Protocol of the Session on January 29, 2016

Die Sitzung wird um 13.50 Uhr fortgesetzt.

Ich möchte Sie noch darum bitten, Damen und Herren des Vereins TuS Magdeburg-Neustadt und der Volkssolidarität, die die Wahlhandlung verfolgt haben, zu begrüßen.

(Beifall im ganzen Hause)

Unterbrechung: 12.52 Uhr.

Wiederbeginn: 13.51 Uhr.

Meine Damen und Herren! Wir setzen die Sitzung fort. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:

Beratung

Langzeitarbeitslosen Menschen eine Chance geben - Schaffung eines sozialen Arbeitsmarktes

Antrag Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Drs. 6/4710

Änderungsantrag Fraktionen CDU und SPD - Drs. 6/4762

Änderungsantrag Fraktion DIE LINKE - Drs. 6/4768

Einbringerin des Antrages der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist die Abgeordnete Frau Latta. Bitte sehr.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Arbeitslosigkeit in SachsenAnhalt sinkt kontinuierlich. Im letzten Jahr lag sie

zum ersten Mal zeitweise unter 10 %. Das verdanken wir zwar weniger unserer Landesregierung, sondern vielmehr der demografischen Entwicklung; dennoch ist es eine positive Entwicklung.

Aber diese Entwicklung bringt nahezu keine Verbesserungen für die Menschen, die schon längere Zeit arbeitslos sind. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist nämlich nahezu konstant. Etwa 47 000 Menschen in Sachsen-Anhalt sind dauerhaft von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen. Der Anteil an der Gesamtzahl der Arbeitslosen ist mittlerweile sehr hoch. 34 % aller Arbeitslosen in unserem Land sind länger als ein Jahr arbeitslos. Im Jahr 2013 stieg die Zahl derer, die seit mindestens zwei Jahren arbeitslos sind, von 22 772 auf 23 689. Hier muss Politik dringend ansetzen. Hier muss Politik endlich die Möglichkeit zur Teilhabe eröffnen.

Ein jahrelanger ALG-II-Bezug führt in die ökonomische Deprivation. Das schmälert insbesondere die Teilhabechancen von betroffenen Kindern und Jugendlichen. Es stellt sich für uns und für das Land aktuell die Frage: Wie können wir den dauerhaften Ausschluss langzeitarbeitsloser Menschen von der Erwerbsarbeit beenden? Wir GRÜNE setzen dabei auf einen sozialen Arbeitsmarkt mit folgenden Punkten.

Erstens. Ein sozialer Arbeitsmarkt ist für uns GRÜNE eine mögliche Brücke in den ersten Arbeitsmarkt. Wir setzen also auf den sogenannten Klebeeffekt: Wenn jemand erst einmal eine Stelle besetzt, dann ist diese Stelle besetzt. Der sogenannte Klebeeffekt ist aber auch als verlässliche und dauerhafte Form der Teilhabe gedacht. Wer aufgrund von Vermittlungshemmnissen dauerhaft vom ersten Arbeitsmarkt ausgeschlossen ist, soll aufgrund dieses arbeitsmarktpolitischen Instruments einen Platz auf dem Arbeitsmarkt finden. Ich denke, das muss man realistischerweise einfach akzeptieren. Unser sozialer Arbeitsmarkt ist also konzeptionell zwischen dem klassischen zweiten und dem dritten Arbeitsmarkt verortet.

Zweitens. Die Stellen auf diesem sozialen Arbeitsmarkt können auch bei Unternehmen und Betrieben angesiedelt sein. Es ist damit dezidiert keine reine Gemeinwohlarbeit gemeint. Das Kriterium der Zusätzlichkeit soll daher nicht programmatisch vorgegeben werden, vielmehr sollen lokale Gremien, bestehend aus den Tarifpartnern, über geeignete Stellen befinden.

Drittens. Für die Finanzierung setzen wir auf den Passiv-Aktiv-Transfer. Wir wollen die Bundesgelder, die gewöhnlich als Regelsatz im Rahmen des SGB II zur Verfügung stehen, und die kommunalen Gelder für die Kosten der Unterkunft nutzen, um Beschäftigungsverhältnisse auf dem sozialen Arbeitsmarkt zu finanzieren. Das ist ein Ansatz, gegen den sich insbesondere die Bundes-SPD wendet.

