Protocol of the Session on November 12, 2010

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zudem hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil aus dem Jahr 2009 kritisiert, dass derzeit der Vollzug der Sicherungsverwahrung in Deutschland in separaten Abteilungen regulärer Strafvollzugsanstalten stattfindet und dass somit kein wesentlicher Unterschied zwischen einer Strafe und einer Maßregel zur Besserung und Sicherung - das nämlich ist die Sicherungsverwahrung - stattfindet.

(Herr Stahlknecht, CDU: Stimmt auch!)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! In Deutschland sind zwischen 70 und 90 Personen betroffen, in deren Fall die Verhängung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung vergleichbar ist mit dem Fall des Beschwerdeführers, dessen Klage zur Nichtigkeit geführt hat. In Sachsen-Anhalt sind laut Presseveröffentlichungen ab dem Jahr 2011 sechs Sicherungsverwahrte betroffen, drei aus Sachsen, einer aus Thüringen, zwei aus Sach

sen-Anhalt; an der Aufzählung erkennen Sie, dass in der JVA Burg die Sicherungsverwahrung für die mitteldeutschen Länder durchgeführt wird.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte nicht unerwähnt lassen, dass es im Nachgang zu dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu einer unterschiedlichen Rechtsprechung bei den Strafvollstreckungskammern gekommen ist, nämlich hinsichtlich der Frage des Zeitpunkts der Entlassung von Sicherungsverwahrten.

Dem begegnete die Bundesregierung zunächst durch das Gesetz zur Einheitlichkeit der Rechtsprechung bei Entscheidungen zur Sicherungsverwahrung, welches am 30. Juli 2010 in Kraft getreten ist. Danach wird eine so genannte Divergenzvorlage beim Bundesgerichtshof notwendig, wenn ein Oberlandesgericht von der Rechtsprechung eines anderen Gerichts abweichen möchte. Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs, der in Leipzig ansässig ist, hat gestern entschieden, dass es keine automatisierte Freilassung in diesen Fällen gibt,

(Herr Stahlknecht, CDU: So ist es!)

sondern dass es, wenn die Gefährlichkeitsprognosen vorliegen, eine rechtmäßige Unterbringung oder weitere Verwahrung geben kann. Insofern ist er davon abgewichen. Bis auf Weiteres - man versucht, eine einheitliche Rechtsprengung innerhalb des BGH zu bekommen - sind keine Sicherungsverwahrten zu entlassen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! In einem zweiten Schritt - mit diesem werden wir uns jetzt etwas intensiver befassen, weil wir als Land davon auch betroffen sind - haben die Koalitionsfraktionen der CDU/CSU und der FDP am 29. Oktober 2010 einen Gesetzentwurf zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen in den Deutschen Bundestag eingebracht. Die Zeitschiene - das möchte ich ausdrücklich kritisch sagen - bis zum avisierten Inkrafttreten zum Jahreswechsel 2010/2011 ist sehr ambitioniert und erlegt den Ländern einen straffen Zeitplan auf, um die geplanten Änderungen umzusetzen.

Der Gesetzentwurf enthält folgende Punkte: erstens dem Grunde nach die Abschaffung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bzw. die Begrenzung auf Sexual- und Gewaltstraftäter,

(Herr Stahlknecht, CDU: Das ist schlimm genug!)

zweitens die Ausweitung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung, drittens die Lösung der Problematik der Altfälle - man hat mit dem Therapieunterbringungsgesetz eine Lösung favorisiert, die hoffentlich menschenrechtskonform ist - und viertens die Führungsaufsicht/elektronische Fußfessel.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Thema Zukunft der Sicherungsverwahrung war auch auf der letzten Justizministerkonferenz in Berlin Thema. Ich erhoffe mir natürlich, Frau Ministerin, dass Sie uns in Ihrem Redebeitrag ein Stimmungsbild davon geben können, wie sich die Justizminister der Länder zu der Umsetzung der Neuregelungen verhalten und vor allen Dingen, bis zu welchem Zeitpunkt dies geschehen soll.

Nach meinen Informationen ist eine Arbeitsgruppe unter Führung Niedersachsens damit beauftragt worden, bis Ende November 2010 konkrete Kriterien, gemeinsame Kriterien, für eine Neuausrichtung auszuarbeiten.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die FDP-Fraktion zielt mit ihrem Antrag darauf ab, dass sich der Gesetzgeber in Sachsen-Anhalt, also wir, die wir für die Durchführung des Strafvollzuges verantwortlich und zuständig sind, frühzeitig mit Neuregelungen befasst. Denn wenn wir die von den Koalitionsfraktionen geplanten Änderungen auch im Lichte der EGMR-Entscheidungen umsetzen wollen, bedeutet das weitreichende Konsequenzen auch hinsichtlich der Frage der Unterbringung, der Strafvollzugsanstalten, des Personals und Ähnliches.

