Damit ist eine Grenze geöffnet worden, deren Sicherungsanlagen mehr als 1,8 Milliarden Mark der DDR gekostet hatten und deren Sicherung mehr als 28 Jahre lang täglich 1,47 Millionen Mark der DDR gekostet hat. Sie wurde uns - manche werden sich daran noch erinnern - als antifaschistischer Schutzwall erläutert und war doch nichts anderes als eine Mauer der Mächtigen gegen das Weglaufen der in einer Diktatur Ohnmächtigen.
Die Öffnung dieser Mauer, die nicht nur Deutschland, sondern auch Europa geteilt hat, war das Ergebnis einer europäischen Freiheitsbewegung. Die Volksaufstände in den 50er-Jahren in der DDR, in Ungarn und in Polen konnten noch mit militärischer Gewalt unterdrückt werden. Auch der Versuch, in den 60er-Jahren in der Tschechoslowakei einen demokratischen Sozialismus zu etablieren, wurde mit sowjetischen Panzern beendet.
Die Freiheitsbewegung der Charta 77 in Tschechien und die freie Gewerkschaftsbewegung Solidarność, die im Sommer 1980 in Polen gegründet wurde, wurden mit politischen Mitteln jahrelang unterdrückt, konnten aber nicht mehr liquidiert werden. Als dann am Anfang des Jahres 1986 der Prozess der Umgestaltung - Perestroika - in der Sowjetunion zu mehr Offenheit - das heißt Glasnost - führte, gewann die Freiheitsbewegung eine eigene Dynamik.
In Polen musste sich die Regierung zu Gesprächen mit der Gewerkschaft am runden Tisch bereit erklären und die Ungarn durchtrennten vor laufenden Kameras im Sommer 1989 den Stacheldraht der Grenzanlagen, die Europa trennten. Tausende DDR-Bürger verließen ab dem Sommer 1989 ihre Heimat und diejenigen, die blieben, forderten mehr eigene Entscheidungsfreiheit nach dem Motto: „Wenn wir gehen dürften, würden wir bleiben wollen“.
Unter dem Eindruck steigender Flüchtlingszahlen und zunehmender Massenproteste versuchten sich die Regierenden bei uns neu aufzustellen und versprachen eine Wende in ihrer Politik. Für die Absichtserklärung, ein freieres Reisegesetz zu erarbeiten, sollte die Bundesregierung schon vorher einen Kredit über 12 bis 13 Milliarden DM zusagen. Die öffentliche Mitteilung über dieses Gesetz führte dann dazu, dass es eines solchen nicht mehr bedurfte.
Der in 28 Jahren aufgestaute Druck zerbrach die Mauer, die Deutschland und Europa trennte, in einer einzigen Nacht und auf friedliche Weise. So viel Freude wie in dieser Nacht hat es niemals vorher gegeben und wird es kaum wieder geben können. Europa hat sich in dieser Nacht verändert; wir ahnten es, wir wussten nur noch nicht wie.
Bei dem millionenfachen Ruf nach Freiheit ging es nicht nur um Reisefreiheit. Es ging um freie Wahlen, um Meinungs- und Pressefreiheit, um Gedanken- und um Redefreiheit. Wir wussten, dass der uns erläuterte Freiheitsbegriff nur die Erklärung für deren Unterdrückung war. Freiheit wurde uns erklärt - ich zitiere es für diejenigen, die nicht dabei waren - als „die Einsicht in die Notwendigkeiten, die sich aus den objektiven Gesetzmäßigkeiten der historischen Entwicklung der Gesellschaft ergeben“.
Über diese Notwendigkeiten entschied das Politbüro. Kaum jemand glaubte das. Wenn auf einer Bühne „Nabucco“ oder „Don Carlos“ aufgeführt wurde, dann gab es
an bestimmten uns bekannten Stellen Zwischenapplaus, über den zu berichten sich keine Zeitung wagte.
Einen freien und unvoreingenommenen Gedankenaustausch gab es letztlich nur noch in den Einrichtungen der Kirche, in privaten Zirkeln und in Büchern, die außerhalb der DDR gedruckt wurden.
Den Ruf nach Freiheit teilten alle. Wir glaubten, Freiheit aus der Literatur und aus dem Fernsehen zu kennen. Wir hatten keine Erfahrungen mit Freiheit und kaum eine Gelegenheit, ein Leben in Freiheit zu erlernen. Von einer Kultur der Freiheit wussten wir nur wenig.