Wir Bündnisgrüne setzen uns schon lange für diesen sogenannten Passiv-Aktiv-Transfer ein. Im November 2014 formulierten die grüne Bundestagsfraktion und die rot-grün regierten Länder eine gemeinsame Forderung per Brief an Frau Ministerin Nahles. Das hat zwar meines Wissens zu keinem Umdenken im Bundesministerium für Arbeit und Soziales geführt, es zeigt aber, wie stark diese Forderung bundesweit bereits untersetzt ist.

Meine Fraktion hält es insbesondere für das Land Sachsen-Anhalt für überaus wichtig, in dieses Finanzierungsmodell einzusteigen; denn wenn im Jahr 2018 die ESF-Gelder auslaufen, brauchen wir Alternativen zur Finanzierung arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen. Meine Fraktion ist sich sicher, dass wir nur mit dem Passiv-Aktiv-Transfer solche Programme stemmen können. Daher müssen wir es frühzeitig erproben. Es ist wichtig, dass die betroffenen Ministerien bereits jetzt mit der konzeptionellen Arbeit beginnen und dass ein sozialer Arbeitsmarkt am besten schon bei der Aufstellung des nächsten Haushalts eingeplant wird.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Einen solchen skizzierten sozialen Arbeitsmarkt will meine Fraktion als Modellprojekt auch im Land Sachsen-Anhalt starten und wissenschaftlich begleiten lassen. Wir orientieren uns dabei an Modellprojekten in NRW und in Baden-Württemberg. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, kurz: IAB, äußerte sich in einer Chronik der Arbeitsmarktpolitik des Ministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren Baden-Württemberg dazu wie folgt:

„Das bundesweit einzigartige Modellprojekt ‚Sozialer Arbeitsmarkt - Passiv-Aktiv-Transfer‘“

- kurz: PAT -

„der Landesregierung Baden-Württemberg stößt bei den Stadt- und Landkreisen auf außergewöhnlich breite Unterstützung. 40 der insgesamt 44 Stadt- und Landkreise beteiligen sich an dem auf drei Jahre angelegten Projekt.“

Ziel des Projektes ist es, dass langzeitarbeitslose Menschen mit Vermittlungshemmnissen in sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse vermittelt werden. Das Einzigartige und Modellhafte an diesem Projekt ist, dass die Menschen bei der Ausübung ihrer Tätigkeit sozialpädagogisch begleitet werden.

Einem hohen Anteil der Langzeitarbeitslosen gelingt es nicht, eine reguläre Beschäftigung aufzunehmen. Meistens fehlt es den Bewerbern an fachlicher und sozialer Kompetenz bzw. gesundheitliche oder soziale Probleme spielen eine Rolle. Der sogenannte soziale Arbeitsmarkt soll es Arbeitgebern, hauptsächlich aus der freien Wirt

schaft, ermöglichen, Langzeitarbeitslose mit mehreren Vermittlungshemmnissen, die bereits seit 36 Monaten im Leistungsbezug sind, zukünftig sozialversicherungspflichtig zu beschäftigen.

Diese Arbeitsuchenden im SGB II können mit den bisherigen Förderinstrumenten nicht in dem gewünschten Maße erreicht und unterstützt werden. Deshalb wurde dieses Modellprojekt entwickelt. Es konnte nachgewiesen werden, dass der aktive Einsatz bislang passiv geleisteter Mittel, im Wesentlichen der vom Bund finanzierte Regelbedarf und die kommunal finanzierten Kosten für Unterkunft und Heizung, dieser Zielgruppe besser gerecht werden. Konkret heißt das: Statt Regelbedarf und Kosten der Unterkunft zu finanzieren, können diese Leistungen als Zuschuss für eine bedarfsdeckende Beschäftigung und zur Finanzierung einer sozialpädagogischen Fachkraft eingesetzt werden. Also: aktive Teilhabe statt passiven Empfangs der Mittel aus dem SGB-II-System.

