Protocol of the Session on October 7, 2010

(Beifall bei der SPD und bei der CDU - Zustim- mung bei der FDP und von der Regierungsbank)

Viele haben daran mitgewirkt. Dass Sachsen-Anhalt heute so dasteht, ist aber zuallererst und vor allem das Ergebnis der harten Arbeit der Menschen in diesem Lande. Sie haben die deutsche Einheit zu ihrer und damit zu unserer Erfolgsgeschichte gemacht. Das ist eine historische Leistung, auf die wir zu Recht stolz sein können.

(Beifall bei der SPD und bei der CDU - Zustim- mung bei der FDP und von der Regierungsbank)

Ich habe eben von einer Erfolgsgeschichte gesprochen, und das tue ich aus voller Überzeugung. Wir alle tun dies aber natürlich in dem Wissen um die Probleme, die das Land und seine Menschen auch heute noch belasten. Diese Probleme müssen ohne Zweifel gelöst werden.

Trotzdem sage ich noch einmal ganz deutlich: Wer in der deutschen Einheit nur und ausschließlich die Probleme sieht, der wird ihrer historischen Bedeutung nicht gerecht. Wer die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten am 3. Oktober 1990 nicht als glücklichen

Moment der deutschen Geschichte sehen will, der tritt die großartigen Leistungen vieler Menschen mit Füßen, und zwar die Leistung derer, die im Jahr 1989 auf die Straße gegangen sind, und die Leistung derer, die das Land nach dem Jahr 1990 aufgebaut haben, und der tritt auch die Empfindungen derer mit Füßen, die nach 40 Jahren Trennung ihre Familien wieder vereinen konnten.

(Beifall bei der SPD und bei der CDU - Zustim- mung bei der FDP und von der Regierungsbank)

Die Einheit war eine Chance. Wir haben sie genutzt. Und wir sind in der Verantwortung, sie weiter zu nutzen.

In den letzten Tagen und Wochen ist viel zu 20 Jahren friedlicher Revolution und zu 20 Jahren deutscher Einheit gesagt worden. Darunter war viel Richtiges und Wichtiges. Darunter war vieles, was wir schon vergessen hatten. Darunter war auch viel Dreistes und Dummes. Und wer sich fragt, was ich damit meine, der muss sich einmal die Debatte zu 20 Jahren deutscher Einheit im Deutschen Bundestag anschauen. Die hatte keine besonders hohe Qualität. Es hatten dort nicht alle Redner ihre Sternstunde.

Aber es gibt unter anderem einen Satz aus vielen Reden, der mir wichtig ist. Er stammt von unserem neuen Bundespräsidenten Christian Wulff, der zur Einheitsfeier in Bremen - übrigens neben vielen anderen bemerkenswert richtigen Dingen - den Satz gesagt hat: Die Ostdeutschen waren es, die den allergrößten Teil des Umbruchs geschultert haben, damit unser Land wieder zusammenfand.

Damit, meine Damen und Herren, hat er Recht. Und das gilt in zweierlei Hinsicht.

Zum einen kamen wir Ostdeutschen aus einem Teil Deutschlands, der viel mehr noch als der andere Teil an den Folgen des Zweiten Weltkrieges zu leiden hatte. Statt Demokratie hatten wir Diktatur, statt Marshall-Plan hatten wir Reparationen zu leisten, statt EWG hatten wir RGW, statt Nato den Warschauer Pakt und statt Freiheit die Stasi. Und wir lebten auf der ungemütlicheren Seite des Eisernen Vorhangs.

Daran darf man gelegentlich einmal erinnern; denn die deutsche Frage begann nicht im Jahr 1990 mit der Einheit, sondern im Jahr 1945 mit der Teilung Deutschlands. Der 3. Oktober 1990 ist also End- und Ausgangspunkt einer historischen Entwicklung. Die deutsche Frage ist seitdem beantwortet. Die Einheit Deutschlands hingegen - auch so ehrlich muss man sein - harrt in einigen Bereichen ihrer endgültigen Vollendung.

(Herr Tullner, CDU: Genau!)

Der Bundespräsident hat noch in einer zweiten Hinsicht Recht. Er sagt: Die Ostdeutschen mussten ihr Leben gewissermaßen von Neuem beginnen, ihren Alltag neu organisieren und Chancen nutzen. Sie haben es getan, mit einer unglaublichen Bereitschaft zur Veränderung. Das ist nicht ausreichend gewürdigt worden.

Das ist in der Tat nicht ausreichend gewürdigt worden. Aber vor allem die Ostdeutschen selbst würdigen das nicht, wohl oft auch aus persönlich schwierigen Lebensumständen heraus.

