Protocol of the Session on September 12, 2008

Für die Aussprache wird die Debattenstruktur C - 45 Minuten Gesamtredezeit - in der Reihenfolge FDP, CDU, DIE LINKE und SPD gewählt. Gemäß § 43 unserer Geschäftsordnung hat jetzt der Antragsteller das Wort. Frau Hampel, Sie können fragen. Bitte schön. Anschließend wird der Minister für Wirtschaft und Arbeit Herr Dr. Haseloff antworten. Dann beginnen wir mit der Debatte.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage der SPD-Fraktion bietet eine gute Gelegenheit, um erneut im Landtag über das Thema Arbeit und Löhne zu diskutieren. Der Landesregierung und den beteiligten Ämtern und Institutionen ist für die umfassende Antwort zu danken, wenngleich doch auffällt, dass in Ermangelung ausreichender Datengrundlagen oftmals keine konkrete, insbesondere auch nach Geschlechtern getrennte Darstellung erfolgen konnte bzw. keine statistischen Angaben für Sachsen-Anhalt vorliegen, sondern oft nur für die ostdeutschen Bundesländer insgesamt.

Dennoch können wir uns mit einem umfangreichen und detaillierten Datenmaterial befassen, das gute Analysen mit, so meine ich, bemerkenswerten und nachdenklich machenden Ergebnissen beinhaltet.

Die SPD-Fraktion hat mit ihrer Großen Anfrage zur prekären Arbeit und Entlohnung in Sachsen-Anhalt eine Basis geschaffen für weitere Diskussionen, für ein Handeln im Bereich der Arbeitsmarktpolitik, auch in Bezug auf die Einführung von Mindestlöhnen.

Sehr verehrte Damen und Herren! Aufgrund der guten wirtschaftlichen Entwicklung Sachsen-Anhalts sind die Arbeitslosenzahlen im letzten Jahr deutlich zurückgegangen. Das ist gut für die Menschen in unserem Land.

Ich denke, dass wir uns alle darin einig sind, dass mit dem Erreichen der niedrigsten Arbeitslosenquote seit dem Jahr 1991 im August dieses Jahres, mit dem kontinuierlichen Anstieg der Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse, mit dem langsamen Absinken der verfestigten Langzeitarbeitslosigkeit und auch mit dem Rückgang der Zahl der Unternehmensinsolvenzen viel Positives erreicht wurde, über das wir uns freuen und auf das wir stolz sind.

Wer allerdings heute immer noch glaubt, dass wirtschaftliches Wachstum und Konjunkturaufschwung bei allen Menschen gleichermaßen ankommen und die Menschen dann auch noch bestenfalls mehr verdienen, mehr Geld im Portmonee haben, der gibt sich einer gehörigen Illusion hin.

Die Menschen in unserem Land stehen nicht nur vor dem Problem der Arbeitslosigkeit, sondern zunehmend auch vor Problemen, wenn sie arbeiten. Über diejenigen, die hart arbeiten und trotzdem noch aufstockende Leistungen vom Staat beziehen, über diejenigen, die für Hungerlöhne arbeiten, über diejenigen, die in den Betrieben zum Teil nicht die gleichen Rechte wie ihre Kollegen haben, und über diejenigen, die gar nicht wissen, was gute Arbeit ist, wollen wir heute reden.

Erlauben Sie mir, kurz auf die allgemeine Lohnentwicklung in Deutschland einzugehen. In einer Studie der Universität Duisburg/Essen ist festgestellt worden, dass der Niedriglohnsektor in Deutschland rasant angewachsen ist. Der Anteil der Geringverdiener lag im Jahr 1995 noch bei 15 %, im Jahr 2006 hingegen schon bei 22 %. Zudem sind die Realeinkommen von Geringverdienern in den letzten Jahren um 14 % gesunken. Das betrifft insgesamt 14 % aller Arbeitnehmer in Deutschland.

Zu den Verlierern dieser Entwicklung zählen nicht nur Minijobber und Teilzeitbeschäftigte, sondern auch Geringverdiener mit klassischen Vollzeitjobs. Besonders bedenklich ist, dass die Niedriglöhne sogar während des jüngsten Konjunkturaufschwungs gesunken sind.

Ebenso bedenklich ist für uns die immer größer werdende Lohnkluft. Die Realeinkommen von Spitzenverdienern sind gewachsen, die von Geringverdienern aber gesunken. Die Umverteilung von unten nach oben hat massiv zugenommen.

Ich will an dieser Stelle keine Neiddebatte beginnen, wohl aber die Fakten benennen, die sich aus der Antwort der Landesregierung auf unsere Große Anfrage ergeben haben.

Jetzt ganz konkret zu der Großen Anfrage. Sie hat zahlreiche Ergebnisse hervorgebracht; die wichtigsten möchte ich herausgreifen. Wir hatten insgesamt 40 Fragen gestellt. Alles kann man in dem Rahmen dieser Aussprache leider nicht unterbringen.

