Dafür, Frau Bull, ist, glaube ich, die Erhöhung von Regelsätzen keine Lösung. Die Menschen wollen keine Almosen vom Staat, die Menschen wollen Zukunft. Vor allem: Können wir verhindern, dass diese Lebenseinstellung, egal ob Frustration oder Bequemlichkeit, auch der Kindergeneration die Zukunft verbaut? Dann habe ich nämlich keine Aufstiegsmöglichkeiten mehr.
Wie begegne ich als Gesellschaft einer solchen Haltung? Wir sind in den neuen Bundesländern in der glücklichen Situation - so die Aussage der neuen AllenbachsStudien -, dass unsere jungen Menschen deutlich stärker als ihre Elterngeneration auf Eigenverantwortung setzen, auf Freiheit, dass sie, anders als ihre Eltern, eben keine staatliche Fürsorge wollen.
Aber wird dies allein ausreichen? Sollen wir als Staat versuchen, über das öffentliche Bildungsangebot sowie über eine aktive Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik hin
aus in das Leben unserer Bürger hineinzuwirken? - Wir werden auf diese Fragen keine einfachen Antworten geben können, schon gar nicht im Rahmen einer Aktuellen Debatte.
Das Problem der Arbeitslosigkeit wird tatsächlich nur durch eine länger anhaltende Konjunkturerholung mit einem erheblichen Wachstum behoben werden. Leider unternimmt die Bundesregierung derzeit alles, um eine derartige Konjunktur abzuwürgen, sodass die vielen kreativen Ideen, die die Landesregierung im Bereich des Arbeitsmarktes hat, und das Engagement im Bereich der Unternehmensansiedlung, das seit Jahren in unserem Land entfaltet wird, nicht ausreichen wird, um dieses Problem zu lösen. Ohne eine Perspektive auf dem Arbeitsmarkt werden wir den Menschen in unserem Land keine neue Perspektive für ihr Leben geben können.
Den Problemen von Kindern, deren Eltern keine Perspektive für sich sehen und die sozusagen in einer Perspektivlosigkeit groß werden, wollen Sie mit mehr staatlicher Fürsorge begegnen, Frau Bull. Das klingt auf den ersten Blick plausibel, birgt aber die Gefahr, dass damit auch der letzte eigene Antrieb erstickt wird, nicht nur bei den Eltern, sondern auch bei den Kindern.
Es ist gut gemeint, aber ich glaube nicht, dass wir, wenn wir noch mehr staatliche Fürsorge anbieten, Menschen tatsächlich zu mehr Eigenverantwortung motivieren können. Für viele Eltern ist im Augenblick die Fürsorge für ihr Kind die einzige Struktur des Tages. Wollen wir dies wirklich ändern? Sicher, in den Fällen, in denen die Erzieher von einer entsprechenden Gefährdung der Kinder ausgehen, muss dies der Fall sein. Aber grundsätzlich ist es richtig, dass sich Eltern um ihre Kinder kümmern, sofern ihnen dies möglich ist.
Dies hilft den Kindern und gibt dem Leben mancher Eltern aus ihrer Sicht den einzigen Sinn. Zugleich vermittelt es den Kindern das Wissen, dass Menschen Verantwortung füreinander tragen und nicht staatliche Institutionen. Ohne dieses Verständnis wird sich eine demokratische Gesellschaft nicht aufrechterhalten lassen.
Das Problem der Zukunftsangst bei jungen Menschen und die gefühlte Perspektivlosigkeit können wir nur mit weiteren Verbesserungen des Bildungssystems, mit mehr Anerkennung für die Leistungen unserer Lehrer, mit gesellschaftlicher Anerkennung aller Bildungsabschlüsse und Berufe
Stecken Sie von der Koalition deshalb all Ihre Energie in diese Punkte, sowohl im Land als auch im Bund, der in diesem Bereich den Rahmen stecken muss. Die Menschen erwarten von einer großen Koalition, dass sie Mut hat, Entscheidungen zu treffen, und dass sie sich nicht monatelang um Details streitet.
Es sei schwer, sich zu einigen, hört man im Augenblick immer, deshalb packe man die Probleme nicht an. Das ist Unsinn. Seneca hat einmal geschrieben:
Ich kann in die Richtung der Koalition nur hinzufügen: Reiten Sie los und schaffen Sie endlich die Rahmenbedingungen, die wir brauchen, damit sich unsere Gesellschaft in die Richtung weiterentwickeln kann, die wir wollen. Sonst wird sich die Gesellschaft anders entwickeln, als wir es alle haben wollen. - Ich danke Ihnen.