Aber ich denke trotzdem, dass es an der Zeit ist für ein neues Selbstbewusstsein als Ostdeutsche. Wir haben es nicht nötig, uns als Bürgerinnen und Bürger der zweiten

Klasse zu fühlen. Ja, nach der Wende war für uns vieles neu. Wir brauchten Unterstützung, nicht Belehrung. Wir brauchen nach wir vor die Hilfe des Westens. Aber wir sind Hilfesuchende und keine Hilfslosen. Und wir brauchen noch die Solidarität der alten Bundesländer. Aber wir sind Bittende und nicht Bettelnde.

Vor allem sind wir Bundesbürger mit einer einzigartigen Erfahrung: Die Bürgerinnen und Bürger in den alten Bundesländern haben Demokratie gelernt und wir haben sie uns erkämpft. Wir haben damit den Grundstein gelegt für ein gemeinsames Deutschland, dem Freiheit nicht gebracht und dem Demokratie nicht beigebracht wurde, sondern das beides aus sich selbst heraus gewonnen hat. Wir haben dem Verfassungspatriotismus der Bonner Republik den Freiheitswillen der Straße hinzugefügt. Und das hat das Deutschland von heute erst möglich gemacht.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung bei der CDU)

Und dass das nicht nur eine historische Betrachtung ist, sondern dass unsere Haltung von damals auch im Jahr 2010 noch lebendig ist, dass sie wie selbstverständlich auch ein Teil einer neuen politischen Kultur in Deutschland geworden ist, zeigt ein Blick nach Stuttgart. Wenn Zehntausende dort friedlich demonstrieren und „Wir sind das Volk“ auf den Bannern tragen, dann ist das auch der Geist von Leipzig, der Teil des deutschen Bürgersinns ist und der tief in seinem Erbgut sitzt. Und das ist gut so.

(Unruhe bei der CDU)

- Ja, manchmal muss man auch in schwierigen Situationen den zweiten Teil dabei sehen.

Bei allem, was die Einheit an Positivem gebracht hat und bei all der Euphorie dürfen wir nicht vergessen, wie groß der Druck, wie groß die Veränderungen und auch wie groß die Erschütterungen für die Menschen waren. Man spricht heute ganz leichthin immer von Umbruch, von schnellem Systemwechsel, von Transformation. Das klingt aus der Entfernung ganz logisch. Und das geht Wissenschaftlern auch leicht und erhaben von den Lippen, wenn sie in gepflegten Hörsälen stehen.

Aber was es für die Menschen damals bedeutet hat, können all diese Begriffe nicht einmal annähernd ausdrücken. Man muss sich vor Augen führen, wie schnell das alles ging. Von der ersten Montagsdemo in Leipzig bis zur Wiedervereinigung vergingen 329 Tage.

Was passiert nicht alles in dieser Zeit? - Da gab es die Ausweitung der Demonstrationen, den Fall der Mauer, die Gründung der ersten demokratischen Partei, die Reisen in den Westen, der Sturz der SED und der Stasi, die runden Tische, die ersten freien Wahlen, die Auflösung des Warschauer Paktes, die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, die Einführung der D-Mark, die Auflösung des RGW, der Zwei-plus-vier-Vertrag und schließlich die Einheit am 3. Oktober.

Das alles geschah in nicht einmal einem Jahr. Das war in der Tat, Herr Ministerpräsident, Weltgeschichte im Zeitraffer.

(Beifall bei der SPD und bei der CDU)

Ich kann auch sehr gut verstehen - oft ist es uns selbst so gegangen -, dass sich von diesem Schnelldurchlauf viele Menschen überrollt fühlten und auch heute noch überrollt fühlen; denn mit dem politischen System, so

diktatorisch, repressiv und einschränkend es auch war, verschwanden Gewissheiten, Perspektiven und persönliche Lebensentwürfe, die nicht für alle Menschen adäquat ersetzt werden konnten. Deren Gefühle und die damit einhergehenden Frustrationen muss man ernst nehmen; denn sie fußen auch heute noch auf realen Benachteiligungen.

Ich will auch ein paar Beispiele nennen, die nicht oft genug, glaube ich, wiederholt werden können. Es gibt keine gleichen Renten in Ost und West. Es gibt leider in der aktuellen Bundesregierung auch diesmal keinen Minister und keinen beamteten Staatssekretär - natürlich außer der Kanzlerin; das brauchen Sie mir gar nicht zu sagen - aus dem Osten.

(Herr Wolpert, FDP: Staatsministerin Pieper!)

Es gibt aber eben auch zum Beispiel bei der ARD keinen Intendanten, keinen Chefredakteur einer überregionalen Zeit wie „Welt“, „Süddeutsche“ oder „FAZ“ und auch keinen führenden General der Bundeswehr und keinen Richter des Bundesverfassungsgerichts mit ostdeutscher Biografie, wobei bei den zuletzt Genannten natürlich die Generationen dafür erst heranwachsen mussten. Das muss man sagen. Trotzdem muss man das 20 Jahre nach der Wiedervereinigung feststellen. Und man muss feststellen, dass sich das ändern muss; denn das gehört zum Selbstverständnis wie zu den Erfordernissen einer gelungenen Einheit.

