Protocol of the Session on November 12, 2009

(Beifall bei der LINKEN)

Jetzt stellt sich die Frage, wie man einem solchen Vertrauensverlust entgegenwirken kann. Wie gesagt: Ich halte die These für falsch, dass wir den Leuten noch einmal richtig erklären müssten, wie das hier alles zusammenhängt. Das ist schon deshalb falsch, weil der Vertrauensverlust umso stärker wird, je größer der Erfahrungsschatz der Menschen in Sachsen-Anhalt mit dem politischen System und mit dessen Akteuren wird.

Das heißt, diese Idee, sie müssten nach der DDR erst einmal lernen, wie sie mit demokratischen Institutionen umgehen sollten, funktioniert nicht; denn dann müssten wir zumindest einen ansteigenden Vertrauensbonus für dieses politische System bekommen - aber nein, wir verlieren an dieser Stelle permanent an Vertrauen. Ich sage ausdrücklich: Spätestens die Beteiligung an den Wahlen für dieses Hohe Haus im Jahr 2006 war dafür ein ganz eindeutiges Indiz.

Bei der Analyse der Ursachen des Vertrauensverlustes helfen uns dann andere Zahlen aus dem SachsenAnhalt-Monitor. Dabei geht es um die Frage, inwiefern die Menschen in Sachsen-Anhalt ihre Probleme und Sichten durch uns repräsentiert sehen. Hierbei hat sich die Situation seit dem Jahr 2007 nicht wesentlich verändert: 71 % sind in Sachsen-Anhalt der Meinung, dass sich die Parteien für ihre Ansichten nicht interessierten. 64 % meinen, dass sich die Politiker nicht um einen engen Kontakt zur Bevölkerung bemühten. 74 % glauben, dass den Politikern egal sei, was die einfachen Leute denken.

Resümierend wird in dem Sachsen-Anhalt-Monitor festgestellt, dass drei Viertel der Bevölkerung Sachsen-Anhalts der Meinung seien, keinen Einfluss auf die politische Willensbildung und auf die politischen Institutionen in diesem Land zu haben - keinen nennenswerten Einfluss auf diese Institutionen, und das, obwohl es freie und geheime Wahlen in diesem Land gibt, obwohl jeder seine politische Meinung äußern kann, obwohl jeder in der Lage ist, sich politisch zu engagieren bzw. in eine Partei hineinzugehen.

Drei Viertel der Menschen sind der Meinung, sie seien davon ausgeschlossen. Sind sie zu dumm? Verstehen sie das System nicht? Verstehen sie die Institutionen nicht? - Nein, ich glaube ausdrücklich, dass das die falsche Diagnose ist. Vielmehr ist es ihre Erfahrung, wie sie in ihrer Reflexion der gesellschaftlichen Realität und der Lösungsvorschläge der Politik damit konfrontiert werden. Das ist außerordentlich ernst zu nehmen.

Wenn man dieses Problem anpacken will, dann muss man die Frage stellen, wo die Ursachen liegen. Unsere Antwort ist, die Ursachen liegen darin, dass zur Nutzung dieser politischen Freiheiten, die bei uns zweifellos garantiert sind, mehr gehört. Es müssen nämlich Voraussetzungen für eine Teilhabe an unserer Gesellschaft erfüllt sein. Dazu gehören materielle Ressourcen, um sich in dieser Gesellschaft beteiligen zu können. Dazu gehört die Möglichkeit, sich zu artikulieren, sich kommunikativ zu vernetzen. Dazu gehören natürlich auch die Bildungsvoraussetzungen, damit der Einzelne seine Sicht auf die Gesellschaft, die von Wettbewerb geprägt ist, wettbewerbsfähig artikulieren und seine Interessen deutlich machen kann.

Das ist aus unserer Sicht die entscheidende Schwachstelle, die zu einem immer weiter gehenden Vertrauensverlust in die politischen Institutionen in diesem Land führt. Wer diesen Vertrauensverlust bekämpfen will, der muss die gesellschaftliche Teilhabe der Menschen organisieren, er muss sie verbessern, um diesen Prozess umzukehren, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der LINKEN)

Deswegen sind soziale Gerechtigkeit und Gleichheit kein Widerspruch zur Freiheit. Nein, sie bedingen einander, sie befruchten einander, sie sind Voraussetzungen füreinander. Deswegen sage ich ausdrücklich: Die Gegenüberstellung, wer mehr Freiheit will, muss auf mehr Gleichheit verzichten, wer mehr Freiheit will, muss auf mehr soziale Gerechtigkeit verzichten, ist falsch und gefährlich.

