Protocol of the Session on June 17, 2010

Meine Damen und Herren! Wir kommen somit zur Wahl durch Erheben der Stimmkarte. Weil es ein formaler Akt ist, werden die Schriftführer die Stimmen auszählen.

Meine Damen und Herren! Ich bitte jetzt bei Zustimmung zu der gemeinsamen Liste in der Drs. 5/2660 um Ihr Zeichen mit der Karte bzw. Handzeichen. - Ich bitte die Schriftführer, die Stimmen zu zählen. - Meine Damen und Herren, ich bitte um die Gegenstimmen. - Keine Gegenstimmen. Stimmenthaltungen? - Auch keine.

Meine Damen und Herren! Ich stelle das Ergebnis fest. Für den Wahlvorschlag stimmten 78 Abgeordnete. Es gab keine Gegenstimme und keine Enthaltung. Der gemeinsame Wahlvorschlag hat somit die erforderliche Mehrheit der anwesenden Mitglieder des Landtages gefunden. Ich möchte allen Gewählten meinen Glückwunsch zur Wahl zum Mitglied der 14. Bundesversammlung aussprechen.

(Beifall bei der CDU, bei der SPD und bei der FDP)

Es sei noch darauf hingewiesen, dass gemäß § 4 Abs. 4 des Gesetzes über die Wahl des Bundespräsidenten alle Gewählten binnen zwei Tagen schriftlich die Annahme der Wahl erklären müssen. Geht bis zum Ablauf dieser Frist keine Erklärung ein, so gilt die Wahl als angenommen.

Der Präsident des Bundestages hat darum gebeten, ihm die Ergebnisse der Wahl im Landtag bis zum 18. Juni 2010 zu übermitteln. Ich bitte die Gewählten deshalb, die Annahme der Wahl unverzüglich zu erklären; es ist teilweise schon erfolgt. In Raum B2 01, direkt neben dem Plenarsaal, ist eine Geschäftsstelle eingerichtet worden. Ich bitte Sie, Ihre Erklärung dort abzugeben.

Ferner weise ich darauf hin, dass gemäß § 5 dieses Gesetzes jedes Mitglied des Landtags und jeder in die Wahlvorschlagsliste aufgenommene Bewerber innerhalb von zwei Tagen nach der Verkündung des Wahlergebnisses beim Präsidenten des Landtags Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl erheben kann.

Meine Damen und Herren! Damit ist die Wahl der Mitglieder für die 14. Bundesversammlung abgeschlossen und der Tagesordnungspunkt 2 ist erledigt.

Meine Damen und Herren, ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 a auf:

Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Herrn Prof. Dr. Böhmer zum Thema: „Sachsen-Anhalt - das jüngste aller Bundesländer“

Anschließend werden wir eine Aussprache zur Regierungserklärung führen. Ich erteile zunächst dem Ministerpräsidenten das Wort.

Ich darf, bevor der Ministerpräsident die Regierungserklärung abgibt, Gäste der Landeszentrale für politische Bildung auf der Südtribüne begrüßen. Herzlich willkommen!

(Beifall im ganzen Hause)

Sie haben das Wort, Herr Ministerpräsident.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In diesem Jahr, in dem wir so viele Anlässe haben, uns gegenseitig zu erinnern, will ich sehr bewusst in Vorbereitung des 20. Jahrestages der Wiedervereinigung der beiden deutschen Teilstaaten auch daran erinnern, dass vor genau 20 Jahren die letzte Volkskammer der DDR das Verfassungsgesetz zur Bildung von Ländern beraten und am 22. Juli 1990 verabschiedet hat. Damit ist auch unser Land Sachsen-Anhalt wieder gegründet worden; es war allerdings deutlich kleiner als das 1952 aufgelöste Land.

Vorausgegangen waren umfangreiche Diskussionen im Ausschuss für Verfassung und Verwaltungsreform der Volkskammer. Mehr als 2 000 Vorschläge, Anregungen aus den einzelnen Regionen und Modelle, die die Bildung von zwei bis elf Ländern beinhalteten, lagen vor. Aus 15 Kreistagen gab es Voten, die zum Teil deutlich von den Ergebnissen der Bürgerbefragungen oder von den Stellungnahmen einzelner Städte aus diesen Kreisen abwichen. Mehrere Kreise, die bis 1952 zum damaligen Sachsen-Anhalt gehörten, entschieden sich als Folge der Zuordnung zu anderen Verwaltungsbezirken für ein anderes Land. Der zu Brandenburg gedachte Kreis Jessen votierte als einziger für Sachsen-Anhalt.

