Protocol of the Session on February 18, 2010

Aussprache zur Regierungserklärung

Der Ältestenrat schlägt dazu die Redezeitstruktur E vor, also eine Debattendauer von 130 Minuten. Die Fraktionen werden in folgender Reihenfolge das Wort erhalten: DIE LINKE, SPD, FDP und CDU.

Für die Fraktion DIE LINKE hat der Abgeordnete Herr Heft nun 24 Minuten Zeit für seinen Beitrag. Herr Heft, Sie haben das Wort. Anschließend wird die SPD-Fraktion das Wort erhalten.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste! Herr Minister, Sie haben Recht, wenn Sie äußern, Mobilität sei ein Grundbedürfnis.

Herr Heft, darf ich Sie kurz unterbrechen; denn ich hatte vergessen, die Gäste auf der Tribüne zu begrüßen. Es sind Gäste der Landeszentrale für politische Bildung. Herzlich willkommen!

(Beifall im ganzen Hause)

Jetzt können Sie sprechen und ich gebe Ihnen noch ein bisschen Redezeit dazu.

Danke, Herr Präsident. - Herr Minister, natürlich haben Sie Recht, wenn Sie sagen, Mobilität sei ein Grundbedürfnis. Um aber entsprechende Weichen zu stellen, muss wesentlich mehr getan werden, als nur Verkehrspolitik zu betreiben. Diese endet - wie in Ihrer Rede dargestellt - aus unserer Sicht nicht am materiellen Wohlstand.

Die heutige Regierungserklärung, meine Damen und Herren, soll neue Wege in der Verkehrspolitik aufzeigen und Lösungen für die im System liegenden Probleme im Straßen- und Schienenverkehr sowie der Schifffahrt offerieren. Gleichzeitig kann das Grundanliegen, neue Wege in der Verkehrspolitik zu finden, nicht in der Verstetigung des Status quo liegen. Neue Wege in der Verkehrspolitik können nicht nur durch die Implementierung neuer Technologien, wie sie unter anderem die Telematik bietet, beschritten werden, sondern neue Technologien sollten die Chance zur koordinierten Steuerung und Lenkung der Verkehrsströme bieten. Zur Lösung der Probleme und Verbesserung des Status quo tragen diese Technologien aus unserer Sicht nur begrenzt bei. Sie doktern an den Symptomen herum, ohne wirklich zu heilen. Es werden Daten erfasst und verwaltet; sie sind lediglich Mittel zum Zweck.

Meine Damen und Herren! Allein mit diesen Technologien, sei es Galileo, Mosaique, Vagabund, Invent oder andere, die Herr Minister aufgezählt hat, werden neue Wege in der Verkehrspolitik nicht zum Ziel führen. Neue Wege in der Verkehrspolitik dürfen nicht nur in Beton gegossen werden, sondern diese müssen vor allem in den Köpfen der Verantwortlichen in der Politik, in der Wirtschaft und in den Verbänden beschritten werden.

Wenn neue Wege in der Verkehrspolitik beschritten werden, darf der tägliche Straßen-, Schienen- und Luftverkehr nicht mehr abgewickelt oder bewältigt werden. Neue Wege in der Verkehrspolitik müssen vielmehr Wege zur Gestaltung des Verkehrs sein, müssen Wege zur Sicherung einer angemessenen und sozialverträglichen Mobilität für jeden Bürger losgelöst und unabhängig von dessen Portemonnaie sein.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Neue Wege in der Verkehrspolitik, meine Damen und Herren, müssen vor allem Wege zur Gestaltung und

Sicherung der Nahmobilität der Menschen sein. Das Credo kann zukünftig nicht mehr in der Beschleunigung und Geschwindigkeit liegen. Es kommt darauf an anzukommen und nicht darauf, schnell zu sein.

Neue Wege in der Verkehrspolitik müssen mit einer neuen Kultur der Mobilität einhergehen. Die Akzeptanz künftiger Verkehrs- oder Mobilitätspolitik wird daran gemessen, wie flüssig die Verkehrsabläufe gestaltet und gesichert werden, wie sich trotz wachsender Verkehrsleistung die Lebensqualität der Menschen verändert, ob sich die Verantwortlichen in der Politik, in der Wirtschaft und in den Verbänden für Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit im System einsetzen oder ob alle nur auf Geschwindigkeit setzen. Wie zugänglich sind die einzelnen Verkehrsträger im System untereinander? Welchen Umgang und welche Kommunikation pflegen die Beteiligten im System?