Danke sehr, Frau Dr. Hüskens. - Die Debatte wird beendet mit dem Beitrag der SPD-Fraktion. Frau Budde, Sie haben das Wort.
(Minister Herr Dr. Daehre: So, Frau Budde, nun mal in den Sattel! - Heiterkeit bei allen Fraktio- nen)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir erleben in diesen Tagen eine heftige Debatte um den Zustand unserer Gesellschaft. Es geht dabei nicht mehr nur um die Frage, wer mehr oder weniger an dem gesellschaftlichen Wohlstand partizipiert, es geht vielmehr um die existenzielle Frage, wer überhaupt Teil dieser Gesellschaft ist oder wer aufgrund seiner sozialen und/oder finanziellen Situation außerhalb des gesellschaftlichen Lebens steht.
Ich will mich dabei nicht an den kleinkarierten Auseinandersetzungen um die richtigen Begriffe beteiligen. Es ist völlig unwichtig, ob wir die Begriffe „Unterschicht“, „Menschen mit sozialen und Integrationsproblemen“ oder „abgehängtes Prekariat“ verwenden. Das ist ein akademisches Problem. Für uns, die wir in politischer Verantwortung sind, ist es vor allem wichtig, dass wir das Problem an sich erfassen, dass wir es anerkennen und entsprechend handeln.
Aufgabe verantwortlicher Politik ist es nicht, Menschen zu deklassieren oder Begriffe zu bekämpfen; die Aufgabe ist vielmehr, den Sachverhalt abzustellen. Der vorliegende Befund ist in der Tat, Frau Bull, nicht neu, aber er erschreckt schon. Diese schonungslose wissenschaftliche Klarheit, mit der die soziologische Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung das soziale Gefüge in diesem Land beschreibt, erschreckt schon.
Wir müssen den Fakt zur Kenntnis nehmen - es ist gut, dass es aufgeschrieben worden ist -, dass sich in Ostdeutschland ein Fünftel aller Menschen als dauerhafte Verlierer dieser Gesellschaft fühlen. Die Menschen haben wenig Einkommen, keinen oder einen unsicheren Arbeitsplatz, wenig soziale Kontakte. Sie haben darüber hinaus die Hoffnung aufgegeben, dass sich daran je etwas ändert. Genau diese Perspektivlosigkeit, diese Trostlosigkeit ist das Erschreckendste an der Situation.
Damit geht etwas anderes einher. Über 38 % der Menschen in Ostdeutschland sehen schon heute die Demokratie nicht mehr als das beste Gesellschaftssystem
an - mehr als diese 20 %, und das muss wirklich erschrecken. Es ist auch keine parteipolitische Frage, wer welche Wählerklientel ansprechen will, sondern das ist existenziell für unsere Gesellschaft und für die Demokratie.
Natürlich ist Armut in Deutschland nicht das Gleiche wie Armut in Ländern der Dritten Welt. In Deutschland muss niemand verhungern, obwohl Hunger bei Kindern und Älteren auch in Deutschland inzwischen wieder da ist; auch das darf man nicht vergessen. Wir haben einen Sozialstaat, der im Grunde die Existenzgrundlage absichert. Das ist aber nichts Besonderes; vielmehr erwarte ich von einem reichen Land wie der Bundesrepublik, dass das möglich ist.
Was aber Arbeitslose in Magdeburg, in Halle, überall in Ostdeutschland und auch in der gesamten Bundesrepublik mit den Menschen in den Slums von Kalkutta, in den Favelas von Rio de Janeiro und in den Vororten von Paris gemein haben, ist nicht die Frage des Kampfes um die nackte Existenz, sondern das ist die Erfahrung, nicht dazuzugehören. Das, meine Damen und Herren, muss der Grundtenor sein und nicht das dauernde Geschimpfe über Sozialschmarotzer. Damit kommen wir nicht weiter. Damit ignorieren wir einen Teil der Wahrheit.
Denn ich glaube, dass die meisten dieser Menschen nicht selbst verantwortlich für ihre Lage sind. Es muss in unser aller Interesse liegen, sie wieder für unsere Gesellschaft zurückzugewinnen.
Neu in der Bundesrepublik von heute ist auch, dass das Problem der Armut auch diejenigen betrifft, die nicht auf Arbeitslosengeld oder Hartz IV angewiesen sind. Gerade in den neuen Bundesländern arbeiten immer mehr Menschen für Niedriglöhne. Das betrifft inzwischen fast 40 % der Ostdeutschen. Wenn Armut und Ausgrenzung nicht nur die diejenigen trifft, die arbeitslos sind, sondern auch diejenigen, die Arbeit haben, dann ist das eine extrem dramatische Entwicklung.