Ich zitiere aus dem Sachsen-Anhalt-Monitor; darin gibt es ein Kapitel zur DDR-Reflexion, in dem auf Seite 79 steht:

„Andererseits hält sich in der kollektiven Erinnerung ein Bild der DDR, das eine Diktatur mit sozi

alen Zügen darstellt: Man ging menschlicher miteinander um, war gegen die Fährnisse des Lebens besser abgesichert und hatte Teil an staatlichen Segnungen, die gerechter verteilt waren, sowie dabei bessere Bildungschancen, ein leistungsfähigeres Gesundheitswesen und eine bessere Kinderbetreuung, und überdies war ein wirksamerer Schutz gegen Kriminalität und Verbrechen garantiert.“

Jetzt kann man darüber diskutieren, ob sich die Menschen richtig erinnern und ob sie es so sagen dürfen, wie es dort steht. Jeder von uns hat eine andere Meinung dazu. Wir sollten aber zur Kenntnis nehmen, dass sich die Menschen so erinnern und dass sie die Dinge für sich so bewerten.

Dann ist es natürlich richtig, darauf hinzuweisen, dass diese Rahmenbedingungen nur eine Seite des politischen Systems bzw. des gesellschaftlichen Systems der DDR - die Unterschiede zwischen beiden waren nicht so groß - gewesen sind. Die Dinge auf der anderen Seite, zum Beispiel das Fehlen der persönlichen Freiheit, der niedrigere Lebensstandard, das politische System oder das Ausgeliefertsein gegenüber staatlicher Willkür, lehnen die Menschen natürlich klar mit großer Mehrheit ab, weil sie die nicht haben wollten. Ich warne aber ausdrücklich davor, den Verlust solcher Dinge wie besseren Bildungschancen damit begründen zu wollen, dass man sie nur mit staatlicher Willkür erreichen kann. Das halte ich für falsch, das ist gefährlich und dagegen werden wir antreten.

(Beifall bei der LINKEN)

Das ist schon deshalb völlig falsch, weil sich auch die Geschichte der Bundesrepublik anders konstituiert. Auch in dieser war die politische Auseinandersetzung von dem Verhältnis von Freiheit und Gerechtigkeit bestimmt. Ich kann mich beim allerbesten Willen nicht daran erinnern, dass die eindeutig nachweisbare Verbesserung der Bildungschancen in der Bundesrepublik in den 70erJahren durch die Förderung des zweiten Bildungswegs oder durch die deutliche Ausweitung der Zahl von Studienplätzen, was dazu führte, dass andere soziale Schichten studieren konnten, dazu geführt hätte, dass in der Bundesrepublik Deutschland der 70er-Jahre die Freiheit eingeschränkt worden wäre. Dazu sage ich ausdrücklich: Nein, das ist falsch. Das ist kein Zusammenhang, den wir darstellen und behaupten dürfen.

(Beifall bei der LINKEN)

Jetzt sind Sie schon auf ein Problem eingegangen: Das Problem - -

(Herr Scharf, CDU: Wer hat denn das behauptet?)

- Nein. Verstehen Sie doch, Herr Scharf: Wenn man behauptet, die guten Seiten der DDR in der Erinnerung der Leute wie zum Beispiel bessere Bildungschancen hätten sich nur dadurch erreichen lassen, dass eine Diktatur errichtet worden sei, dann ist das falsch. Das ist natürlich eine These, die an verschiedenen Stellen, hier und da behauptet wird.

(Herr Scharf, CDU: Wer vertritt diese These? - Herr Gürth, CDU: Wer denn?)

Dazu sage ich ausdrücklich: Wenn Sie jetzt alle sagen, nein, das sei falsch, dann haben wir einen Konsens, dann sind wir ein Stück weiter, Herr Scharf.

(Herr Scharf, CDU: Den haben wir trotzdem nicht!)

Das Problem in der Reflexion der Bevölkerung von Sachsen-Anhalt besteht darin, dass die Menschen, vor die Wahl gestellt, ob ihnen nun Freiheit oder Gleichheit wichtiger sei, zwar mehrheitlich noch die Freiheit bevorzugen - darauf sind Sie eingegangen, Herr Böhmer -, aber - diese zweite Frage haben Sie nicht vorgelesen, obwohl ich Ihre methodische Kritik übrigens teile - als die Menschen in Sachsen-Anhalt gefragt worden sind, ob ihnen Freiheit oder Sicherheit wichtiger sei, sieht die Situation ein bisschen anders aus: Zwei Drittel der Sachsen-Anhalter wollen, vor die Wahl gestellt, Sicherheit, nämlich 67 %, und nur 26 % Freiheit.

(Herr Miesterfeldt, SPD: Sicherheit, die es gar nicht gibt!)

- Sie können ja sagen, dass das eine irrationale Hoffnung sei, Herr Miesterfeldt, die zwei Drittel der Bevölkerung von Sachsen-Anhalt hätten.

(Herr Miesterfeldt, SPD: Mythos!)

Ich glaube das ausdrücklich nicht; denn - das ist interessant und das muss man dazu sagen - gefragt nach den Strukturen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, der Grundlagen der Demokratie, gibt es eine überwältigende Zustimmung von Menschen in SachsenAnhalt zu dieser Demokratie und zu der grundgesetzlichen Verfasstheit dieser Bundesrepublik. Dieselben Menschen, die die Frage nach den Alternativen Freiheit und Sicherheit so beantworten, wie ich es eben gesagt habe, sind in überwältigender Mehrheit dafür, diese Demokratie und diese grundgesetzliche Verfasstheit der Bundesrepublik zu verteidigen und zu bewahren.

