Aber wir wissen alle - so wird es auch in Brüssel diskutiert -, dass dieses erste Konzept noch lange nicht das Ende der Fahnenstange ist, sondern dass in den nächsten Wochen und Monaten noch eine intensive Diskus
sion darüber stattfinden wird, wie die Weiterentwicklung oder die Ablösung der Lissabon-Strategie - auch da gibt es noch unterschiedliche Sprachgebräuche - dann aussehen wird und welche Agenda die Europäische Union bis zum Jahr 2020 am Ende tatsächlich verfolgen wird.
Bei dem Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung handelt es sich um eine Initiative der Europäischen Union, die ähnlich wie die anderen Europäischen Jahre - im Jahr 2009 das Europäische Jahr der Kreativität und Innovation, im Jahr 2008 das Europäische Jahr des interkulturellen Dialogs und im Jahr 2007 das Europäische Jahr der Chancengleichheit - in der Gemeinschaft Diskussionsprozesse auslösen und Veranstaltungen anregen soll.
Demzufolge ist auch für dieses Format - wenn ich es einmal so nennen darf - im europäischen Haushalt nicht so furchtbar viel Geld bereitgestellt worden. Das mag man beklagen oder nicht. Auch für die anderen Themenjahre haben die Beträge, die dort vorgesehen waren und die in dieser Größenordnung etatisiert waren, durchaus gereicht.
Die Europäische Union - ich will das gern auch dem Landtag mitteilen - hat im Gemeinschaftshaushalt für das Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung 17 Millionen € zur Verfügung gestellt. Die Nationalstaaten müssen die Mittel mit 50 bis 80 % kofinanzieren, sodass insgesamt europaweit 26 Millionen € zur Verfügung stehen.
Für Deutschland sind es 2,25 Millionen € aus Mitteln der EU und des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Davon sind ca. 1,25 Millionen € für die Förderung von Projekten vorgesehen.
Wir haben im Haushalt darüber hinaus in den Einzelplan des Kollegen Bischoff noch 50 000 € eingestellt, um diese Initiative der Europäischen Kommission und des Bundes noch weiter zu untersetzen, um auch unseren Beitrag in diesem Jahr leisten zu können.
Das Motto dieses Jahres in Deutschland - das ist die nationale Untersetzung dieses Themenjahres - lautet: „Mit neuem Mut“. Sie haben schon darauf hingewiesen, dass es am 25. Februar 2010 in Berlin dazu eine Eröffnungsveranstaltung geben wird. Im November 2010 wird darüber hinaus eine Bilanzveranstaltung durchgeführt werden, bei der dann alle Beteiligten - das sind die Länder, die Wohlfahrts- und Betroffenenverbände, die Sozialpartner sowie Experten aus dem Beraterkreis soziale Integration und viele andere mehr - mit ihren Ideen und Vorstellungen, die sie im Laufe dieses Jahres entwickeln werden, zur Geltung kommen werden.
All das ist im Internet dokumentiert und kann sowohl auf dem Portal der Europäischen Union als auch auf den Internetseiten des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales nachgelesen werden.
Bis zum 28. September 2009 bestand für Wohlfahrts- und Betroffenenverbände, Initiativen, Vereine und andere freie Träger die Möglichkeit, bei der nationalen Durchführungsstelle Anträge auf Projektförderung einzureichen. 36 Anträge aus Sachsen-Anhalt wurden eingereicht, 800 waren es insgesamt. Es hat also für dieses Projekt schon einen beachtlichen Vorlauf gegeben. Aufgrund der begrenzten finanziellen Mittel werden dann allerdings nur 30 bis 50 Projekte finanziell unterstützt werden können. Wir haben die Hoffnung, dass darunter auch einige Projekte aus Sachsen-Anhalt sein werden.
Was wir im Übrigen im Lande selbst machen werden, das wird sich dann im Laufe der nächsten Wochen und Monate weiter konkretisieren. Dazu haben erste Gespräche mit der Liga der Freien Wohlfahrtspflege stattgefunden, die noch in diesem Monat eine Fortsetzung erfahren sollen, etwa ein Projekt zum Thema Obdachlosigkeit.
Auch da muss natürlich jeder Mitgliedstaat seine eigenen Konzepte bedarfsgerecht entwickeln und innerhalb des Mitgliedstaates Deutschland die Länder. Gleichwohl sollen die in Planung befindlichen Vorhaben dann in eine gemeinsame Strategie von Bund und Ländern zum Europäischen Jahr eingebunden werden. Hierzu sind für März 2010 weitere Gespräche vorgesehen.
Grundsätzlich stehen dann im Übrigen für die Ausgestaltung dieses Themenjahres alle europäischen Fördermittel, also auch das gesamte ESF-Spektrum, das im Haushalt sehr breit aufgefächert ist, zur Verfügung. Ich will das jetzt nicht im Einzelnen aufzählen. Das ist Ihnen ja auch bekannt.
