Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Bundestag hat in der Entschließung in Drs. 14/4894 sein Bedauern über die schreckliche Realität der Strafverfolgungspraxis nach dem Jahr 1945 zum Ausdruck gebracht. Dem kann man sich sicher uneingeschränkt anschließen.
Der vorliegende Antrag geht weit darüber hinaus. Es geht hauptsächlich darum, ob wir rückwirkend unsere Rechtsprechung und damit unsere Rechtsstaatlichkeit aushebeln dürfen. Der Antrag zielt darauf ab, dass wir das in unserem Grundgesetz normierte Gewaltenteilungsprinzip und die grundgesetzliche Verpflichtung der drei Staatsgewalten, die von den anderen beiden Staatsgewalten erlassenen Staatsakte anzukennen und als rechtskräftig zu behandeln, schlichtweg aushebeln. Dass die Partei DIE LINKE damit gegebenenfalls kein Problem hat, ist für mich nachvollziehbar. Wir haben jedoch erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Kernfrage ist für uns nicht, ob wir damit leben können, dass es Männer gibt, die vorbestraft sind, weil sie homosexuell sind. Die Kernfrage ist vielmehr, ob wir es zulassen können, dass rechtstaatliche und rechtskräftige Urteile zur freien Disposition des Gesetzgebers stehen und dass damit unserer rechtsstaatlichen Ordnung die Berechtigungsgrundlage entzogen wird.
Wohlgemerkt: Es sind die gleichen Grundlagen von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, deren Verletzung Sie, sehr geehrte Damen und Herren von der Fraktion DIE LINKE, bei der Diskussion um die zwei entlassenen Straftäter in Insel immer wieder angemahnt haben.
Der von Ihnen initiierte Gesetzentwurf würde rückwirkend in die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen eingreifen und damit den Grundsatz der Gewaltenteilung berühren.
Die Urteile sind in Westdeutschland von unabhängigen Gerichten in einer demokratischen Entscheidung ergangen.
Es wäre heute mit dem Grundgesetz unvereinbar, einvernehmliche gleichgeschlechtliche Handlungen unter Strafe zu stellen. Unsere Rechtsprechung wurde also an die gesellschaftlichen Realität angepasst.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Meiner Ansicht nach wurden Homosexuelle durch die in der BRD und in der DDR aufgrund der über das Jahr 1995 hinaus bestehenden Strafandrohung ohne Zweifel in ihrer sexuellen Selbstbestimmung und in ihrer Menschenwürde verletzt. Dies hat der Bundestag in seiner 14. Wahlperiode einmütig bekundet. Der Bundestag hat hierdurch die Ehre der Opfer wiederhergestellt.
Die uneingeschränkte Garantie des Rechtes auf sexuelle Identität und freie Entfaltung der Persönlichkeit darf jedoch nicht dazu führen, dass wir die auf rechtstaatlichem Wege zustande gekommenen Entscheidungen der Gerichte heute pauschal als Unrecht rügen.
Was ist mit strafrechtlichen Entscheidungen in den 50er-Jahren der Bundesrepublik, die heute mit unserem Rechtsempfinden ebenfalls nicht vereinbar sind? Wegen kleinster Vergehen wurden mit Blick auf die guten Sitten aus heutiger Sicht drakonische Strafen ausgesprochen, zum Beispiel in Urteilen im Bereich des Straftatbestandes der Kuppelei.
Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Fraktion DIE LINKE, Sie hätten gut daran getan, zu der von Ihnen initiierten nachträglichen Aufhebung rechtsstaatlich zustande gekommener Urteile vor der Antragstellung den Gesetzgebungs- und Beratungsdienst hinzuzuziehen. Die verfassungsrechtlichen Bedenken werden wir uns nunmehr im Ausschuss durch den GBD erläutern lassen. Es liegt dann an Ihnen, ob Sie weiter auf Ihrem Antrag bestehen wollen.
Von großem Interesse ist für uns, zu erfahren, welche Erkenntnisse dem Ministerium für Justiz und Gleichstellung bezüglich der Fallzahlen von Betroffenen in Sachsen-Anhalt und insbesondere zur Strafverfolgungspraxis der DDR-Justiz und deren Auswirkungen auf die Biografien der im Bereich des § 151 StGB-DDR Verurteilten vorliegen. Sicherlich wird man in diesem Zusammenhang auch über notwendige Hilfen und Hilfestellungen für die Betroffenen reden müssen; meine Vorredner gingen schon darauf ein. Ich bitte Sie daher um Überweisung dieses Antrages in den Fachausschuss zur Klärung der von uns angesprochenen Problematik. - Herzlichen Dank.
Danke schön, Herr Abgeordneter Borgwardt. Es gibt eine Frage von Herrn Gebhardt. Möchten Sie diese beantworten?
Sehr geehrter Herr Borgwardt, ich habe nur eine Frage bezüglich Ihrer Aussage, dass der damalige § 175 StGB mit dem Grundgesetz heute nicht mehr vereinbar wäre. Sie lautet: War diese Regelung aus Ihrer Sicht denn seinerzeit mit dem Grundgesetz, auch mit Artikel 1 des Grundgesetzes, vereinbar?
Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Sie als LINKE machen mit Recht darauf aufmerksam, dass beispielsweise im Einigungsvertrag geregelt ist, dass die DDR ein Unrechtsstaat war.