Um Ihnen an einem Beispiel zu dokumentieren, wie Akzeptanz nicht erreicht werden kann und wie Kommunikation und Management eine von vornherein fehlende Akzeptanz bei der Beschreitung vermeintlich neuer Wege in der Verkehrspolitik entstehen lassen, sei auf vergangene und jüngste Äußerungen sowohl des scheidenden als auch des neuen Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bahn AG, der Herren Mehdorn und Grube, sowie des damaligen Bundesfinanzministers Herrn Peer Steinbrück zur Zukunft der Deutschen Bahn AG verwiesen. Alle drei äußerten unisono mitten in der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009, dass am Börsengang der Verkehrssparte der Deutschen Bahn AG - hier der Personennah-, -fern- und Güterverkehr - keine Alternativen vorbeiführen.

Auch wenn Herr Grube aktuell in verschiedenen Zeitschriften - so erst letzte Woche - zitiert wird, der Börsengang der Deutschen Bahn AG sei kurz- bis mittelfristig nicht auf der Tagesordnung, so ist die Absicht, dies bei akzeptablem Umfeld zu vollziehen, - so Herr Grube wörtlich - damit längst nicht hinfällig.

Das Festhalten am Verkauf auch nur von Teilen der Deutschen Bahn AG an so genannte Investoren - ob mit oder ohne Börsengang der Deutschen Bahn AG - ist für DIE LINKE inakzeptabel.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Die Bundesregierung und der Bahnvorstand müssen den Mut aufbringen, das deutliche Verfehlen aller Ziele der Bahnreform von 1994 anzuerkennen und dies in praktische Politik zur Sicherung der eigentlichen Aufgaben der Bahn umzusetzen.

Die Bundesregierung und das Bahnmanagement, meine Damen und Herren, können sich zur Wahrung der Rechtssicherheit und des Burgfriedens der daran Beteiligten langsam und mit ausgesuchtem Vokabular an diese Situation herantasten. Empfehlenswert wären zum Beispiel, dass die Ziele ehrgeizig und anspruchsvoll etwas ihrer Zeit voraus gesteckt wurden oder, um den deutschen Adel zu zitieren: Man muss den Menschen ja nur erklären, damit sie verstehen und akzeptieren.

Im Verlauf von 16 Jahren Bahnreform wurde weder nachhaltig Verkehr von der Straße auf die Schiene verlegt noch wurden die öffentlichen Haushalte nachhaltig entlastet - vom Wettbewerb auf der Schiene ganz zu schweigen. Dieser findet ausschließlich im Vorfeld statt und ist rein fiskalischer Natur. Die Tatsachen sprechen Bände.

Die Entwicklung der Verkehrsleistungen im Güterverkehr seit dem Inkrafttreten der Bahnreform spricht ein vernichtendes Urteil für die Politik. Mit einigen Beispielen kann dies belegt werden: Im Jahr 1993 betrug die Verkehrsleistung im Straßengüterverkehr ca. 251 Milliarden Tonnenkilometer. Diese wuchs bis zum 31. Dezember 2008 - den letzten aktuell vorliegenden Daten - auf ca. 473 Milliarden Tonnenkilometer. Das ist ein Zuwachs um 88 %. Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung prognostiziert bis zum Jahr 2030 weitere 234 Milliarden Tonnenkilometer und bis zum Jahr 2050 nochmals 166 Milliarden Tonnenkilometer. Das ist ein weiterer Zuwachs um mehr als 84 % gegenüber dem Jahr 2008 und mehr als 247 % gegenüber dem Basisjahr seit dem Inkrafttreten der Bahnreform.

Im Schienengüterverkehr betrug die Verkehrsleistung im Jahr 1993 ca. 66 Milliarden Tonnenkilometer; das ist ein Viertel der Leistung des Straßengüterverkehrs. Diese Verkehrsleistung wuchs bis 31. Dezember 2008 auf ca. 116 Milliarden Tonnenkilometer. Das ist ein Zuwachs um 76 %. Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung prognostiziert bis zum Jahr 2030 magere weitere 54 Milliarden Tonnenkilometer und bis zum Jahr 2050 nochmals lediglich 57 Milliarden Tonnenkilometer.