Wer einmal in das soziale Abseits gekommen ist, der sieht sich oft in einem Teufelskreis gefangen, aus dem man nur ganz schwer einen Ausweg findet. Die Aussicht auf ein Leben am Rande der Gesellschaft führt bei vielen zu einer inneren Emigration. Wer als Arbeiter oder als Ungelernter keinen Job bekommt, wer ohne einen Schulabschluss keine Lehrstelle findet oder wer als 50-Jähriger von vielen Firmen für zu alt befunden wird, der fühlt sich nicht gebraucht und überflüssig.
Menschen mit oftmals, aber - das ist richtig - nicht immer niedriger Bildung - ich will einen Begriff nennen, der sicherlich für Aufregung sorgt - verwahrlosen nach einer gewissen Zeit in einem gewissen Sinne. Sie nehmen weder am sozialen noch am kulturellen Leben der Gemeinschaft teil und haben irgendwann nicht mehr den Willen, ihre Lage selbst zu verbessern. Da hilft auch kein Appell mehr nach dem Motto „Macht doch mal selber! Zieht euch mal am eigenen Schopf aus dem Sumpf!“
Das Schlimme ist, dass diese Haltung nicht nur ihre eigene Lebenshaltung bestimmt, sondern auch die ihrer Kinder. Diese wachsen ebenfalls in Armut auf. Das betrifft in Ostdeutschland heute bereits jedes vierte Kind.
Vor diesem Hintergrund ist ein Rückzug staatlicher Betreuungs- und Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche äußerst problematisch, weil uns dadurch ein effektives Frühwarnsystem für vorhandene Defizite fehlen würde, die sozial schwache Familien oft nicht ausgleichen können.
Es besteht nicht nur die Gefahr, sondern es ist bereits bittere Realität, dass eine erste und auch eine zweite Generation heranwachsen, die durch die Erfahrung geprägt sind, nicht dazuzugehören. Wie sollen diese Kinder und Jugendlichen aus eigener Kraft den Weg in die Gesellschaft finden, wenn ihnen dazu im eigenen sozialen Umfeld die Vorbilder fehlen? Armut produziert also wieder Armut, und das schon in einer Folgekette.
Meine Damen und Herren! Der Befund, der uns vorliegt, ist auch Ergebnis eines Zeitgeistes, der sich sklavisch an das Prinzip des Wettbewerbs klammert und dabei dessen Schattenseiten einfach jahrelang ignoriert hat. Wettbewerb ist gut, wenn er zu Leistungen motiviert, die wichtig für die Entwicklung in unserer Gesellschaft sind. Aber er ist schlecht, wenn den Verlierern im Wettbewerb nichts anderes mehr bleibt, als Verlierer zu sein, und wenn sie keine Chance mehr haben.
An dieser Stelle ist der Staat gefordert. Das sage ich ausdrücklich. Der Staat ist gefordert, denjenigen zu helfen, die sich nicht selbst helfen können.
Natürlich ist das Problem der Arbeitslosigkeit, der Armut und der Ausgrenzung nicht einfach nur mit dem Ausbau des Sozialstaates zu lösen. Wer so etwas fordert, der ist unehrlich. Wir können nicht beiseite schieben, dass die Basis des Sozialstaates eine gesunde wirtschaftliche Entwicklung ist, die wir brauchen. Wir müssen auch über die Beitragslast jedes Einzelnen reden, um aus dieser Schieflage herauszukommen. Auch das müssen wir denjenigen sagen, die noch zu den Gewinnern gehören.
Wir müssen uns auch fragen, wie effizient Sozialpolitik im Sinne der Betroffenen ist. Es ist doch bedenklich, wenn eine Studie der Böckler-Stiftung aufzeigt, dass der Mitteleinsatz in Deutschland im sozialen Bereich äußerst uneffektiv ist. Zwar geben wir in Deutschland extrem viel Geld für Sozialausgaben aus, nämlich ca. 30 % des Bruttoinlandsproduktes. Damit liegen wir fast an der Spitze der europäischen Länder. Aber im Vergleich zu anderen Staaten sind bei uns die Verhältnisse extrem schlecht. In einem Vergleich zwischen 24 Ländern finden wir uns lediglich auf Platz 21 wieder. Das sollte uns zu denken geben.