Zu den Fakten: Ostdeutschland ist ein Niedriglohngebiet. Im Osten arbeiten mehr als 40 % und im Westen weniger als 20 % für einen geringen Lohn, das heißt für weniger als zwei Drittel des durchschnittlichen Lohns - wenn es auch blöd ist, dass man an dieser Stelle immer noch die Unterscheidung zwischen Ost und West machen muss; aber wir haben die Fragen in unserer

Großen Anfrage bewusst so gestellt und auch die Antworten so erhalten.

Eine IWH-Studie vom Anfang des Jahres belegt, dass im Osten jeder Fünfte für einen Lohn von weniger als 7,50 € arbeitet, im Westen Deutschlands dagegen nur jeder Zwölfte.

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Schlussfolgerung von Professor Blum, der meint, dass es, gerade weil so viele Menschen von einem Mindestlohn betroffen wären - man könnte auch sagen: profitieren würden -, gefährlich wäre, einen solchen einzuführen. Das hat mich persönlich sehr zum Nachdenken angeregt.

Ich meine, dass diese Sichtweise völlig die negativen Folgen von Niedrigsteinkommen ausblendet, nicht nur für die Betroffenen, sondern auch, wenn man das auf Sachsen-Anhalt bezieht, für die demografische Entwicklung unseres Landes, für die Kommunen angesichts der Kostenbelastung infolge der Aufstockung im Rahmen des SGB II

(Zustimmung von Frau Dirlich, DIE LINKE)

und auch für die am Boden liegende Binnennachfrage.

(Zustimmung bei der SPD)

Niedrige Löhne sind auch 18 Jahre nach der Wende nicht unbedingt ein Standortvorteil.

(Zustimmung von Herrn Graner, SPD)

Ansonsten wäre die Arbeitslosigkeit im Osten nicht doppelt so hoch wie im Westen. Ich verweise auf die Aktuelle Debatte über Henkel in Genthin; die haben wir aber später sowieso noch auf der Tagesordnung.

Weitere Ergebnisse der Großen Anfrage in Kurzform:

Erstens. Die Beschäftigung im Niedriglohnbereich betrifft nicht nur Geringqualifizierte. Mehr als die Hälfte der im Niedriglohnbereich Beschäftigten verfügt über eine Berufsausbildung oder Abitur. Fast 4 % haben sogar einen Fachhochschul- oder Hochschulabschluss. Es ist also mitnichten so, dass nur die Bildungsfernen im Niedriglohnbereich arbeiten. Oftmals wird ja gerade so argumentiert, dass die Bildungsfernen, diejenigen, die - ich sage es jetzt - nicht so schlau sind, im Niedriglohnbereich Arbeit bekämen und ansonsten vielleicht arbeitslos wären. Mit diesem Irrglauben ist jetzt endgültig aufgeräumt worden.

Zweitens. Die Niedriglohnarbeit ist auch nicht zwangsläufig ein Sprungbrett zu einer besser bezahlten Stelle. Jeder dritte Niedriglohnbeschäftigte befindet sich auch nach sechs Jahren in einem geringfügig entlohnten Beschäftigungsverhältnis. Lange gab es die Hoffnung, dass mit den Niedriglohnarbeitsplätzen dauerhaft mehr Arbeitsplätze entstehen würden, und zwar solche, die einfache Arbeiten für Geringqualifizierte verlangen und dann zu einem Sprungbrett in besser bezahlte Jobs werden könnten. Das ist nicht so.

Die Niedriglohnstudie des IAB hat denjenigen, die solche Hoffnungen und Vorstellungen immer wieder äußern, einen glatten Dämpfer verpasst. Niedriglohnjobs sind nun einmal instabil, von kurzer Dauer und führen langfristig nicht zu einer Integration in besser bezahlte Jobs.

Drittens. Die Bedeutung der Leiharbeit hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. - Ich weiß, dass das jetzt ein bisschen anstrengend für diejenigen ist, die hier zu

hören; wir haben sehr viele Zahlen und Fakten präsentiert bekommen. Ich möchte sie aber trotzdem nennen.

Im Jahr 2003 waren in Sachsen-Anhalt rund 8 500 Personen bei Leiharbeitsfirmen beschäftigt. Diese Zahl stieg im Jahr 2007 auf mehr als 20 000 an. Die Leiharbeitsquote erhöhte sich von 1,1 % auf 2,8 %. Die Leiharbeit wuchs damit in Sachsen-Anhalt stärker als in Gesamtdeutschland, wo sie nur auf 2,4 % stieg.

Auch die Anzahl der Leihfirmen ist deutlich gestiegen, und zwar in den Ländern Sachsen-Anhalt und Thüringen von 411 im Jahr 2000 auf 732 im Jahr 2007. Es sind jetzt fast doppelt so viele.

