Protocol of the Session on January 21, 2010

So soll auch das Europäische Jahr zur Armutsbekämpfung vor allem in den Mitgliedstaaten das Bewusstsein für das Thema wecken und zum Nachdenken anregen. Zur Unterstützung des Denkprozesses reicht die EU immerhin Mittel in Höhe von 17 Millionen € für Aktionen in 27 Mitgliedstaaten aus. Bei diesen Summen muss wirklich der politische Wille hinterfragt werden.

Zum Vergleich: In den EU-Haushalt 2010 sind für die Grenzschutzagentur Frontex 80 Millionen € für die Abwehr von Flüchtlingen eingestellt worden. Das umstrittene Satellitennavigationsprojekt Galileo bekommt 1 Milliarde €. Die Mittel für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, also für die Rüstungsagentur und die Militäreinsätze, werden auf 280 Millionen € verdoppelt.

Bleiben wir noch etwas beim EU-Haushalt, eine weitere Möglichkeit der EU, sozialpolitisch aktiv zu werden. Bereits jetzt ist die Sozialpolitik im Haushalt völlig unterfinanziert. In der zukünftigen Förderperiode ab 2014 werden die Mittel allerdings noch weiter zurückgefahren. Sie sollen sogar renationalisiert werden, sodass die Förderung wieder in den Mitgliedstaaten selbst erfolgen soll.

Dies ist auch der Tenor des schwarz-gelben Koalitionsvertrages. Es soll weniger in den EU-Haushalt eingezahlt werden und nur noch eine Strukturfondsförderung für die wichtigsten und die am wenigsten entwickelten Gebiete stattfinden. Die EU-Mittel auf der Ausgabenseite sollen sich auf die EU-Außenpolitik und die Weltraumforschung konzentrieren. - So viel zum Thema Solidarität in der EU und Bekämpfung der Armut.

Wie sollen sich die Menschen im Prozess der Europäischen Union mitgenommen fühlen, wie es besonders zu den Wahlen zum Europäischen Parlament doch von vielen deklamiert wird?

Die Sozialsysteme der Mitgliedstaaten sind aber auch von der konkreten Wirtschafts- und Wettbewerbspolitik der EU-Kommission und der Rechtsprechung des EuGH betroffen. Nicht erst mit der Lissabon-Strategie aus dem Jahr 2000 wurde der Weg zum Sozialabbau beschritten; bereits am Ende der 80er-Jahre wurde mit der Einheitlichen Europäischen Akte und dem Maastricht-Vertrag der Rahmen gesetzt.

Mit dem gemeinsamen Binnenmarkt, also dem freien Verkehr von Dienstleistungen, Waren und Kapital, wurde den unternehmerischen Grundfreiheiten Vorrang vor sozialen Grundrechten gegeben. Dies wurde von einem Wirtschafts- und Stabilitätspakt flankiert, der bei Strafandrohung zu Haushaltseinsparungen insbesondere im Sozialbereich verpflichtete, weil die Wirtschaftsförderung getätigt werden muss.

Die EU-Kommission als Gesetzgeberin verzichtete gleichzeitig auf eine Harmonisierung, also positive Integration innerhalb der Mitgliedstaaten. Vielmehr setzte sie auf das Herkunftslandprinzip, auf gegenseitige Anerkennung der unterschiedlichen Standards.

Das öffnete dem heute allseits registrierten Standort- und Steuerwettbewerb in der EU Tür und Tor. Dieser Standort- und Steuerwettbewerb innerhalb der EU führte in den letzten 20 Jahren zu einem immensen Wettlauf bei der „Beseitigung von Hindernissen für den unverfälschten Wettbewerb“, wie es der Lissabon-Vertrag nennt. Hohe Lohn-, Sozial- und Umweltstandards waren dabei ein Dorn im Auge. Die wirtschaftlichen Grundfreiheiten, der Binnenmarkt für Dienstleistungen, Waren

(Zuruf von Herrn Kosmehl, FDP)

und insbesondere Kapital dürfen nach dieser Lesart nicht durch soziale Grundrechte behindert werden. Die Urteile des Europäischen Gerichtshofs in den Fällen Laval, Viking Line und Rüffert sprechen aus unserer Sicht eine sehr deutliche Sprache. Tarifverträge und Streikrecht hatten jeweils das Nachsehen gegen die Niederlassungsfreiheit.

Die EU feiert im Jahr 2010 also das Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung. Das ist schon bemerkenswert, ist doch die neoliberale Politik der Regierungschefs der EU Kommission sowie des EuGH Ursache eben jener Politik.