Auch im Rahmen der Europawoche und des Jugendevents „Europa geht weiter - Spurensuche in SachsenAnhalt“ wird das Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung als einer der Schwerpunkte eine wichtige Rolle spielen. Auch der von der Europäischen Bewegung Deutschland durchgeführte europäische Wettbewerb 2010 für Schülerinnen und Schüler aller Altersgruppen findet zu Themen des Europäischen Jahres statt.
Wenn wir all diesen Projekten und Fördermöglichkeiten im Laufe dieses Jahres die ihnen gebührende Öffentlichkeit verschaffen, dann wird es uns auch in SachsenAnhalt gelingen, ein erfolgreiches Europäisches Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung zu gestalten.
Ich betone noch einmal: Es geht um diese Öffentlichkeitsarbeit; es geht um diese Diskussionsprozesse. Es geht nicht darum, bei dieser Gelegenheit mit einer ausschließlich auf Deutschland fokussierte Betrachtungsweise zum wiederholten Male und immer nur die innerdeutschen Probleme zu diskutieren. Sondern ich werde auch in meiner Verantwortung als Europaminister sehr viel Wert darauf legen, dass wir in diesem Europäischen Jahr tatsächlich einmal das gesamte europäische Spektrum in die Betrachtung einbeziehen,
um auch die Relativität der bei uns vorhandenen Probleme am Ende angemessen würdigen zu können. Es ist ja nicht nur so, dass schon der relative Armutsbegriff, den Sie, Herr Czeke, zu Recht skizziert haben, dazu beiträgt, dass wir von sehr unterschiedlichen Phänomenen sprechen, wenn wir auf dem europäischen Niveau von Armut sprechen, sondern es sind eben in der Tat auch die Sozialsysteme - ich sagte es schon - sehr unterschiedlich.
Ich bestreite gar nicht, dass es auf europäischer Ebene auch Staaten gibt, von denen wir im Detail lernen können, die gute Ideen gehabt haben, die uns auch weiterhelfen können. All dies mögen wir gern auch im Ausschuss während und am Ende des Europäischen Jahres thematisieren. - Im Übrigen danke ich Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Staatsminister Robra. - Bevor wir jetzt den Beitrag der SPD-Fraktion hören und ich Herrn Tögel das Wort gebe, haben wir die Freude, Seniorinnen und Senioren aus Schleitz auf der Südtribüne begrüßen zu dürfen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt immer wieder Überraschungen auch für einen europapolitischen Sprecher. Ich bin eigentlich davon ausgegangen, dass dies ein Sozialthema ist und dass die Sozialpolitiker dazu reden werden. Denn es ist aus meiner Sicht in erster Linie ein soziales und ein nationales Thema. Es geht um die nationalen Sozialsysteme. Es gibt in diesem Haus eine ganze Menge Leute, die in Bezug auf soziale Themen kompetenter sind, als ich es als Europapolitiker bin.
Aber bevor wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, zum eigentlichen Thema kommen, will ich, ohne das Thema Armut zu relativieren, eigentlich sagen, worüber wir reden. Wenn wir an Haiti denken, wenn wir an Entwicklungsländer denken, wenn wir an afrikanische Staaten denken, dann sollten wir uns einen Moment Zeit nehmen, darüber nachzudenken, was denn Armut im eigentlichen Sinne für diese Menschen bedeutet.
Nach der Katastrophe in Haiti gibt es Menschen, denen es wesentlich schlechter geht als uns. Wenn man die Bilder sieht, dann bekommt man erst einmal ein Gefühl dafür, was Armut tatsächlich bedeutet. Aber wie gesagt, Armut ist in diesem Fall relativ. Das ist sowohl vom Staatsminister als auch von Herrn Czeke bereits gesagt worden.
Ich finde es gut, dass die Europäische Union ein Zeichen der Solidarität mit Haiti gesetzt hat und Mittel zur Bewältigung der Katastrophe zur Verfügung stellt.
Ich finde es auch gut, dass wir heute hier im Landtag über dieses Thema diskutieren, auch wenn ich, Herr Czeke, nicht sagen würde, dass die EU dieses Thema feiert. Ich bin da eher auf der Linie des Staatsministers, der sagt: So ein Europäisches Jahr dient dazu, ein Thema präsent zu machen, ein Thema in den Mittelpunkt der Diskussion zu stellen, Aufmerksamkeit zu erregen.
Und das gelingt mit diesen Jahren, weil wir in den Landtagen darüber reden, weil es Aktionsprogramme gibt, weil es Veranstaltungen dazu gibt. Es ist nicht so, dass die EU die Bekämpfung der Armut feiert, sondern sie will dieses Thema zu Recht etwas stärker hervorheben und in den Mittelpunkt stellen.
Ich habe allerdings in einem Punkt eine andere Position als Sie, Herr Robra. Sie haben gesagt, das deutsche Sozialsystem stehe heute nicht zur Diskussion, wenn wir über das Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung reden. Ich denke schon, dass das heute zur Diskussion steht;
denn Sie haben praktisch im gleichen Satz völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass die EU im sozialen Bereich gar keine Kompetenzen hat. Also schließt sich das eigentlich gegenseitig aus. Die EU hat in diesem Bereich kaum Kompetenzen. Insofern steht natürlich auch die deutsche Sozialpolitik hier heute zur Diskussion.