Ich zitiere weiter aus dem Papier des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung „Sozialer Arbeitsmarkt - Passiv-Aktiv-Transfer“:

„Die ehemals Langzeitarbeitslosen sind

dann aufgrund ihrer sinnvollen Beschäftigung wieder aktiver Teil der Gesellschaft. Es handelt sich um sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse mit einem Lohn von regelmäßig nicht unter 8,50 €, also ‚gute Arbeit‘ auch für Benachteiligte.“

Bei diesem Passiv-Aktiv-Tausch werden lediglich Mittel aktiviert, die sonst passiv ausgegeben würden. So soll insgesamt kein zusätzlicher Kostenaufwand ausgelöst werden. Da dieses in Fachkreisen als Passiv-Aktiv-Tausch bezeichnete Element derzeit im SGB II gesetzlich noch nicht vorgesehen ist, kann dies nur als Modellprojekt durchgeführt werden. Das Land Sachsen-Anhalt muss sich für eine Öffnung im SGB II einsetzen, damit die Länder wie auch die Betroffenen auf eine dauerhafte Finanzierung eines solchen sozialen Arbeitsmarktes setzen können.

Das Modell sieht konkret vor, dass Arbeitgeber Langzeitarbeitslose mit mehreren Vermittlungshemmnissen sozialversicherungspflichtig beschäftigen und hierzu auf Antrag ein Gesamtpaket an Förderleistungen erhalten können, das aus den nachfolgenden, miteinander verbundenen Komponenten besteht: ein von der individuellen Leistung abhängiger Zuschuss des Jobcenters an den Arbeitgeber zur Beschäftigung bis maximal 75 % des Entgelts aus dem Eingliederungsbudget der Bundesagentur für Arbeit über maximal zwei Jahre; ein pauschaler Zuschuss von Stadt- und Landkreis anstelle der ersparten kommunalen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung; eine vom Stadt- oder Landkreis organisierte aufsuchende Betreuungsfachkraft.

Die Betreuungsfachkraft steht den Arbeitgebern und den Beschäftigten gleichermaßen als ständige Ansprechperson helfend und begleitend zur Verfügung. Die Inanspruchnahme einer begleitenden und aufsuchenden Beratung und Betreuung soll den Teilnehmern mit ihren unterschiedlichsten Biografien helfen, die besonderen Schwierigkeiten einer Beschäftigungsaufnahme zu bewältigen. Die aufsuchende Betreuung dient dazu, die Teilhabe der benachteiligten langzeitarbeitslosen Menschen am Arbeitsleben und in der Gesellschaft nachhaltig zu stabilisieren.

Um diese Aufgaben bewältigen zu können, gewährt das Land Baden-Württemberg Stadt- und Landkreisen zusätzliche Zuschüsse. Ziel ist es, die Aufnahme von Arbeit zu finanzieren, nicht die Arbeitslosigkeit. Genau das ermöglicht der PassivAktiv-Transfer. Passive Arbeitslosenunterstützung wird aktiviert.

Neben dem dargestellten Passiv-Aktiv-Transfer halten wir insbesondere den innovativen Ansatz, Anreize für die freie Wirtschaft zu setzen, für wegweisend. Ein innovativer Ansatz des Konzepts ist der Versuch, Arbeitsplätze überwiegend bei Arbeitgebern der Privatwirtschaft zu platzieren. Dafür müssen wir natürlich ein attraktives Förderpaket schnüren. Dazu können ein individueller Beschäftigungszuschuss vom Jobcenter, ein pauschaler Zuschuss pro Arbeitsplatz sowie eine pro gefördertes Beschäftigungsverhältnis finanzierte sozialpädagogische Betreuungsfachkraft gehören. - Genau ein solches Modell, sehr geehrte Damen und Herren, brauchen wir auch in Sachsen-Anhalt.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Danke sehr für die Einbringung, Kollegin Latta. - Für die Landesregierung spricht Minister Bischoff.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Thema der Langzeitarbeitslosigkeit ist fast ein Dauerthema im Landtag. Es ist tatsächlich so, dass trotz sinkender Arbeitslosenzahlen die Anzahl der Langzeitarbeitslosen in den letzten drei Jahren nahezu konstant geblieben ist. Das ist übrigens in allen Bundesländern der Fall. Auch in den westlichen Bundesländern, in denen die Arbeitslosigkeit sinkt, sind es die Langzeitarbeitslosen, die meistens keinen Job bekommen. Von daher ist es wichtig, dass wir tätig werden, vielfältige Anstrengungen unternehmen und Instrumente nutzen, um die Teilhabemöglichkeiten im Sinne eines sozialen Arbeitsmarktes zu eröffnen. Das habe ich hier bereits des Öfteren gesagt.