Irgendwie fühlten wir uns alle für ein Leben in Freiheit gerüstet. Jetzt wissen wir, dass dies ein Irrtum war, der auch zu Enttäuschungen führen musste.
Freie Diskussionen über gesellschaftspolitische Probleme gab es - ich sagte es bereits - nur unter dem schützenden Dach der Kirchen. Das ist zu Recht häufig gewürdigt worden. Aus diesen Kreisen kamen dann auch die ersten Teilnehmer, die am runden Tisch oder in später gewählten Vertretungen Verantwortung übernommen haben. Aber es gab so gut wie keine freien Berufe mehr und kaum noch wirtschaftlich selbständige Betriebe. Es gab keine Kultur eines freien Unternehmertums mehr.
Als es wieder möglich wurde, haben sich einige ein Herz gefasst, sich selbständig gemacht und im Wege der MBO-Privatisierung Betriebe übernommen. Dabei gab und gibt es bewundernswerte Erfolge, aber auch Fehlschläge, von denen heute niemand mehr spricht. Wir wissen auch, dass die Nachfrage nach dem Schutz des Beamtenrechts viel größer war als das Bedürfnis nach wirtschaftlicher Selbständigkeit.
Wir forderten Pressefreiheit. Als wir sie mit einer ungeahnten Meinungsvielfalt hatten, waren nicht wenige unter uns verunsichert. Wer früher nur skeptisch war, wusste nun, dass er gar nichts mehr glauben konnte. Aus dieser oft widersprüchlichen Vielfalt sich eine eigene Meinung zu bilden war für viele unter uns schwieriger geworden.
Um die Reisefreiheit erleben zu können, bedurfte es einer frei konvertierbaren Währung. Diese aber setzte einen freien Warenaustausch und freie, wettbewerbstüchtige Wirtschaftsstrukturen voraus. Darauf waren wir in keiner Weise vorbereitet. Wir haben erlebt, welchen mühsamen Transformationsprozess der Wirtschaft wir in den letzten 20 Jahren durchleben mussten.
Die runden Tische haben viele als Höhepunkte der Demokratie erlebt. Es gab einen Grundkonsens gegen die Regierung. Als es darum ging, neue Strukturen aufzubauen, mussten die unterschiedlichen Meinungen und Zielvorstellungen in politischen Parteien gebündelt werden.
Damit begann auch für uns die Mühsal der Demokratie. Bei den ersten freien Wahlen lag die Beteiligung weit über 90 %. Dass die errungene Freiheit, bei Wahlen auswählen zu können, während der letzten Jahre nur noch so gering genutzt wird, ist für mich ein Zeichen persönlicher Enttäuschung bei den Wählern. Es muss sicher eine Aufgabe aller Parteien unter uns sein, dafür zu werben, dass dieses Recht in einer freien Gesellschaft stärker genutzt wird, als es in den letzten Jahren der Fall war.
Gegenwärtig ist unsere Demokratie weniger bedroht von extremistischen Wirrköpfen als von der Lethargie und Passivität enttäuschter Demokraten. Es ist unsere Aufgabe, beides ernst zu nehmen.
Viele haben früher das vormundschaftliche Selbstverständnis einer alles reglementierenden Regierung verurteilt. Nicht wenige haben sich danach verlassen gefühlt, als sie sich selbst um jene Dinge kümmern mussten, die früher der ungeliebte Staat entschieden hatte.
Viele - auch ich - haben zum Beispiel die Absolventenlenkungsverordnung als Bevormundung empfunden. Ich habe von keinem Jugendlichen gehört, dass er sie wieder haben möchte. Aber Großeltern beschweren sich gelegentlich noch heute darüber, dass wir als Staat oder als Regierung die jungen Menschen im Stich lassen würden.
Ein Leben in Freiheit muss irgendwie auch erlernt werden. Darüber nachzudenken haben wir uns bisher wahrscheinlich zu wenig Zeit genommen.
Wir wussten natürlich, dass es keine Freiheit völlig ohne Bindungen und Begrenzungen geben kann. Freiheit - das wussten wir - kann niemals bedeuten, dass jeder tun kann, was er will, sondern bestenfalls, dass er nicht tun muss, was er nicht will. Aber Freiheit bedeutet eben, immer selbst entscheiden zu können und zu müssen, was andere nicht mehr für mich entscheiden.