Auch bei den Kosten müssen wir nachrechnen. Eines, Frau Ministerin, sage ich ganz klar: In diesem Fall sind wir alle Vertreter des Landes Sachsen-Anhalt und müssen, wenn es Risiken in der Kostenfrage gibt, diese auch aus dem Parlament heraus gegenüber dem Bund formulieren, damit wir nicht am Ende auf den Kosten sitzen bleiben.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Sicherungsverwahrung ist ein Instrument. Es ist die Ultima Ratio. Aus der Sicht der FDP ist es ein Instrument, das wir brauchen, um allen Aspekten des Strafvollzuges bzw. auch der Behandlung von Straftätern nachzukommen. Deshalb halten wir es für sinnvoll, dass es eine Änderung des Bundesrechts in der Hinsicht gibt, wie ich es beschrieben habe, insbesondere aber, dass wir eine verfassungsgemäße und eine der Europarechtskonvention gemäße Änderung der Sicherungsverwahrung hinbekommen. - Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Herzlichen Dank für die Einbringung, Herr Abgeordneter Kosmehl. - Wir kommen nun zu dem Beitrag der Landesregierung. Ministerin Frau Professor Dr. Kolb, Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kosmehl, ich kann fast alles unterschreiben, was Sie eben dargestellt haben. Sie haben auch differenziert zwischen den einzelnen Problemen, vor denen wir jetzt stehen. Wozu ich mir allerdings etwas mehr erhofft hatte, sind Ihre Auffassungen dazu, wie wir dieses Problem gemeinsam lösen können.

(Herr Stahlknecht, CDU: Genau!)

Wir beschäftigen uns mit diesen Fragen nicht erst seit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, sondern schon viel länger. Ich erinnere daran, dass die Justizministerkonferenz die Bundesregierung schon im Jahr 2009, also vor der MückeEntscheidung, aufgefordert hat, tätig zu werden und eine Reform der Sicherungsverwahrung anzugehen. Man hat bewusst erst einmal abgewartet, was passiert.

Wenn ich mir jetzt die Entwürfe anschaue, wünsche ich mir, man hätte die Zeit aktiv genutzt, um bestimmte Dinge noch ein bisschen gründlicher zu durchdenken.

(Zustimmung von Frau von Angern, DIE LINKE)

Ich glaube, es besteht überall Einigkeit darüber, dass eine Reform notwendig ist. Wie diese Regelung aber konkret aussehen soll, wie sie aussehen kann, darüber wird gegenwärtig im Bundestag diskutiert. Am Mittwoch dieser Woche hat dazu eine Expertenanhörung im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages stattgefunden.

Schaut man sich die Stellungnahmen der einzelnen Experten dazu an, stellt man fest, dass der Entwurf in wesentlichen Punkten noch überarbeitungsbedürftig ist.

(Zustimmung von Frau von Angern, DIE LINKE)

Das Thema Sicherungsverwahrung ist im Moment wahrscheinlich eines der schwierigsten rechtspolitischen Themen. Die Sicherungsverwahrung ist der Versuch, vor dem Hintergrund von ganz furchtbaren, brutalen Straftaten, die natürlich Ängste wecken, Schutzlücken zu schließen und die Allgemeinheit vor weiteren schweren Straftaten und vor Straftätern zu schützen.

Meine Damen und Herren Abgeordneten! Wir müssen natürlich diese Ängste der Bürgerinnen und Bürger ernst nehmen; aber - Herr Kosmehl hat es gesagt - die Politik ist nicht ganz unschuldig an der Situation, in der wir uns jetzt befinden. Es gab seit 1998 sechs Änderungen der Regelungen zur Sicherungsverwahrung.

Das System hat sich selbst so unübersichtlich gestaltet, dass wir inzwischen eine Situation haben, in der der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine ganz besondere Konstellation sieht. Es geht hierbei lediglich um die erste Änderung aus dem Jahr 1998, nämlich um die Verlängerung der ursprünglich auf zehn Jahre befristeten nachträglichen Sicherungsverwahrung.