Aus übergeordneten Gründen musste der Gesetzgeber mehrfach von den Ergebnissen der Volksbefragungen, die keine Volksentscheide waren, abweichen. Das hat zu langen demokratietheoretischen Diskussionen in den Ausschüssen der Volkskammer geführt. Ich erwähne das ausdrücklich, weil uns solche Diskussionen noch bevorstehen. Das Ergebnis sind die so genannten neuen Bundesländer in der heutigen Form.

Es war also die Volkskammer der DDR, die die Länder als föderative Strukturen mit eigenem Staatscharakter wieder geschaffen hat. Die Verteilung der Gesetzgebungsbefugnisse zwischen der Republik und den Ländern entsprach weitgehend den Strukturen des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Die Bezeichnung „neue Länder“ kam erst später auf. Sie ist historisch falsch und stellt eine einseitige Sicht aus der Perspektive der westlichen Länder dar.

Neben den alten, historisch gewachsenen Ländern wie Brandenburg, Bayern oder Sachsen sind die meisten der gegenwärtig existierenden Länder erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, nachdem die Alliierten auf der Teilung Preußens bestanden hatten. Damals wurden die Länder Nordrhein-Westfahlen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und eben auch Sachsen-Anhalt gegründet. Im Jahr 1952 kam Baden-Württemberg dazu. Unsere weitere Entwicklung war, wie Sie alle wissen, eine völlig andere.

An einem Tag wie dem heutigen - darauf hat der Herr Präsident schon hingewiesen -, an einem 17. Juni muss an ein Ereignis aus der damaligen Zeit erinnert werden. Auf der zweiten Parteikonferenz der SED im Juli 1952 wurde der - ich zitiere - „planmäßige Aufbau des Sozialismus in der DDR“ beschlossen. Dazu gehörten die Kollektivierung der Landwirtschaft und des Handwerks sowie die strikte Zentralisierung des Staatsgefüges. Die Länder wurden aufgelöst und neue Verwaltungsbezirke wurden geschaffen.

Innerhalb der SED begannen die Säuberung von Oppositionellen und der ideologische Kampf gegen den so genannten Sozialdemokratismus. Den Arbeitermassen sollte klar gemacht werden, dass eine Entwicklung zum Sozialismus eine - ich zitiere - „unglaubliche Steigerung der Produktivität der Arbeit“ notwendig mache.

Nach Normerhöhungen für die Bauarbeiter auf der Berliner Stalinallee kam es dann am 17. Juni 1953 zu Protestaktionen. Diese breiteten sich schnell aus und erfassten fast alle Regionen der DDR. Diese Proteste richteten sich auch gegen die politische Führung. Sie wurden als „faschistische Provokation“ diffamiert und von sowjetischen Panzern niedergewalzt.

Erst die Aufarbeitung der Ereignisse danach und die Verurteilung derjenigen, die mehr Freiheit und Demokratie gefordert hatten, als - Zitat - „Handlanger der Imperialisten“ ließ erkennen, dass die damaligen Aktionen auch ein Aufbegehren gegen staatliche Diktatur und für mehr Freiheitsrechte waren. Einige haben das mit ihrem Leben bezahlt, etwa 2 500 mit langjährigen Zuchthausstrafen. Daran auch nach 57 Jahren zu erinnern, sollte uns auch zukünftig Verpflichtung sein.

(Beifall im ganzen Hause)

Nach 40 Jahren deutscher Teilung und einer völlig anderen politischen und gesellschaftlichen Entwicklung kamen wir im Jahr 1990 wieder in die Gemeinschaft jener Länder, die etwa zeitgleich mit dem unsrigen gegründet worden waren. Nur weil wir im Gegensatz zu den anderen damaligen Neugründungen im Jahr 1952 wieder aufgelöst wurden und uns dadurch fast 40 Jahre gemeinsamer Vergangenheit fehlen, sind wir heute von allen Bundesländern das jüngste.

Das ist nicht ohne Bedeutung für die Gegenwart. Die einzelnen Landschaften und Regionen unseres Landes haben eine völlig unterschiedliche Geschichte und gehörten unterschiedlichen, zum Teil mehrfach wechselnden politischen Strukturen an. Ein solches Gemeinschaftsgefühl, wie man es aus Formulierungen wie „wir Sachsen“, „wir Bayern“, „wir Thüringer“ oder auch „wir Brandenburger“ heraushören kann, konnte sich bei uns nicht entwickeln.

Anhalt war zu klein und in unterschiedliche Herrschaftshäuser zersplittert. Die Provinz Sachsen gehörte zu Preußen. Sie war in sich sehr heterogen und entwickelte

niemals eine emotionale Identität. Das langsame Zusammenwachsen unterschiedlicher Landsmannschaften in allen nach dem Zweiten Weltkrieg neu geschaffenen deutschen Ländern ist noch nirgends völlig gelungen. Bei uns hat dieser Prozess erst im Jahr 1990 wieder begonnen.