Bereits im Jahr 1941 veröffentlichte der wahrscheinlich wenigen bekannte Sozialpsychologe Erich Fromm ein Buch unter dem Titel „Die Furcht vor der Freiheit“. Nach seiner Analyse führt die Freiheit notwendigerweise zu einem Individualisierungsprozess mit der Auflockerung ursprünglicher Bindungen. Der Mensch wird unabhängiger und damit mehr auf sich selbst gestellt. Damit wächst - bei einigen wenigstens - auch die Angst, die eigenen Probleme nicht mehr lösen zu können.
Nicht jeder Mensch ist in gleicher Weise in der Lage, damit umgehen zu können. Wenn äußere Umstände daran hindern, die gewonnene Freiheit zu nutzen, sind Einsamkeit und Enttäuschung die nahezu logische Folge. Manche - auch unter uns - empfinden das dann als soziale Kälte.
So berechtigt die Freude über die errungene Freiheit auch immer bleiben wird, so sehr müssen wir uns auch an den verantwortlichen Umgang mit ihr gegenseitig erinnern. Wir müssen uns auch deutlich machen, dass damit Risiken und unerwartete Ängste verbunden waren und bleiben werden. Nicht alle waren in gleicher Weise darauf vorbereitet, nicht alle waren den Risiken gewachsen und nicht alle konnten - aus von ihnen nicht verschuldeten Gründen - die neuen Chancen nutzen.
Wir haben in den letzten 20 Jahren sehr viel getan, um Menschen zu helfen, ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit zu führen. Die Ansiedlung von Arbeitsplätzen und die Hilfe bei Arbeitslosigkeit waren in jeder der vergangenen Legislaturperioden die wichtigsten Aufgaben. Aber wir wissen auch, dass wir nicht alle erreicht haben und dass wir nicht allen helfen konnten.
Gegenwärtig erleben wir bei Jugendlichen eine andere Form der Furcht vor der Freiheit. Aus vermutlich unbewusster Angst vor einem selbstbestimmten Leben suchen sie die Kameradschaft in streng hierarchisch organisierten Gruppen. Sie verzichten freiwillig auf die Freiräume eigener Individualität und suchen den Schutz fremdbestimmter Gemeinschaften.
Für uns bedeutet das die Verpflichtung, uns nicht nur unserer errungenen Freiheit zu erfreuen, sondern auch, diese Freude zukünftigen Generationen weiterzuvermitteln, um auch den Risiken der Freiheit gewachsen zu sein, was bedeutet, mit ihr auch schon in jungen Jahren verantwortungsvoll umgehen zu können.
Je mehr sich Menschen von einem Leben in Freiheit überfordert fühlen, umso mehr werden sie jenen vertrauen, die nicht mehr Freiheit, sondern mehr Betreuung versprechen.
Grundlegende Ost-West-Unterschiede bei verschiedenen Befragungsergebnissen - dazu gehören auch Wahlen - sind nur so zu erklären.
In unvorstellbar kurzer Zeit haben wir unsere selbsterrungene Freiheit genutzt, um die beiden Teile unseres Landes in freier Selbstbestimmung wieder zu vereinigen. Wie groß die Vorbehalte einzelner Nachbarländer gegen ein wiedervereinigtes Deutschland damals waren, haben wir erst in den letzten Jahren erfahren. Jetzt erst recht haben wir viele gute Gründe, denen dankbar zu sein, die dies damals in politischer Verantwortung erreicht und möglich gemacht haben. Auch wir, die wir hier sitzen, verdanken ihnen, dass wir heute und hier für unser Land Verantwortung tragen dürfen.
Die erste Aufgabe - wir alle erinnern uns noch daran - war die Anpassung aller Rechtsstrukturen an das Grundgesetz, dessen Freiheitsschutz wir gesucht hatten. Welche Konsequenzen das haben musste, das konnten wir damals auch nur erahnen. Im Rückblick nach 20 Jahren werden wir zugeben müssen, dass wir vielleicht auch mehr hätten wissen können, ohne dass die Schwierigkeiten vermeidbar gewesen wären.
Anfang des Jahres 1990 erschien als Lizenzausgabe für die damals noch bestehende DDR ein Buch von Klaus von Dohnanyi mit dem Titel „Brief an die Deutschen Demokratischen Revolutionäre“. Darin wird deutlich erklärt, dass es keine halbe Freiheit geben kann. Auch wir würden nicht - ich zitiere - „beides gleichzeitig haben können, die Freiheit einer demokratischen Gesellschaft und die Sicherheit und den ruhigen Pulsschlag eines Verteilungsstaates“. Wer Freiheit will, muss auch offen sein für Wettbewerb.