Wir haben - Sie haben die Zahlen genannt - eine Verdreifachung der Zahl derjenigen zu verzeichnen, die sich in Sicherungsverwahrung befinden, und das bei rückläufiger Kriminalitätsentwicklung auch im Bereich von Gewalt- und Sexualdelikten. Wenn man jedoch - wenn man den Umfragen glaubt - das Sicherheitsgefühl der Bürgerinnen und Bürger in Betracht zieht, dann muss man leider ernüchtert feststellen, dass diese vielen Änderungen offensichtlich nicht dazu beigetragen haben, dass sich die Bürgerinnen und Bürger heute sicherer fühlen, als sie dies vor zwölf Jahren getan haben.

Meine Damen und Herren! Auch wir in Sachsen-Anhalt wissen, was es bedeutet, wenn ein Straftäter, der von Gutachtern und von den Kolleginnen und Kollegen des Strafvollzugs als hochgefährlich eingeschätzt wird, plötzlich als freier Mann aus dem Gerichtssaal hinausgeht. Sie haben auf die Diskussion und die Verabschiedung des so genannten Unterbringungsgesetzes verwiesen. Das heißt, auch in Sachsen-Anhalt hat es in der Vergangenheit mehrfach gesetzgeberische Bemühungen gegeben, Regelungen zu finden, um einen als besonders gefährlich eingeschätzten Straftäter weiter in staatlicher Obhut zu halten.

Das hat das Bundesverfassungsgericht aufgehoben. Änderungen zur Regelung der Sicherungsverwahrung haben jedenfalls für diesen konkreten Fall nicht die Möglichkeit gegeben. Ich bin froh, dass uns vier Jahre nach der Entlassung bis heute ein Rückfall, also eine neuerliche Straftat erspart geblieben ist.

Ich komme nun zu dem vorliegenden Entwurf der Bundesjustizministerin. Sie hatte bereits im Sommer Eckpunkte vorgelegt, mit denen wir uns intensiv beschäftigt haben. Die Eckpunkte lasen sich zunächst einmal recht gut. Wenn man sich den Gesetzentwurf im Detail anschaut, dann stellt man fest, dass bestimmte Vorgaben, wie zum Beispiel die Abschaffung der nachträglichen Sicherungsverwahrung und die Beschränkung auf schwere Gewalt- und Sexualstraftaten, im Gesetzentwurf so stringent nicht durchgehalten werden. Dabei gibt es Ausnahmen. Das muss man sich im Einzelnen noch einmal

genau anschauen. Genau das tun wir, um uns im Bundesrat entsprechend zu positionieren.

Richtig ist auch, dass sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bisher noch nicht zur nachträglichen Sicherungsverwahrung positioniert hat. Die Befürchtung, dass auch in diesem Zusammenhang eine Europarechtswidrigkeit festgestellt wird, hat aus meiner Sicht zu Recht dazu geführt, dass man auf dieses Instrument verzichtet, das uns praktisch nicht weitergeholfen hat. Es gibt nur ganz wenige Fälle, in denen der Antrag auf Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung erfolgreich war, sodass das nicht wirklich ein hilfreiches Instrument war. Vielmehr kann man aus heutiger Sicht sagen, dass das ein Versuch war, der untauglich war, um das bestehende Problem zu lösen.

Ich komme nun zu dem, was Herr Kosmehl von der Landesregierung erwartet, nämlich zu der Frage der Ausgestaltung der Sicherungsverwahrung. Dabei geht es zunächst um die Sicherungsverwahrung als solche, die grundsätzlich nicht in Frage steht.

Inwieweit der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte tatsächlich kritisiert, was in Deutschland passiert, ist eine Frage der Interpretation. Aus meiner Sicht ist das zunächst einmal eine Beschreibung des derzeitigen Zustandes. Aus meiner Sicht ist das auch nur ein Ausschnitt, weil es insoweit unvollständig bleiben muss, weil eine Bewertung der durchaus unterschiedlichen Situationen in den einzelnen Justizvollzugsanstalten, in denen eine Sicherungsverwahrung vollzogen wird, nicht vorgenommen worden ist.

Im Rahmen der Expertenanhörung am Mittwoch hat auch der Leiter der Justizvollzugsanstalt in Werl eine Stellungnahme abgegeben. Dort werden sehr viele Sicherungsverwahrte untergebracht. Dort wird das, was inhaltlich gefordert ist, nämlich mehr Therapie, mehr Freiräume und mehr Freizügigkeit innerhalb des Strafvollzugs, heute schon praktiziert. Dies kann sich in der Entscheidung wahrscheinlich so gar nicht widerspiegeln, weil ein konkreter Fall entschieden worden ist.