Warum sind sie das? - Weil sie der Meinung sind, dass Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit in diesem politischen System sehr wohl zusammen verwirklichbar sind, dass sie keine Gegensätze darstellen, dass sie einander bedingen.

Übrigens fand vor mehr als 200 Jahren in einem Nachbarland, nämlich Frankreich, eine Revolution nicht unter dem Titel „Freiheit“ statt, sondern unter dem Titel „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Die Erkenntnis, dass diese Dinge zusammengehören, einander bedingen und sich eben nicht ausschließen, ist schon sehr viel älter.

Wir fühlen uns dieser Erkenntnis verpflichtet und verbunden. Wir werden versuchen, die Voraussetzungen für diesen Zusammenhang zu stärken und zu stabilisieren, im Interesse der Menschen in Sachsen-Anhalt

(Zuruf von der CDU)

und im Interesse der Demokratie in unserem Land. - Danke.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Vielen Dank für Ihren Redebeitrag, Herr Gallert. - Wir kommen nun zum Debattenbeitrag der SPD. Die Abgeordnete Frau Budde erhält das Wort. Bitte schön.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich beschränke mich aus gutem Grund nicht auf den 9. November und die Zeit danach. Und ich glaube, es ist auch gut, dass unter der Überschrift der Regierungserklärung unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden.

Ich will eine Aussage an den Anfang stellen, und ich bitte Sie, sie nicht sofort falsch zu verstehen. Wer die Ereignisse von vor 20 Jahren angemessen würdigen will, der wird meistens scheitern, und zwar an der historischen Dimension einer friedlichen Revolution, wie sie in der deutschen Geschichte beispiellos war, an der Dynamik und Komplexität eines Ereignisses, das in der historischen Nachbetrachtung folgerichtig war, aber in der konkreten historischen Situation so überaus überraschend verlief. Er wird ebenso scheitern an den tiefen persönlichen Eindrücken, die jeder für sich mit der Öffnung der Mauer und den Ereignissen des Herbstes 1989 verbindet.

Aber wenn nicht diejenigen diese großartigen Momente in Wort zu fassen versuchen, die sie in Worte fassen können, die damals dabei waren, die auf den Straßen demonstriert haben, die die Protagonisten dieser Revolution waren, die Revolutionäre ohne Waffen, wer sollte es dann tun? - Es ist unsere Pflicht, den nachfolgenden Generationen diese unsere Revolution zu erklären, damit sie ermessen können, wie viel Kraft es gekostet hat, diese Diktatur zu stürzen und das zu erreichen, was wir heute haben,

(Zustimmung bei der SPD)

nämlich ein Leben in Freiheit und Demokratie, ohne Unterdrückung, ohne Stacheldraht und ohne Selbstschussanlagen.

Wenn ich mir den Sachsen-Anhalt-Monitor anschaue, der ausweist, dass der 20. Jahrestag des Mauerfalls für 77 % der Leute ein freudiges Ereignis ist, dass 79 % der Befragten die DDR als Diktatur ansehen, dass diese Einschätzung aber nur von 63 % der 18- bis 24-Jährigen, also nicht einmal von zwei Dritteln, geteilt wird, dann ist offensichtlich, wie bitter notwendig diese Erklärung ist.

(Zustimmung bei der SPD und bei der CDU)

Lassen Sie mich zu Beginn meiner Rede einige aus meiner Sicht grobe historische Fehler ausräumen. Die Herbstrevolution wird in der Regel mit den Worten „Mauerfall“ oder „Wende“ beschrieben. Das ist falsch und grenzt nach meiner Einschätzung fast an Geschichtsfälschung.

(Zustimmung bei der SPD)

Die Mauer ist nicht gefallen; sie wurde umgestoßen, sie wurde eingerissen, sie wurde als letztes und größtes Symbol des Kalten Krieges hinweggefegt, als sie dem Ansturm der vielen Tausend Menschen, die in die Freiheit drängten, nicht mehr standhalten konnte.

(Zustimmung der bei SPD und bei der CDU)

Das gilt für die physische Mauer mit Stacheldraht und Beton, die unter vielen kleinen und großen Hämmern zerbrach; das gilt aber auch und insbesondere für die ideologische Mauer aus Repression und Unterdrückung, die ein System errichtet hatte, das bis zum Schluss den perfekten Menschen formen wollte, anstatt die Menschen so zu nehmen, wie sie sind.

(Zustimmung bei der SPD und bei der CDU)

Daran - das ist meine feste Überzeugung - ist der real existierende Sozialismus am Ende wirklich gescheitert und wird auch jede Diktatur in Zukunft scheitern. Das ist im Übrigen eine Erkenntnis, die einige bis heute noch nicht gewonnen haben, die damals aber hart erkämpft

werden musste und die uns nicht in den Schoß gefallen ist.