Das aktuellste Beispiel im Land Sachsen-Anhalt ist das ESF-Programm „Jobperspektive 58 plus“ - darüber habe ich hier bereits berichtet; es ist im letz

ten Jahr angelaufen -, mit dem wir für 1 100 Langzeitarbeitslose ohne Zusatzkosten Möglichkeiten schaffen. Es muss also nicht kofinanziert werden. Wenn sich die Gemeinden jetzt daran beteiligen, weil sie Kosten der Unterkunft einsparen - ich habe von einigen beim Neujahrsempfang gehört, dass Landkreise das tun wollen -, kann ich das nur unterstützen. Das Land hat das jedenfalls nicht als Bedingung gesetzt.

Das war sozusagen ein kleiner Ersatz für die wegfallende Bürgerarbeit, die der Bund nicht weitergemacht hat. Das Land Sachsen-Anhalt wird diese Maßnahme bis zu drei Jahre fördern, sodass man einen Übergang bis zur Rente hat. Die Projektverfahren laufen zurzeit in allen Landkreisen, auf kommunaler Ebene. Konkrete Beschäftigungsverhältnisse werden wir in den nächsten zwei, drei Monaten erleben können.

Die Landesregierung hat bereits in der Vergangenheit erhebliche Anstrengungen zur Schaffung von öffentlich geförderten befristeten Arbeitsplätzen für Langzeitarbeitslose unternommen. Die überdurchschnittliche Beteiligung am Bundesprogramm - der Bund hat vor einem halben Jahr ebenfalls ein Programm aufgelegt - zeigt, wie wir uns mit diesem Thema beschäftigen. Damit sollen fast 2 000 Menschen - ich glaube, es sind 2 000 Menschen; Herr Steppuhn wird das vielleicht genauer wissen - in Arbeit kommen.

Die Landesprogramme, die wir bisher hatten, wie „Aktiv zur Rente“, „Aktiv zur Rente plus“ und das eben genannte „Jobperspektive 58 plus“, zeugen davon, wie wir gerade den älteren Langzeitarbeitslosen eine Perspektive geben, weil das die Personengruppe ist, die aufgrund ihres Alters und ihrer Langzeitarbeitslosigkeit nicht davon profitieren können, dass es einen Fachkräftebedarf im Land gibt.

Die Landesprogramme leisten einen wichtigen Beitrag, können aber die regelhafte Förderung von Beschäftigungsmöglichkeiten von Langzeitarbeitslosen durch die Jobcenter im Rahmen des SGB II nicht ersetzen. Hierzu ist jedoch festzustellen, dass bundesrechtliche Restriktionen im SGB II und eine ungenügende Finanzausstattung der Jobcenter die Förderung von Beschäftigungsmöglichkeiten an einem sozialen Arbeitsmarkt sehr stark einschränken und eine Verstetigung modellhafter Ansätze unmöglich machen. Die geltenden gesetzlichen Regelungen des SGB II und die Finanzausstattung der Jobcenter mit sinkenden Eingliederungsbudgets lassen eine längerfristige Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen derzeit nicht zu.

Es ist daher nach meiner Überzeugung eine Neuausrichtung der öffentlich geförderten Beschäftigungen auf einer stabilen finanziellen Basis notwendig. Dafür muss es auch ermöglicht werden - das war der Sinn Ihres Antrages -, passive Ar

beitslosengeldleistungen, die durch öffentlich geförderte Beschäftigung eingespart werden können, zu aktivieren und für Arbeit statt für Arbeitslosigkeit einzusetzen.

Das Land Sachsen-Anhalt setzt sich daher schon seit Jahren, seitdem ich hier die Verantwortung habe, allein und zusammen mit anderen Ländern für entsprechende gesetzliche Änderungen in diesem Bereich ein.

Zu nennen ist insbesondere das Eckpunktepapier der Länder zum gesetzlichen Änderungsbedarf bei den Förderinstrumenten aus dem Jahr 2014; darin wurde die Einführung des Passiv-Aktiv-Transfers gefordert. Zu nennen ist auch das Schreiben unseres Ministerpräsidenten an die Bundesarbeitsministerin vom 10. Februar 2015, also von vor einem Jahr, mit dem vor dem Hintergrund der positiven Erfahrungen Sachsen-Anhalts mit der Bürgerarbeit eine Verstetigung des Bundesengagements im Bereich der Bürgerarbeit gefordert worden ist. Dazu gab es die eindeutige Aussage unserer Landesregierung, sich für den Passiv-Aktiv-Austausch auszusprechen.