Zur Bekämpfung der Armut und sozialen Ausgrenzung in der Europäischen Union, ja überall auf der Welt, braucht es unserer Ansicht nach andere Ansätze. Die EU muss zur europäischen Sozialunion werden mit einem sozialen Stabilitätspakt gegen Sozialdumping, der die Mitgliedstaaten zu verbindlichen Sozialausgaben verpflichtet, um Armut tatsächlich und effektiv bekämpfen zu können. Die Mitgliedstaaten sollen soziale Grundsicherung, existenzsichernde Einkommen und Mindestlöhne gewährleisten, anstatt Leistungen abzubauen.

Die auf internationale Wettbewerbsfähigkeit fixierte Lissabon-Strategie bzw. die jetzt so genannte EU-2020Strategie muss aufgegeben werden. Stattdessen braucht Europa eine integrierte Strategie für Nachhaltigkeit und Solidarität.

Die Besteuerung von Unternehmensgewinnen, Zins- und Kapitalerträgen muss EU-weit harmonisiert werden, um den Steuerwettbewerb einzuschränken.

Des Weiteren fordert DIE LINKE europaweite Mindestlöhne, die mindestens 60 % der jeweiligen nationalen Durchschnittslöhne betragen sollten.

Kinder, insbesondere Kinder mit Migrationshintergrund, sind besonders von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. Daher ist es folgerichtig, dass das federführende Bundesarbeitsministerium im nationalen Strategieplan zum Europäischen Jahr die Kinderarmut in den Mittelpunkt stellt.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Kinderarmut hat seit Hartz IV eine neue Dimension erreicht. In Sachsen-Anhalt lebt jedes vierte Kind in einem Hartz-IV-Haushalt. In Magdeburg und Halle betrifft das mehr als 16 000 Kinder, Tendenz leider steigend. Was das individuell bedeutet, kann man täglich in den Zeitungen lesen. Aber in diesem Hohen Haus wird es wohl nur einige geben, die das nachfühlen können.

Mit dieser Debatte möchten wir erfahren, wie die Landesregierung in diesem Punkt handeln will, welche konkreten Maßnahmen, Konzepte oder Projekte sie für dieses thematische Jahr und darüber hinaus zur Bekämpfung der Armut hat. Wie sollen diese Maßnahmen langfristig in die Landespolitik integriert werden? Und vor allen Dingen: Wie sollen die Ergebnisse dann evaluiert werden?

Für die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung engagieren sich Vereine, Organisationen, Gewerkschaften, Parteien und Kirchen. Wie wurden sie bisher in die Erarbeitung eines Konzeptes zur Umsetzung des Europäischen Jahres 2010 einbezogen?

Armut und soziale Ausgrenzung sind aus unserer Sicht nicht akzeptabel - darin sind sich, denke ich, die Mitglie

der des Hohen Hauses auch einig -; denn sie sind weder naturgegeben noch unabänderlich. Sie sind systembedingt und haben Ursachen.

(Herr Gürth, CDU: Wer hat Ihnen das aufge- schrieben?)

Kinder und Erwachsene haben ein Recht darauf, gut zu wohnen, genügend zu essen zu haben, eine gute Bildung zu erfahren und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.

(Zustimmung bei der LINKEN - Herr Gürth, CDU: Das trifft übrigens auch auf Kuba und Nordkorea zu!)

Herr Minister Haseloff, Sie haben in einem Interview in Bezug auf die Ausführungen von Ministerpräsident Koch von einer „verbalen Fehlleistung“ gesprochen. Aber Sie irren, Herr Minister; es ist keine verbale Fehlleistung, nein, das, was Herr Koch geäußert hat, ist Strategie. Es ist fehlende Wahrnehmung und Ignoranz, Herr Gürth.

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Koch und Herr Sarrazin unternehmen einmütig den Versuch, Armut salonfähig zu machen, uns daran zu gewöhnen, dass sie normal wäre - nach dem Motto „Pullover gegen Kälte“. Dabei ignorieren sie, dass manche Menschen kein Geld haben, um sich überhaupt Wolle für einen warmen Pullover zu kaufen.

(Herr Stahlknecht, CDU: Sie haben auch keinen an!)

Das Grundgesetz sagt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Arbeitswillige werden zwangsweise ausgegrenzt. Meinen Sie nicht, diese Menschen fühlen sich durch diese Ausgrenzung in ihrer Würde angetastet?

Herr Koch schürt meiner Meinung nach Vorurteile gegen Hartz-IV-Bezieher und Bezieherinnen, also die Schwächsten der Gesellschaft, und das ist unerträglich.