20 gemeinsame Aufbaujahre können zwar nicht Jahrhunderte gemeinsamer Geschichte ersetzen, zeigen aber doch Wirkung. Im Auftrag des MDR befragt das Institut Infratest dimap seit 1995 Sachsen-Anhalter nach dem Verbundenheitsgefühl mit ihrem Heimatbundesland. Von zunächst etwa 40 % stieg der Anteil derer, die sich mit ihrem Land stark oder sehr stark verbunden fühlen, in diesem Jahr auf immerhin 76 %. Gemeinsam durchlebte Schwierigkeiten und gemeinsame Erfolge haben auch uns zusammengeschweißt und zur Entwicklung einer emotionalen Landesidentität beigetragen bzw. geführt.

In der Aufbruchstimmung des Jahres 1990 sind spontan lokale Fördervereine entstanden, die das ehrenamtliche bürgerschaftliche Engagement zum Aufbau ihrer Heimatregion bündeln. Ich nenne beispielhaft den Verein Kultur-Landschaft Haldensleben-Hundisburg, den Verein Cranachhöfe, der sich zur Cranach-Stiftung entwickelt hat, oder Fördervereine wie den Förderverein Industrie- und Filmmuseum Wolfen sowie den Verein zur Rettung und Erhaltung der Neuenburg.

Ohne eigene Finanzmittel, aber mit viel Begeisterung wurden Arbeiten begonnen, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu beachtlichen Erfolgen geführt haben, die aber noch lange nicht erledigt sind. Dieses gemeinsame bürgerschaftliche Engagement an vielen Stellen unseres Landes war von Anfang an ein Bekenntnis zur eigenen Heimat und hat ein Zusammengehörigkeitsgefühl entstehen und wachsen lassen.

Für uns alle, die wir in diesem Land politische Verantwortung tragen, sollte die Förderung dieser Entwicklung wichtig sein und auch wichtig bleiben. Für die Bewältigung der erkennbaren Probleme und Aufgaben während der nächsten Jahre wird jede Regierung auf das Gemeinschafts- und Zusammengehörigkeitsgefühl im Lande angewiesen sein. Dabei geht es um die Konsequenzen aus unseren Problemen; das sind unser Defizit an Menschen und unser Defizit an Steuerkraft.

Während der vergangenen 20 Jahre nach der Wiedergründung unseres Landes haben sich in Sachsen-Anhalt erhebliche soziologische Veränderungen vollzogen. Der mit der Wiedervereinigung Deutschlands begonnene Transformationsprozess hat in allen so genannten neuen Ländern zu enormen demografischen Folgen und Konsequenzen geführt.

Die Einwohnerzahl Sachsen-Anhalts ist von 1991 bis 2007 um mehr als 17 % gesunken, etwa doppelt so stark wie im Durchschnitt der anderen neuen Bundesländer. Die Zahl der Erwerbstätigen ist im gleichen Zeitraum um 22 % gesunken. Die Zahl der unter 18-Jährigen hat sich in diesem Zeitraum schlicht halbiert. Eine Ursache ist sicherlich die über viele Jahre höchste Arbeitslosigkeit unter allen deutschen Ländern.

Der Bevölkerungsschwund der vergangenen Jahre war zu 56 % durch Wanderungsverluste und zu 44 % durch ein Geborenendefizit verursacht. Die Zeit, in der wir um Ausbildungsplätze gerungen haben, ist inzwischen vorbei. Erkennbar ist ein beginnender Mangel auch an Fach

arbeitern in technischen Berufen, der sich in den nächsten Jahren verstärken wird.

Die Projekte, den Auspendlern einen entsprechenden Arbeitsplatz im Lande anzubieten, zeigen erste Erfolge. Voraussetzung ist eine gleich hohe Entlohnung wie in den westdeutschen Ländern. Ich sage es ganz deutlich: Solange nicht die gleichen Löhne gezahlt werden, braucht sich kein Arbeitgeber bei der Landesregierung wegen mangelnder Facharbeiter zu beklagen.

(Zustimmung bei der CDU - Beifall bei der SPD und bei der LINKEN)

Was an Qualifizierungsmöglichkeiten unsererseits organisierbar war, das haben wir in den letzten Jahren getan.