Auf niedrigem absoluten Niveau wird der Vorrang des Straßengüterverkehrs gegenüber dem Schienengüterverkehr verstetigt und wird sich nach den bekannten Szenarien auf steigendem Niveau manifestieren - dies trotz alarmierender Prognosen für die stetig steigenden Güterumschläge in den deutschen Nord- und Ostseehäfen infolge der Globalisierung.

Eine ähnliche Entwicklung verzeichnen wir bei der Verkehrsleistung im Personenverkehr. Einem Zuwachs in der Verkehrsleistung im Zeitraum von 1993 bis 2007 von ca. 19 Milliarden Personenkilometern mit öffentlichen Verkehrsmitteln inklusive Schienenpersonennah- sowie -fernverkehr stehen ca. 145 Milliarden Personenkilometer im motorisierten Verkehr gegenüber. Gleichzeitig verursachte der Straßengüterverkehr im Betrachtungszeitraum eine um ca. 50 % höhere Treibhausgasemission.

Die Entwicklung der entsprechenden Infrastruktur folgt exakt diesem Szenario. Zwar werden in den Erhalt der Infrastruktur bei Straße und Schiene entsprechend dem geltenden Bundesverkehrswegplan in etwa die gleichen Beträge investiert, jedoch werden jährlich 56 % mehr finanzielle Mittel in den Neu- und Ausbau von Bundesfernstraßen investiert als in den Neu- und Ausbau von Schienenwegen - dies trotz alarmierender Prognosen für die CO2-Emissionen.

Anstatt zügig und zielstrebig in nennenswerter Größenordnung in den Neu- und Ausbau der Schieneninfrastruktur zu investieren, um gerade im Güterverkehr neue Wege in der Verkehrspolitik zu beschreiten und künftige Herausforderungen zu meistern,

(Zuruf von Herrn Scheurell, CDU)

fließen Milliarden Euro in verkehrspolitisch fragliche und aus unserer Sicht für die Sicherung der Mobilität nicht erforderliche Prestigeobjekte: seien es die Autobahnneubauten A 14 Magdeburg - Schwerin, die Nordverlängerung der A 39, die Verlängerung der A 71 von Sangerhausen bis Bernburg oder Bahnhöfe wie Stuttgart 21 und die verkehrspolitisch nicht notwendige ICE-Strecke Nürnberg - Halle - Leipzig - Berlin.

Es genügt nicht, lediglich genügend finanzielle Mittel für den Ausbau der Infrastruktur bereitzustellen. Wenn tatsächlich neue Wege in der Verkehrspolitik gegangen werden sollen, meine Damen und Herren, muss die Bereitstellung finanzieller Mittel für den Ausbau der jeweiligen Infrastruktur mit ordnenden Maßnahmen begleitet werden. Geld allein macht nicht glücklich.

(Zuruf von Herrn Kosmehl, FDP)

In diesem Zusammenhang muss auch über die Umlage der externen Kosten des Verkehrs nachgedacht werden.

Auch die finanzielle Entlastung der öffentlichen Haushalte wurde deutlich verfehlt. Gegenwärtig werden über den Bundeshaushalt jährlich mehr als 10 Milliarden € für den Schienenverkehr ausgegeben. Darin ist der Neubau von Schienenwegen nicht enthalten.

(Herr Scheurell, CDU: Das ist neben dem Gleis!)

Im Gegenteil: Die Reduzierung des gegenwärtigen Bestandsnetzes um 2 000 km wird in diesem Betrag durch den Eigentümer der Bahn, den Bund, noch gebilligt und sanktioniert, nachzulesen in der Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung zwischen Bund und Deutscher Bahn AG.

Meine Damen und Herren! Neue Wege in der Verkehrspolitik beim Verkehrsträger Schiene zu gehen heißt auch, die vertikale Trennung bei den bundeseigenen Bahnen konsequent zu vollziehen und auch gegen den Willen des Bahnmanagements und anderer Interessengruppen durchzusetzen. Die Schimäre der Einheit von Rad und Schiene existiert immer dann, wenn es für deren Protagonisten politisch und für das Bahnmanagement betriebswirtschaftlich brauchbar ist. Volkswirtschaftlich sinnvoll ist diese Einheit unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen nicht.