(Beifall bei der SPD und bei der LINKEN)

Was der Osten heute braucht, ist eine wirklich tätige Unterstützung der Bundesregierung. Die hat der Osten zurzeit nicht. Neben der Zusammensetzung der Bundesregierung merkt man auch in der praktischen Politik, dass der Osten keine ausreichende Lobby im schwarzgelben Berlin hat.

Ein Blick in den Haushaltsplanentwurf ist ziemlich entlarvend. Wir müssen leider feststellen, dass der Haushaltsplanentwurf und das Sparpaket der Bundesregierung ganz klar zulasten des Ostens gehen. Wir brauchen eigentlich tätige Unterstützung und keine tätige Verhinderung des Aufbaus Ost. Ich will das auch belegen.

(Herr Tullner, CDU: Na ja!)

37 % des gesamten Sparvolumens fallen in den Bereich der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Das heißt, dort, wo mehr Geringverdiener und Arbeitslose vorhanden sind, werden die Kürzungen am stärksten durchschlagen. Das heißt also, bei uns.

Zu nennen ist der Kommunal-Kombi. Die Bundesregierung schreibt dazu in ihrem Bericht:

„Auch nach der Erweiterung der förderfähigen Regionen im April 2009 lag der Schwerpunkt des Programms in den ostdeutschen Ländern, sodass insbesondere die Menschen unterstützt werden konnten, die aufgrund der in vielen ostdeutschen Kreisen angespannten Arbeitsmarktlage und der Schwäche der regionalen Wirtschaft keine Arbeit finden konnten.“

Trotzdem hat die Bundesregierung genau dieses Programm im Jahr 2009 enden lassen. Wie das zusammenpasst? Hier ist bei der Unterstützung zumindest Fehlanzeige zu melden.

Das dritte Beispiel betrifft die Städtebauförderung. Ich bringe wieder ein Zitat aus dem Bericht der Bundesregierung:

„Als gemeinsam von Bund, Ländern und Gemeinden finanzierte Aufgabe hilft sie Städten und Gemeinden, städtebauliche Missstände zu beseitigen und eine zukunftsfähige Entwicklung einzuleiten, die in besonderer Weise von unterbliebener Erneuerung, wirtschaftlichem Strukturwandel, der demografischen Entwicklung und von Zuwanderung betroffen sind.“

Zudem wissen wir, dass jeder Euro Fördermittel mehr als 8 € an Investitionen vor Ort nach sich zieht. Was passiert? - Die Mittel für die Städtebauförderung, wozu auch sie Stadtprogramme Stadtumbau Ost und Soziale Stadt gehören, sollen halbiert werden. Es wäre gut, wenn Herr Ramsauer in die Städte geht, und zwar in alle, in die ostdeutschen und in die westdeutschen, damit er sieht, wie weit wir auf dem Weg sind und auch sieht, was noch notwendig ist. Vielleicht kommt er dann auch zu der Überzeugung, dass das Halbieren keinen Sinn macht.

Im vierten Beispiel geht es um die Studienförderung. Wir wissen, dass es nach wie vor eine Reihe erheblicher struktureller Ungleichgewichte in den Wirtschaftsstrukturen gibt. Die ostdeutsche Wirtschaft weist nach wie vor eine vergleichsweise geringe Anzahl von großen und kapitalkräftigen Unternehmen auf. Nach Angaben des DIW waren im Jahr 2008 von den 700 größten Unternehmen in Deutschland lediglich 5 % in den neuen Ländern ansässig. Das ist der Bundesregierung bekannt. Es ist in mehreren Berichten ausgeführt worden und Regierungsmitglieder belegen das durch Äußerungen.

Trotzdem führen sie ein Studienprogramm ein, durch das Studierende mithilfe finanzstarker Unternehmen unterstützt werden sollen. Das hört sich nicht schlecht an. Aber was bedeutet das in Ostdeutschland? - Es gibt keinen Schub durch dieses Programm. Im Gegenteil, das könnte sogar ein Abwerbungsprogramm für junge, gut ausgebildete Ingenieurinnen und Ingenieure und Absolventen der Universitäten und Hochschulen von Ost nach West sein.

(Zurufe von der CDU)

Wir sind bereit, im Osten zu sparen. Das ist klar.

(Frau Dr. Hüskens, FDP: Ach ja?)

Aber wir sind nicht dazu bereit, dass am Osten gespart wird. Wenn das jetzt der Fall ist, dann ist der Aufbau Ost Makulatur und dann ist auch die Aufbauleistung von 20 Jahren für die Katz gewesen.

(Zuruf von Frau Dr. Hüskens, FDP)