Protocol of the Session on June 7, 2012

Zum anderen bietet Vielfalt, Heterogenität, in den Lernausgangslagen auch die Möglichkeit, unterschiedliche Denkwege, unterschiedliche Lösungsoptionen kennenzulernen, Lösungsansätze, -muster und Lernstrategien der oder des anderen zu erfahren, auszuprobieren, zu reflektieren und zu schauen, ob man davon etwas hat, ob man davon profitieren kann. - So weit zur Ausgangslage.

Wie ist nun Schulreform zu machen? Wie gelingt ein Umbau bei laufendem Betrieb, wie ist die Akzeptanz der Akteurinnen und Akteure zu gewinnen? - Ich will ganz deutlich sagen: Die Zeiten, zu denen eine siegreiche Partei vorbei kam und sagte: „Ich weiß, wie Schulreform geht; ich führe von einem Tag auf den anderen die neue Gemeinschaftsschule ein.“, dürften vorbei sein; allein schon aus dem Grunde, dass Reform nur machbar ist, wenn ich Lehrkräfte, wenn ich Eltern, wenn ich Schülerinnen und Schüler davon überzeugen kann. Dafür muss ich werben.

(Beifall bei der LINKEN)

Zwei Vorschläge stehen heute zur Diskussion.

Die Landesregierung will eine neue Schulform namens „Gemeinschaftsschule“ auf dem Weg der Freiwilligkeit einführen. Dazu werde ich am Ende der Debatte noch einiges sagen.

Meine Fraktion wählt einen anderen Weg. Wir sagen: In einem ersten Schritt muss die Angleichung der Bildungsgänge in der Sekundarschule und im Gymnasium organisiert werden. Das ist, wenn Sie so wollen, quasi eine neue Sekundarschule, die man auf administrativem Weg wählt. Wir wollen, dass zunächst alle Schülerinnen und Schüler auf den Realschulabschluss orientiert werden. Wir wollen durch die Angleichung der Bildungsgänge den Weg zum Abitur gegebenenfalls offen machen.

Ich will an dieser Stelle mit einer Legende aufräumen. Natürlich geht es nicht darum, dass alle Kinder Abitur machen. Das ist Nonsens. Hier geht es darum, dass der Weg zum Abitur nicht schon vorher verbaut oder erschwert wird.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir wollen das Lernen im Gleichschritt ablösen durch binnendifferenziertes und individualisiertes Lerngeschehen.

(Zurufe von der CDU)

Wir wollen, dass polytechnische Bildung zum Prinzip aller Schulen wird. Das heißt ganz konkret: Wir wollen unmissverständlich in der Sekundarschule die gleichen Stundentafeln und die gleichen curricularen Vorgaben wie am Gymnasium. Ich nenne noch einmal das Stichwort: zweite Fremdsprache verbindlich für alle Kinder. Bei uns gibt es keine äußere Fachleistungsdifferenzierung mehr. Es gibt auch keinen hauptschulabschlussbezogenen Unterricht.

(Zuruf von Herrn Borgwardt, CDU)

Wohl aber gibt es auch bei uns die Möglichkeit des Hauptschulabschlusses. Aber Kinder werden nicht in Klasse 7 auf ein Bildungsgleis gesetzt. Es gibt ebenso die Möglichkeit, sich real auf den Weg zur Hochschulreife zu begeben. Das steht explizit in § 5 zur Sekundarschule. Wir wollen, um den Weg zum Abitur offen zu lassen, dass alle Sekundarschulen verbindlich eine Kooperation mit Gymnasien, Fachgymnasien oder Gesamtschulen betreiben.

Meine Damen und Herren! Bei uns werden sogar die Integrativen Gesamtschulen integrativer, alldieweil die Qualifikationsstufe für das Gymnasium erst ab Klasse 10 beginnt.

Ich möchte an dieser Stelle noch auf einige wenige andere Punkte unseres Gesetzentwurfs hinweisen, die mit der Schulstruktur nichts zu tun haben, aber dennoch für eine moderne, demokratische Schule aus unserer Sicht unverzichtbar sind. Dabei geht

es zum einen um das Stichwort Schuldemokratie. Wir unternehmen noch einmal den Versuch, den die Bündnisgrünen vor einiger Zeit unternommen hatten, die Drittelparität einzuführen. Hierzu kann ich nur sagen, dass ich die Debatte damals sehr enttäuschend fand. Wenn wir miteinander wollen, dass Schülerinnen und Schüler Demokratie erlernen, dann müssen sie sie auch mit allen ihren Schwierigkeiten und Spannungsfeldern erfahren.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Abendland wird nicht untergehen. Ich sage das noch einmal. Man kann sich das praktisch im Bördekreis angucken.