Diesbezüglich ist eine Arbeitsgruppe eingesetzt worden. Diese tagt auch schon seit längerer Zeit. Die Justizministerkonferenz hat den Druck erhöht und gesagt: Wir wollen bis Ende November Eckpunkte, die festlegen, was sich in Zukunft ändern soll, um über die Länder hinweg möglichst vergleichbare Maßstäbe zu haben. Es kann nicht sein, dass die Sicherungsverwahrung in Bayern in Zukunft anders ausgestaltet ist als in Schleswig-Holstein, in Niedersachsen oder in Sachsen-Anhalt.

Insoweit begrüße ich es, dass wir einheitliche Maßstäbe anstreben. Inwieweit das tatsächlich landesrechtlich umzusetzen ist, ob es dazu noch ein besonderes Sicherungsverwahrungsvollzugsgesetz geben muss, das kann ich heute noch nicht sagen.

Es besteht Konsens, dass es einen grundsätzlichen Perspektivwechsel beim Thema Sicherungsverwahrung geben muss. Es soll ein Vollzug der Sicherungsverwahrung sein, der eine größtmögliche Sicherheit nach außen und eine größtmögliche Offenheit nach innen gewährleistet.

Es sind einzelne Unterarbeitsgruppen gebildet worden, die sich mit Detailfragen wie der Frage der räumlichen Gestaltung der Unterbringung, der Haftraumgröße, Fragen der Ausstattung, Behandlungsangebote, Umfang von Außenkontakten, Taschengeld, Beschäftigung, Bil

dung, Vergütung, Aufschlusszeiten und den Aufenthalt im Freien beschäftigen. Sie sehen also, dass all das, was wir bei den Strafvollzugsgesetzen schon definiert haben, im Bereich der Sicherungsverwahrung noch einmal auf den Prüfstand gestellt wird. Hierbei werden ganz konkrete Parameter entwickelt, wie in Zukunft die Sicherungsverwahrung ausgestaltet werden soll.

Zu der Frage, was mit den so genannten Altfällen passiert, für die der Entwurf eines so genannten Therapieunterbringungsgesetzes vom Bundesjustizministerium als Formulierungshilfe erarbeitet und von den Koalitionsfraktionen auf Bundesebene in den Bundestag eingebracht worden ist, gibt es aus derzeitiger Sicht nur erste Anhaltspunkte dafür, wie man das praktisch umsetzen kann. Hier ist lediglich davon die Rede, dass eine medizinisch-psychologische Betreuung erforderlich sei.

Dabei waren auch die Justizministerinnen und Justizminister, die sich im Rahmen der Justizministerkonferenz mit der Frage der möglichen Umsetzung beschäftigt haben, relativ ratlos. Sie waren insoweit ratlos, als es nahezu unmöglich ist, neue, selbständige Einrichtungen zu schaffen, die quasi im Januar 2011 zur Verfügung stehen, um eventuell nach diesem Gesetz Unterzubringende tatsächlich unterzubringen.

Nach der Expertenanhörung muss man sich das Therapieunterbringungsgesetz noch einmal ganz genau anschauen. Es gibt keinen einzigen Experten, der keine Probleme sieht. Dies betrifft sowohl die verfassungsrechtliche Grundlage als auch die Übereinstimmung mit der Europäischen Menschenrechtskonvention. Auch die praktischen Fragen sind durchaus kritisch beleuchtet worden.

Das heißt, wir haben noch viel zu tun. Wir werden es auch in Zukunft so halten, wie wir es bisher getan haben. Ich berichte gern im Rechtsausschuss und auf Wunsch auch gern in anderen Ausschüssen über das weitere Verfahren. Im nächsten Jahr werde ich ein Konzept zur Umgestaltung der Sicherungsverwahrung in Sachsen-Anhalt vorlegen. Dann werde ich auch gern auf die angebotene Unterstützung zurückkommen, was die notwendigen finanziellen Mittel für die Umgestaltung betrifft. - Herzlichen Dank.

(Zustimmung bei der CDU und bei der SPD)

Herzlichen Dank, Frau Ministerin. - Wir kommen dann zu den Debattenbeiträgen der Fraktionen. Als ersten Debattenredner bitte ich Herrn Stahlknecht, das Wort zu nehmen.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kosmehl, Frau Ministerin, eigentlich ist alles gesagt, was dazu zu sagen war, aber noch nicht von mir. Insofern will ich es ganz kurz machen.