Die fünfte regionalisierte Bevölkerungsprognose errechnet für uns einen weiteren Rückgang der Wohnbevölkerung bis zum Jahr 2025 um etwa 20 % auf weniger als zwei Millionen Einwohner. Der weitere Rückgang in dieser Zeit wird prognostisch zu 84 % durch ein Geborenendefizit verursacht sein. Gegenwärtig sterben jährlich etwa doppelt so viele Bewohner wie Neugeborene hinzukommen. Ein minimaler Anstieg der Fertilitätsrate ist deswegen unbedeutend, weil dem Land durch die hohen Wanderungsverluste nahezu die Hälfte der zukünftigen Müttergeneration verloren gegangen ist.

Nach den Prognoseberechnungen wird der Anteil der Erwerbstätigen an der Bevölkerung bis zum Jahr 2025 auf etwa 35 % absinken. Alle umlagefinanzierten sozialen Sicherungssysteme können dann nur noch funktionieren, wenn sie von außen subventioniert werden. Wer die gegenwärtige Diskussion über eine Regionalisierung im Gesundheitsfonds verfolgt, der weiß, welche Probleme unserem Land drohen.

54 % der Bevölkerung werden dann älter als 50 Jahre sein. Welche Anpassungsstrategien das für die soziale Infrastruktur nach sich zieht, wird inzwischen vielfach auf den regionalen Veranstaltungen problematisiert und diskutiert.

Während der letzten 20 Jahre haben sich bei uns soziologische Entwicklungen vollzogen, die die sozialen Strukturen nachhaltig verändert haben. Die Anzahl der Familien mit Kindern hat in der Zeit von 1991 bis 2007 um 31 % abgenommen. Die Häufigkeit der Lebensgemeinschaften ohne Kinder hat um etwa ein Drittel zugenommen. Dass sich die Anzahl der Kinder bis zum 18. Lebensjahr statistisch gesehen halbiert hat, erwähnte ich bereits.

Die Häufigkeit unehelich geborener Kinder ist von 15 % auf 63 % gestiegen. Obwohl die Zahl der Eheschließungen deutlich gesunken ist, ist die Scheidungsquote inzwischen auf etwa 55 % gestiegen. Die Unterhaltsvorschusszahlungen des Landes sind kontinuierlich angestiegen, obwohl die Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer von 1991 bis 2007 um etwa 97 % gestiegen sind. Unsere Landesleistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz sind die vierthöchsten im Bundesvergleich und umgerechnet je Einwohner etwa dreimal so hoch wie in Bayern. Die Rückforderungsergebnisse der Kreise schwanken zwischen 10 % bis 20 % der ausgegebenen Summe.

Die soziologischen Familienstrukturen in Sachsen-Anhalt entsprechen im statistischen Vergleich etwa denen in den Stadtstaaten Berlin, Hamburg oder Bremen.

So weit als möglich versuchen wir, dieser demografischen Entwicklung mit einer Gegenstrategie zu begegnen. Dabei ist nach den Erfahrungen aus den letzten 20 Jahren das Angebot gutbezahlter Arbeitsplätze noch wichtiger als eine hohe Quote außerfamiliärer vorschulischer Kinderbetreuung.

Wie wichtig die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist, muss uns niemand erläutern. Trotzdem ergeben Befragungen immer wieder, dass der Wunsch nach Kindern bei jungen Menschen stärker ausgeprägt ist als die spätere Verwirklichung des Kinderwunsches. Als Ursache werden nicht selten eine existenzielle Unsicherheit und die Sorge um den Arbeitsplatz angegeben.

Wenn wir wollen, dass wieder mehr Kinder geboren werden, dann müssen wir uns nicht nur um familienfreundliche Arbeitsmöglichkeiten sorgen, sondern auch um mehr existenzielle Lebenssicherheit durch individuelle Risikoverminderung für betroffene junge Familien.

(Zustimmung von Frau Gorr, CDU)

Der übliche Ruf nach mehr Bildung wird nur nützen, wenn die angebotenen Chancen auch angenommen werden. Ansonsten werden wir uns in einer breitgefächerten Anpassungsstrategie durch strukturelle Reformen und den Umbau der sozialen Infrastruktur darauf vorbereiten müssen, dass wir an Zahl weniger und die wenigen immer älter werden. Dafür haben wir in den letzten Jahren in Vorbereitung der IBA 2010, wie ich denke, schon recht viel getan.

Viele notwendige strukturelle Anpassungen haben wir auch in den vergangenen zwei Jahrzehnten durchgeführt. Dazu gehörten mehrere Verwaltungsstrukturreformen, zwei Kreis- und eine Gemeindegebietsreform und weitere Infrastrukturanpassungen in den verschiedensten Bereichen. Für jede einzelne Reform musste auch in der Öffentlichkeit um Verständnis geworben werden. Wir haben unser Land, soweit uns dies möglich war, auf die erkennbaren Forderungen der Zukunft vorbereitet.