In einem Wettbewerb gibt es nicht immer nur Gewinner. Es wird auch Verlierer geben. Von Dohnanyi schreibt weiter: „Die Freiheit hat eben auch ihren Preis, und er wird manchmal schmerzen.“
Aber auch wenn wir alles vorhergesehen hätten, wir hätten das meiste nicht anders machen können. Es gibt keine prinzipielle Alternative zur offenen Gesellschaft - außer der geschlossenen. Die kannten wir und die wollten wir nicht mehr. Wir wollten in Freiheit leben und waren bereit, uns den Konsequenzen eines Lebens in Freiheit zu stellen. Nur waren wir nicht alle ausreichend darauf vorbereitet.
Was es bedeutet, eine auf Volkseigentum basierende, durch nicht konvertierbare Währung und eine kaum passierbare Mauer abgeschottete Wirtschaftsregion in eine weltoffene, freie Wettbewerbswirtschaft mit einem auch ohne unsere Produktionskapazitäten gesättigten Markt zu überführen, das haben wir in den vergangenen 20 Jahren erlebt.
Die einzige Lehre daraus muss aus meiner Sicht heißen: Nie wieder abschotten und einmauern, sondern weltoffen bleiben und dieses Leben mit gestalten.
Wir müssen eben nicht nur lernen, mit den damit verbundenen Risiken zu leben, wir müssen auch nach Wegen suchen, diese zu beherrschen. Das gilt für das individuelle Zusammenleben ebenso wie für die internationale Zusammenarbeit der Staaten in einer globalisierten Welt. „Die Freiheit“ - um noch einmal Klaus von Dohnanyi zu zitieren - „hat nicht nur schöne Kinder, aber in Unfreiheit ist alles hässlich.“
Der Ihnen allen bekannte Joachim Gauck hat in diesem Jahr seine Erinnerungen veröffentlicht. Darin formuliert er, was wir inzwischen wahrscheinlich alle empfunden haben:
„Die Freiheit als Sehnsucht hatte eine verlockende Kraft. Sie war ungeschmälert schön. Die Freiheit als Wirklichkeit ist nicht nur Glück, sondern manchmal auch Beschwerde.“
Das bedeutet für uns, die Freiheit mit ihren Chancen und Risiken anzunehmen und sie zu gestalten. Die Schwierigkeiten dabei kennen wir inzwischen auch alle. Nicht immer fällt es uns leicht, jenes Maß an Freiheit, das wir für uns beanspruchen, auch anderen zu gewähren. Die Kompetenzverteilung föderaler Staatsstrukturen und die Ausgestaltung des Subsidiaritätsprinzips unseren Kommunen und freien Trägern gegenüber sind der Raum, in dem wir Freiheit gestalten und gewähren können.
Das Bestreben der Landtage nach mehr eigener Entscheidungskompetenz bei der letzten Föderalismusreform ist Ihnen bekannt. Die Sorge vor zu viel eigener Entscheidungskompetenz der Kreistage bei der Mittelverwendung kennen wir ebenfalls.
Als der Dramatiker Peter Hacks 1962 in Berlin sein Stück „Die Sorgen und die Macht“ inszenierte, wurde er heftig kritisiert. Mit künstlerischen Mitteln wollte er deutlich machen, dass man in der Regierungsverantwortung auch nicht aus fürsorglichen Gründen seinen Bürgern die individuellen Freiheiten so sehr beschneiden dürfe. Auch das war damals nicht neu.
„Zutrauen veredelt den Menschen, ewige Vormundschaft hemmt sein Reich“ - mit diesem Satz beginnt die von Freiherrn vom Stein im November 1808 verfasste preußische Städteordnung. Der Satz ist mit Sicherheit auch heute noch richtig. Damit soll deutlich werden, wie in Verantwortung gelebte Freiheit gerade für diejenigen ein immer neuer Balanceakt ist, die die Macht haben, Freiheit zu gewähren oder zu begrenzen.
Wer wie wir alle hier die Aufgabe hat, Ordnungen zu setzen, setzt der Freiheit anderer Grenzen und gibt ihr einen Rahmen. Das bedeutet auch für uns eine besondere Verantwortung für die Freiheit derer, die uns gewählt haben.