Wir, die SPD-Fraktion, wollen die Leiharbeit nicht verdammen. Sie hat ihre Berechtigung dort, wo sie von der Wirtschaft eingesetzt wird, um Auftrags- und Produktionsspitzen abzufedern. Wir haben aber sehr wohl etwas dagegen, wenn sie systematisch eingesetzt wird, um Stammpersonal zu ersetzen und unterschiedliche Rechte zwischen den Beschäftigten zu schaffen. Auch das war erst vor Kurzem Thema im Landtag.

(Zustimmung von Frau Fischer, SPD)

Ich denke, wir haben dazu schon ausführlich berichtet. Hierzu sagen wir ganz klar: gleiches Recht und gleiches Geld für gleiche Arbeit!

(Beifall bei der SPD und bei der LINKEN)

Viertens. Ein bedrückender Fakt, der uns alle aufgeschreckt hat - - Ich glaube, auch Herrn Franke von der FDP. Sie haben sich erschrocken gezeigt über die sehr hohe Zahl von 67 000 Personen in Sachsen-Anhalt, die nicht vom Lohn ihrer eigenen Arbeit leben können.

(Zuruf von Herrn Franke, FDP)

Die zum Teil sehr niedrigen Löhne, die in SachsenAnhalt in bestimmten Branchen gezahlt werden, führen dazu, dass im September 2007 - das ist die letzte verfügbare Zahl - 76 300 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte zusätzlich noch aufstockende Leistungen nach dem SGB II bezogen haben. Davon gingen über 47 000 Personen einer Vollzeitbeschäftigung nach. Hierbei handelt es sich also um Personen, die ganztags arbeiten, deren Lohn für sie und ihre Familie aber noch nicht zum Leben ausreicht.

Die „Volksstimme“ hat in ihrem Kommentar zu Recht von einer skandalösen Zahl gesprochen. Ich glaube mich erinnern zu können, dass die Meinungen aller Fraktionen hierzu gleich ausfielen.

Fünfter Punkt. In zahlreichen Branchen in SachsenAnhalt sind Niedrigstlöhne Alltag. Sie erinnern sich alle an die der Antwort auf die Große Anfrage beigefügte Tabelle. Dieser konnte man entnehmen, dass insgesamt 34 Tarifverträge Bruttostundenlöhne unter 7,50 € auswiesen. Die Spanne reicht von 3,82 €, die für das Konditorenhandwerk gelten - ich will sie jetzt nicht alle aufführen -, bis zu 7,50 €, die im Malerhandwerk gezahlt werden.

Sechster Punkt. Die Tarifbindung wird immer löchriger. Die Tarifbindung in Sachsen-Anhalt hat deutlich abgenommen. Im Jahr 2000 sind noch 51 % der Beschäftigten nach einem Branchentarifvertrag entlohnt worden, im Jahr 2007 hingegen nur noch 40 %. In Westdeutschland sind es immerhin noch 56 %, die nach einem Branchentarifvertrag bezahlt werden.

Welche Schlussfolgerungen zieht die SPD-Fraktion aus dem Ergebnis der Großen Anfrage? - Wir sind zu der Einschätzung gelangt, dass wir eine verbindliche Lohnuntergrenze brauchen.

(Beifall bei der SPD und bei der LINKEN - Herr Gürth, CDU: Das findet die CDU auch! Dazu sind die Tarifparteien aufgerufen! - Zuruf von Herrn Gallert, DIE LINKE)

Prekäre Arbeitsplätze, zunehmendes Lohngefälle, zunehmende Lohnspreizung sind das Ergebnis bröckelnder Tarifautonomie.

(Zuruf von Herrn Gürth, CDU)

- Herr Gürth, ich würde mich freuen, wenn Sie gemeinsam mit den Gewerkschaften nach Lösungen für dieses Problem suchen könnten.

(Beifall bei der SPD und bei der LINKEN - Herr Gürth, CDU: Das mache ich schon seit Jahren!)

Der Niedriglohnsektor muss deutlich eingedämmt werden, seine Verfestigung muss vermieden und es müssen seine negativen Rückwirkungen auf die Beschäftigungs-, Finanz- und Einkommenssituation ausgeschlossen werden.

Dort, wo Leiharbeit als flexibles Arbeitsmarktinstrument missbraucht und die Rechte von Leiharbeitern systematisch beschnitten werden, muss dem Einhalt geboten werden. Es muss klar sein, dass durch Leiharbeit die Stammbelegschaften nicht ersetzt werden können und dürfen. Es muss klar sein, dass Leiharbeiter nicht nur auf dem Papier die gleichen Rechte haben.

Last, but not least: Wir brauchen in Deutschland Mindestlöhne.