Die Politik hat die Aufgabe und die Pflicht, im Bereich der Sicherung einer ausgewogenen Mobilität insbesondere Artikel 20 - das Sozialstaatsgebot - in Verbindung mit Artikel 87e Abs. 4 des Grundgesetzes - die Daseinsvorsorge bundeseigener Eisenbahnen zur Gewährleistung einer angemessenen Mobilität - zu beachten und zu erfüllen.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Die gegenwärtige Straßeninfrastruktur - so sie denn instand gesetzt und instand gehalten wird - genügt den gegenwärtigen und künftigen Anforderungen zur Sicherung einer angemessenen und sozial ausgewogenen Mobilität.

Der Neubau von Bundesfernstraßen auch angesichts der bereits genannten Szenarien ist volkswirtschaftlich weniger nutzbringend als der Erhalt des Bestandes. Flankiert werden muss dies unter anderem durch eine systemimmanente Gleichbehandlung aller Verkehrsträger und Verkehrsteilnehmer. So kann in den zentralen Orten die Bevorrechtigung der Nahmobilität zu einem volkswirtschaftlich sinnvollen und gewollten Gewinn für die regionale Wirtschaft führen.

Ca. 90 % aller Güterverkehre auf der Straße, meine Damen und Herren, finden in einem Radius von 50 bis 100 km statt. Mehr als 80 % aller Wege in den zentralen Orten werden im motorisierten Verkehr zurückgelegt, bewegen sich in einem Korridor von 2 bis 5 km und sind ausschließlich innerörtliche Verkehre. Hinzu kommen die entsprechende Förderung öffentlicher Verkehre und die

Reduzierung verkehrserzeugender staatlicher Subventionen und paralleler regionaler Wirtschaftsförderung.

Wenn tatsächlich neue Wege in der Verkehrspolitik beschritten werden, müssen die individuellen Freiheiten des motorisierten Verkehrs ebenso hinterfragt und korrigiert werden wie die dabei gezahlten verkehrserzeugenden Subventionen. Auf die gleiche Stufe - eine Lösung dieses Problems kann nur parallel erfolgen - gehört die verkehrserzeugende staatliche Subvention wirtschaftlichen Handelns, zum Beispiel die Verringerung der Fertigungstiefe in der Industrie.

Im Rahmen neuer Wege in der Verkehrspolitik gilt es, den Nutzen der von staatlicher Seite ergriffenen Maßnahmen zur Organisation und Gestaltung des Verkehrs in den Vordergrund und Fokus jeglichen staatlichen Handelns zu stellen. Auf diese Stufe, meine Damen und Herren, gehört auch ein Sozialticket für öffentliche Verkehrsmittel in Sachsen-Anhalt.

Um den Grundsatz von Fordern und Fördern zu verwirklichen, darf die Politik nicht beim Fordern anhalten. Von den Menschen wird verlangt, sich aus eigener Kraft um einen neuen Arbeitsplatz zu bemühen und dabei flexibel und mobil zu sein. Wenn aber gleichzeitig kein individuelles Fahrzeug zur Verfügung steht, eine Monatskarte für öffentliche Verkehrsmittel in Sachsen-Anhalt durchschnittlich mehr als 40 € kostet und im Regelsatz für Menschen, welche von Hartz IV betroffen und auf Sozialtransfers angewiesen sind, von der Abteilung 6 - Verkehr - lediglich 16,42 € für Mobilität veranschlagt werden, frage ich ganz deutlich: Wie und womit sollen diese Menschen mobil und flexibel sein?

(Beifall bei der LINKEN)

Ein Sozialticket für öffentliche Verkehrsmittel im Land Sachsen-Anhalt ist kein Almosen

(Zustimmung bei der LINKEN)

oder schon gar keine Subvention Einzelner, sondern ein Rechtsanspruch zur Verwirklichung staatlicher Auflagen und vor allen Dingen zur Gewährleistung individueller sozialer Teilhabe.

Die gegenwärtige Politik der Kosten- und damit auch Belastungsbetrachtung führt volkswirtschaftlich in eine Sackgasse. Es ist das Phänomen staatlichen Handelns zu erkennen, dass Geld für den Neu- und Ausbau von Verkehrswegen keine Rolle spielt. Sie erkennen dies aktuell bei der Lösung des Problems der Kostenexplosion bei der Nordverlängerung der Bundesautobahn A 14, bei dem volkswirtschaftlich nicht fundiert belegten Neubau des Saaleseitenkanals oder dem erst jüngst geforderten EIbeausbau.