendungsrechtlichen Grundlagen, die der Finanzierung der Einrichtung dieser Wohnheime in den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts zugrunde gelegt worden sind. Aber auch an diesen Schwierigkeiten wird gearbeitet, um die Wahlmöglichkeit von Menschen mit Behinderung und ihre Familien zu erhöhen, dass sie sowohl das eine als auch das andere wahrnehmen können. Das müssen wir noch regeln. Das ist tatsächlich eine offene Frage. Aber ich glaube, dass es zu regeln ist.
sigkeit und die Flexibilität der Leistungsform für Menschen mit Behinderung zu erhöhen und dem Wunsch nach einem Wahlrecht in Zukunft noch besser gerecht zu werden. Ich bin sicher, dass uns das auch in den in dem Antrag der Fraktion DIE LINKE angesprochenen Fällen gelingen wird.
Abschließend - ich habe das schon einmal einfließen lassen -: Ich habe großen Respekt - ich glaube, Sie alle hier auch - vor Menschen, die sich aufopferungsvoll um ihre behinderten Angehörigen kümmern. Die verdienen wirklich höchste Anerkennung und großen Dank.
Man muss eben auch eingestehen, dass mit zunehmendem Alter auch die Angehörigen an die Grenzen ihrer Kräfte und Möglichkeiten stoßen. Alle Leistungsträger und alle Leistungserbringer sind hierbei gefordert, ihre Möglichkeiten auszuschöpfen und flexible Angebote zu unterbreiten, die dem individuellen Hilfebedarf einerseits und dem Wunsch- und Wahlrecht andererseits gerecht werden können.