Jeder normal denkende Mensch würde aber niemals behaupten, dass alle Urteile, die in der DDR ergangen sind, Unrecht sind. Wer in der DDR einen Diebstahl begangen hat, hat eine Straftat begangen. Das wurde nicht rehabilitiert. Leider ist es nach dem allgemeinen rechtstaatlichen Verständnis so - ich habe in meinem Redebeitrag schon deutlich gemacht, dass ich das bedauere -: Da die BRD nicht als Unrechtstaat bezeichnet wurde, ist es eben so, dass diese Urteile bis zu jenem Zeitpunkt leider kein Unrecht darstellten, zumindest in staatsrechtlicher Hinsicht nicht; das ist eindeutig.
(Frau von Angern, DIE LINKE: Komisch ist, dass der Europäische Gerichtshof für Men- schenrechte das anders sieht!)
Herr Borgwardt, sind Sie wirklich der Auffassung, dass, wenn in einem Rechtstaat Unrecht gesprochen wird, derjenige, den das betrifft, ganz einfach Pech gehabt hat und dieses Unrecht nicht zurückgenommen werden kann?
Ich würde das gerne im Ausschuss deutlicher machen. Ich habe das vorhin versucht, indem ich auf die Gewaltenteilungspraxis abgehoben habe. Es ist eben so, dass wir heute der gesellschaftlichen Praxis Rechnung getragen haben. Das begrüße ich ausdrücklich. Aber zu dem damaligen Zeitpunkt ist das - zumindest aus staatsrechtlicher Sicht; das ist nicht meine Auffassung, sondern sie wird allgemein von den Fachleuten so vertreten - eben so gewesen, wie ich es Ihnen gesagt habe.
Danke schön, Herr Kollege Borgwardt. - Wir begrüßen auf der Zuschauertribüne Besucher, und zwar Schülerinnen und Schüler vom Käthe-Kollwitz-Gymnasium Halberstadt. Herzlich willkommen im Haus!
Wir fahren in der Debatte fort. Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN spricht die Abgeordnete Frau Lüddemann.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Am Anfang sei mir - das hast du, Eva, quasi herausgefordert - ein Dank an die Fraktion DIE LINKE gestattet. Was wahr ist, muss wahr bleiben. Der Antrag stammt ursprünglich aus der Feder der GRÜNEN. DIE LINKE und auch die Verbände der Betroffenen haben sich dann sehr für diesen Antrag eingesetzt.
Doch derjenige, der seit Jahren diesen Antrag immer wieder wortgleich mit dem, was wir hier in Rede stehen haben, in den Bundestag einbrachte, ist Volker Beck von der Bundestagsfraktion von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Ich denke, das muss für das Protokoll deutlich gesagt werden.
Nichtsdestotrotz sichert das der Fraktion DIE LINKE natürlich unsere Stimmen. Wir stehen hinter diesem Antrag, nicht nur weil unsere Fraktion ihn immer wieder im Bundestag einreicht, sondern auch weil wir inhaltlich voll hinter dieser Thematik
stehen. Wir stehen hinter dieser Thematik, weil wir denken, dass es an der Zeit ist, dem Grundgesetz, der EU-Menschenrechtskonvention und der UNMenschenrechtskonvention an dieser Stelle Rechnung zu tragen.
Für uns ist das eine grundlegende Frage der Gerechtigkeit. Nicht nur die Verbote sämtlicher homosexueller Handlungen, wie sie die §§ 175 ff. des Strafgesetzbuches zum Inhalt hatten, sondern auch die später weiterhin geltenden gesonderten Schutzaltersgrenzen sind aus unserer Sicht nachgewiesenermaßen verfassungs- und menschenrechtswidrig.
Es ist schon erwähnt worden, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seit dem Jahr 1981 mehrfach in dieser Richtung geurteilt hat, dass er mehrfach Entschädigungen bis zu einer Höhe von 75 000 € zugesprochen hat. Das ist auf dieser Ebene eine Menge Geld.
Da die Herleitung des Paragrafen in diesem Hohen Hause heute bereits mehrfach erfolgt ist, möchte ich sie mir jetzt sparen und auf das Hauptargument der Gegner - so will ich es einmal nennen - dieses Antrages eingehen, nämlich das Argument der Verlässlichkeit des deutschen Rechtssystems.
Ja, das sage ich als GRÜNE hier auch sehr deutlich, Herr Borgwardt: Das deutsche Rechtssystem ist verlässlich und muss verlässlich bleiben. Dazu gehört selbstverständlich auch, dass einmal ergangene Urteile nicht willkürlich infrage gestellt werden dürfen. Das ist nicht der Punkt.
Aber das, was wir hier heute zu behandeln haben, ist aus meiner Sicht ein wenig anders zu betrachten; denn in einem demokratischen Staat sind die Bürger - auch darauf haben sie einen Rechtsanspruch - vor der Willkür des Staates zu schützen. Das ist nach unserer Einschätzung in diesen Fällen nicht geschehen.
Wenn Rechtslagen so gestaltet sind, dass die Bürger in ihren legitimen Verfassungsrechten beschnitten werden und solches Unrecht erkannt wird, dann hat der demokratische Staat die Pflicht, dieses auch so zu benennen und entsprechende Entschädigungsleistungen zu zahlen.
Es handelt sich aus grüner Sicht hierbei um schwerwiegende Verletzungen der Menschenrechte, die durch gesetzliche Entschädigungsleistungen korrigiert werden müssen.