Die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung ist nicht erst seit Ausrufung dieses Jahres Thema der Europäischen Union. Sie ist schon immer eine zentrale Aufgabe der Politik auf allen Ebenen. Das Europäische Jahr bietet uns die Chance, verstärkt auf diese Probleme hinzuweisen und über die Möglichkeiten ihrer Überwindung zu diskutieren.
Ich habe schon in einer Vielzahl von Reden gerade Anfang der 90er-Jahre, wenn wir hier über die Verträge zur Währungs- und Wirtschaftsunion sowie über den Vertrag von Maastricht geredet haben, darauf hingewiesen, dass ich ein großes Defizit im Bereich der Sozial- und Umweltkompetenzen der Europäischen Union sehe und dass auch vom damaligen Kanzler Kohl zu viel Wert auf das Thema Wirtschafts- und Währungspolitik gelegt wurde.
Dieses Defizit ist nach der Osterweiterung natürlich noch viel stärker zum Tragen gekommen. Es wäre damals bei der geringeren Zahl von Mitgliedstaaten vielleicht noch einfacher gewesen, eine Einigung herbeizuführen, um dort einige größere und stärkere Ziele zu erreichen.
Dass die Lissabon-Strategie gescheitert ist, ist kein Geheimnis. Herr Czeke hat es auch schon angedeutet. Deswegen brauche ich dazu nicht mehr viel zu sagen.
Auch ich denke, das liegt vor allem daran, dass die Europäische Union zwar hehre Ziele ausrufen und Pläne festschreiben kann, dass es aber keinerlei Sanktionsmaßnahmen gegenüber den Mitgliedstaaten gibt, wenn die entsprechenden Ziele nicht erreicht werden bzw. die Versuche, diese Ziele zu erreichen, nicht entsprechend umgesetzt werden.
Bei den Zahlen, die Sie, Herr Czeke, genannt haben, gibt es naturgemäß immer wieder Differenzen. Ich habe Zahlen von Eurostat, die für rund 16 % der europäischen Bevölkerung, also für fast 80 Millionen Menschen feststellen, dass sie unter der Armutsgrenze leben. Davon sind mehr als 15 Millionen Kinder. Das ist auch aus meiner Sicht nicht hinnehmbar.
Nach der OECD-Studie haben in den vergangenen Jahren in Deutschland die Einkommensunterschiede und der Anteil der armen Menschen an der Bevölkerung deutlich schneller zugenommen als in den meisten anderen OECD-Ländern. Der Anteil der Menschen, die in Deutschland in relativer Armut leben, das heißt, mit weniger als der Hälfte des durchschnittlichen Einkommens auskommen müssen, liegt mittlerweile knapp über dem OECD-Schnitt, wobei klar ist, dass wir immer über relative Armut sprechen.
Ein Vergleich: Wenn alle Bürger 1 000 € mehr im Monat bekämen, würde der Anteil der Armen trotzdem kaum sinken; denn wenn das Durchschnittseinkommen steigt, würden natürlich auch die armen Menschen statistisch gesehen kaum reicher werden. Allerdings würde das Wohlstandsniveau steigen.
Trotz eines insgesamt deutlich gestiegenen Armutsrisikos waren laut Studie in Deutschland die meisten von Armut Betroffenen nur für einen überschaubaren Zeitraum der Armut ausgesetzt. So leben nur knapp mehr
Für Singles, Alleinerziehende und ältere Menschen ist das Risiko für Langzeitarmut in Deutschland wie in anderen OECD-Ländern allerdings doppelt so hoch wie im übrigen Durchschnitt der jeweiligen Bevölkerung. Ob in Sachsen-Anhalt - je nach Auslegung der vorliegenden Statistiken - jedes dritte oder jedes fünfte Kind von Armut bedroht ist, spielt dabei eigentlich kaum eine Rolle; denn es sind in jedem Fall zu viele Kinder, die davon betroffen sind.
Die nationale Strategie zur Umsetzung des Europäischen Jahres, die auch schon angesprochen wurde, sieht diverse Maßnahmen vor. Das Land Sachsen-Anhalt - der Staatsminister sagte es - hat im Einzelplan des Sozialministeriums 50 000 € bereitgestellt. Das ist nur ein symbolischer Betrag, aber besser als nichts. Damit werden gemeinsam mit den Trägern der freien Wohlfahrtspflege konkrete Projekte vorbereitet.
Es geht aber nicht nur darum, die Sensibilität für das Problem der Armutsrisiken zu stärken - das wäre uns auch zu wenig -, sondern es geht auch um konkrete Projekte und Veränderungen
sowie darum, die Armutsrisiken offensiv und auch über den Ablauf des Jahres 2010 hinaus zu bekämpfen.
Ich will noch kurz einige grundsätzliche Punkte ansprechen. Erstens. Der beste Schutz vor Armut ist die Ausübung einer Vollerwerbstätigkeit, die natürlich auch ordentlich entlohnt werden muss. Die Menschen müssen von ihrer Arbeit leben können.