Wir sagen, was wir von pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erwarten.

Ein letzter Punkt. Wir wollen, dass die Schülerbeförderung für die Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe II, von nun an geklärt, kostenfrei bleibt. Sie werden sich erinnern: Wir hatten hier im Landtag mehrfach Diskussionen dazu. Wir haben mehrfach den Versuch unternommen, das über andere gesetzliche Regelungen hinzubekommen. Dafür haben wir keine Mehrheiten gefunden. Die Spitzabrechnung zur Schülerbeförderung liegt den Mitgliedern des Bildungsausschusses vor. Es wird deutlich, dass dort ordentlich Luft ist. Die Schulträger müssen eine ganze Menge Geld an das Land zurückzahlen. Wir hatten das zu hoch verpreislicht. Wir haben etwa 10 000 Schülerinnen und Schüler im gymnasialen Bereich und 10 000 Schülerinnen und Schüler im Bereich der berufsbildenden Schulen. Das bedeutet Mehrkosten von etwa 2 Millionen €. Das wird das Land vor dem Hintergrund des Gesamtrahmens des FAG nicht in den Ruin treiben.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren! Der Gesetzentwurf meiner Fraktion verzichtet auf die heimliche und unheimliche Fortsetzung der Logik der Bildungsgangentscheidung in der Sekundarschule, und das sehr konsequent. Die Strategie ist durchsichtig, gar keine Frage. Das soll sie auch sein.

Die Angleichung der Bildungsgänge durch gleiche und gleichwertige Bildungsangebote ist ein erster Schritt. Wir wollen die Individualisierung von Lernwegen, die im Übrigen über das Gelingen dieser Schulreform ganz maßgeblich, ganz existenziell entscheiden würde. Wir wollen die Sekundarschule in diesem ersten Schritt, in dieser ersten Phase, tatsächlich zu einer wirklich attraktiven Alternative zum Gymnasium für Kinder aller Leistungsvoraussetzungen und Lernausgangslagen entwickeln, also auch für diejenigen, die von vornherein das Abitur anstreben.

Das hat den Charme, dass dies eine reale Perspektive für Spätentwickler bietet, dass es Entwicklungspfade offen lässt, den Druck aus den Lern

biografien von Schülerinnen und Schülern nimmt und obendrein der Sekundarschule den Ruf der so genannten Restschule nimmt.

(Zurufe von der CDU)

Auf diese Art und Weise werden wir demokratisches und soziales Lernen in Vielfalt, mehr gelebte und mehr erfahrbare Demokratie ermöglichen. Wir wollen auf diese Art und Weise - das möchte ich klar und unmissverständlich sagen - selbstverständlich die getrennten Bildungswege über die Jahre hinweg überflüssig machen. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Am Ende dieser Entwicklung muss - so denken wir in der Tat - eine allgemeinbildende Gemeinschaftsschule als regelhafte Schulform bis Klasse 9 stehen.

Das ist aus unserer Sicht Schulreform in hohen homöopathischen Dosen mit den Akteurinnen und Akteuren vor Ort, die zugleich konsequent ist und bei der das drin ist, was draufsteht.

(Starker Beifall bei der LINKEN - Herr Borg- wardt, CDU: Und Wahlfreiheit gibt es nicht mehr!)

Danke schön, Frau Kollegin Bull. Es gibt eine Anfrage. Möchten Sie diese beantworten? - Nein, das möchte sie nicht. Wir fahren fort. Für die Landesregierung spricht nunmehr der Kultusminister Herr Dorgerloh.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich mit einer kleinen Reminiszenz beginnen. Vor fast genau fünf Jahren, im Juli 2007, ist an dieser Stelle der Bildungskonvent eröffnet worden.

Der Ihnen heute vorliegende Gesetzentwurf der Landesregierung greift eine Reihe der durch den Bildungskonvent im Jahr 2010 verabschiedeten Empfehlungen auf, insbesondere zur Öffnung des Schulsystems für das längere gemeinsame Lernen sowie zur Erhöhung der Eigenständigkeit von Schulen.