(Beifall bei der LINKEN)

Außerdem verbietet Artikel 12 des Grundgesetzes Arbeit unter Zwang - aus gutem Grund und auch aufgrund der schlimmen Erfahrungen, die in Deutschland gemacht wurden.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Herr Minister Haseloff, Sie erklären, dass die Krise das Land Sachsen-Anhalt nicht so stark trifft, weil es so gut aufgestellt ist. Die Bertelsmann-Forscher kommen zu einem völlig anderen Urteil: Aufgrund der schwierigen Arbeitsmarktsituation im Osten ist der Aufholprozess in den neuen Bundesländern nur sehr schleppend und er geht sehr, sehr langsam voran. Das sind Gründe dafür, dass selbst im EU-Sozialbericht Kinderarmut beklagt werden muss. Das ist beschämend für die reichste Nation in der Europäischen Union. - Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN - Herr Gürth, CDU: Nach- dem DIE LINKE keinen Einfluss mehr auf die Re- gierungspolitik hat, geht es schneller positiv vor- an!)

Vielen Dank, Herr Czeke. - Nun erteile ich Herrn Staatsminister Robra das Wort. Bitte schön, Herr Minister.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrter Herr Abgeordneter Czeke, ich kann und will Ihnen nicht auf all Ihren verschlungenen Wegen folgen, wenn es um eine Aktuelle Debatte im Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung geht.

Es ist zunächst einmal erfreulich, dass wir - Sie haben es erwähnt - parallel zur Eröffnung dieses Themenjahres in Madrid im Landtag von Sachsen-Anhalt darüber diskutieren. Aber wir sollten uns dann auch auf das konzentrieren, was dieses Europäische Jahr wirklich bezwecken und bewirken will. Dazu gehört ganz gewiss weder der hessische Ministerpräsident Roland Koch noch das Sozialsystem in Deutschland.

Sie haben auf den EU-Haushalt und auf die Ansätze für sozialpolitische Anliegen im Haushalt der Europäischen Union hingewiesen. In der Tat kann darin nicht viel stehen; denn die Europäische Union hat auf diesem Feld praktisch keine Kompetenzen. Es sind, und zwar aus wohlerwogenen Gründen, nationalstaatliche Kompetenzen, um die es dabei geht. Diesbezüglich eine Harmonisierung anzustreben, davor kann ich aus deutscher Sicht - Sie sagten mit Recht, Deutschland sei eine der reichsten Regionen in Mitteleuropa - nur dringend warnen. Denn wir haben noch immer eines der besten und effizientesten Sozialsysteme in der Europäischen Union, wenn ich das einmal über alle 27 Mitgliedstaaten hinweg, gerade auch über Osteuropa hinweg betrachte.

(Herr Gürth, CDU: Richtig!)

Fahren Sie einmal nach Rumänien und Bulgarien. Schauen Sie sich an, wie dort die soziale Sicherung ist und wie das Thema „soziale Ausgrenzung“ dort praktisch gelebt wird, und vergleichen Sie das einmal mit den Maßstäben in Deutschland.

(Zustimmung bei der CDU)

Eine Harmonisierung ginge zweifellos zulasten des deutschen Sozialsystems

(Zuruf von Herrn Gallert, DIE LINKE)

und es ginge auch zweifellos zulasten des deutschen Steuerzahlers. Denn wenn die Europäische Union, wie Sie es vorschlagen, tatsächlich ein eigenes Budget zum Ausgleich der sozialen Defizite in allen 27 Mitgliedstaaten im Haushalt gestalten sollte, dann wären die großen Nettozahler diejenigen, die das finanzieren müssten, und zwar für ganz Europa. Das geht dann allemal zulasten auch des deutschen Sozialsystems,

(Zustimmung bei der CDU)

das jedenfalls bisher und weiterhin auf die Unterstützung durch Steuern angewiesen sein wird.

Sie sprachen im Übrigen das Thema „EU 2020“, also die Entwicklung einer neuen Strategie auf der europäischen Ebene an. Das gehört auch nicht unbedingt in diesen Kontext. Aber ich will immerhin so viel dazu sagen: Die Frist für eine Stellungnahme zu diesem ersten Entwurf der Kommission, der ja auch auf der Ebene der Kommission nicht in der Breite diskutiert worden ist, ist in der Tat kurz.

Aber wir wissen alle - so wird es auch in Brüssel diskutiert -, dass dieses erste Konzept noch lange nicht das Ende der Fahnenstange ist, sondern dass in den nächsten Wochen und Monaten noch eine intensive Diskus