Damit ist der Entwurf eines Vierzehnten Gesetzes zur Änderung des Schulgesetzes bereits die zweite große schulgesetzliche Initiative der Landesregierung in dieser Legislaturperiode.

Ich erinnere kurz daran, dass wir im letzten Jahr mit der Bildung des Landesschulamtes und der eröffneten freien Wahl für die weitererführenden Schulen nach der Grundschule durch die Eltern bereits eine entsprechende Gesetzesänderung in diesem Hohen Haus verabreden konnten.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit der Einführung der Gemeinschaftsschule in SachsenAnhalt greifen wir eine bildungspolitische Entwick

lung auf, die darauf zielt, dass Schülerinnen und Schüler weitgehend ohne äußere Differenzierung nach Bildungsgängen länger gemeinsam lernen.

Schaut man sich in Deutschland um, dann stellt man fest, dass die Gemeinschaftsschule bereits in Schleswig-Holstein, Thüringen und jetzt auch in Nordrhein-Westfalen

(Frau Feußner, CDU: Versagt hat!)

Bestandteil des Schulsystems ist.

Zum Schuljahr 2012/2103 wird die Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg und im Saarland eingeführt. In den Stadtstaaten Hamburg, Bremen und Berlin gibt es ähnliche konzeptionelle Ansätze.

Wenn man das alles einmal zusammenzählt, dann stellt man fest, dass gut die Hälfte der Bundesländer über derartige Schulformen verfügt. SachsenAnhalt wird also künftig ein Teil dieser Entwicklung sein.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit der Gemeinschaftsschule wollen wir unser bestehendes Schulsystem sinnvoll ergänzen. Die Gemeinschaftsschule wird alle allgemeinbildenden Abschlüsse anbieten und Schülerinnen und Schüler noch stärker individuell fördern. Der Ansatz lautet somit: Individuelle Förderung statt frühzeitiger Trennung.

Neben mehr Bildungsgerechtigkeit durch längeres gemeinsames Lernen tragen wir mit dem Gesetzentwurf auch der demografischen Entwicklung Rechnung. Die Gemeinschaftsschule hilft durch ihr spezifisches Angebot und die Möglichkeit der Ausgestaltung des konkreten Schulprofils, alle Schulabschlüsse in der Region zu halten.

Unter Berücksichtung einschlägiger Erfahrungen der genannten Bundesländer sind die Regelungen zur Gemeinschaftsschule in einem neuen Schulformparagrafen gebündelt worden.

Mit Blick auf die demografische Situation setzen wir bei der Einführung der Gemeinschaftsschule bewusst auf die Umwandlung bereits bestehender Schulstandorte.

Die Sekundarschulen, Gymnasien und Gesamtschulen des Landes sind aufgerufen und eingeladen, diese Option einer zukunftsfähigen Perspektive für sich zu prüfen und entsprechende Konzepte für die Umwandlung und Ausgestaltung vor Ort zu entwickeln.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Neue Projekte im schulischen Bereich gelingen nur durch Engagement von den direkt Beteiligten vor Ort. Das haben wir auch von der Einbringerin des Gesetzentwurfes der Fraktion DIE LINKE gehört. Diese Erfahrung ist für uns Anlass, auf Freiwilligkeit und Engagement vor Ort zu setzen. Wir können es nur gemeinsam.

(Zustimmung von Frau Niestädt, SPD)

Die Einbeziehung des Schulträgers und des Trägers der Schulentwicklungsplanung sowie der Gesamtkonferenzen der jeweiligen Schulen sichert, dass alle relevanten Akteure vor Ort ihre Sicht einbringen und die Entscheidung mittragen.

Die Genehmigung durch die Schulbehörde gewährleistet wiederum, dass die schulfachlichen Anforderungen und Standards gewahrt werden und - das ist ganz wichtig - die bundesweite Anerkennung der Abschlüsse gesichert ist.

Die Regelungen zur Schulform lassen aber auch ganz bewusst Freiräume für die spezifische Ausgestaltung vor Ort. Wir wollen die Erfahrungen und die Tradition der Schulen, die sich diesen neuen Herausforderungen stellen und diese Profilierungschance wahrnehmen, aufgreifen und nicht etwa durch ein Übermaß an Vorgaben einengen. Es ist ganz wichtig, eigene konzeptionelle Überlegungen und inhaltliche Ansätze der Akteure vor Ort zu fördern und nicht zu behindern.