Protocol of the Session on January 25, 2008

Dem Jugendstrafrecht liegt der Erziehungsgedanke zugrunde. Daran darf nicht gerüttelt werden; im Gegenteil, er sollte ausgebaut werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Es ist ein gefährlicher Aberglaube, mit härteren Strafen dem Problem beikommen zu wollen. Viel zu selten wird momentan die Frage gestellt, wie es dazu kommt, dass junge Menschen so genannte kriminelle Karieren einschlagen, also die Frage nach dem Warum, die Frage nach der Prävention.

Stellt man sich dieser Frage, wird nämlich sehr schnell deutlich, dass wir vor einem politischen und gesellschaftlichen Kraftakt stehen. Zwei wichtige Faktoren will ich benennen: es sind die soziale Situation bzw. die gesellschaftliche Integration und der Bildungsgrad. Es sei zudem betont, dass nun hinlänglich bekannt ist, dass beides gerade in Deutschland in einem engen Zusammenhang steht, und zum anderen, dass vor allem nichtdeutsche Kinder und Familien in zum Teil schwierigsten sozialen Verhältnissen leben und aufwachsen und sich besonders oft den schlechtesten Bildungsperspektiven ausgesetzt sehen.

Meine Damen und Herren! Wenn wir es weiter zulassen, dass die Gruppe der Menschen ständig wächst, die sich an oder unterhalb der Armutsgrenze bewegen und sich, nicht zuletzt daraus resultierend, wachsender gesellschaftlicher Ausgrenzung erwehren müssen, verlieren wir die Legimitation, gleichzeitig steigende Frustration und Gewaltbereitschaft zu beklagen. Es ist dringend Umkehr geboten. Der gesellschaftlichen Ausgrenzung muss Integration entgegengesetzt werden.

Ich will Ihnen an dieser Stelle zum Schluss ein Zitat von Kafka nicht vorenthalten. Er schrieb:

„Wir fünf haben früher einander auch nicht gekannt, und wenn man will, kennen wir einander auch jetzt nicht. Aber was bei uns fünf möglich ist und geduldet wird, ist bei jedem Sechsten nicht möglich und wird nicht geduldet. Außerdem sind wir fünf und wir wollen nicht sechs sein. Wie soll man das alles aber dem Sechsten beibringen? Lange Erklärungen würden schon fast eine Aufnahme in unseren Kreis bedeuten. Wir erklären lieber nichts und nehmen ihn nicht auf.“

Meine sehr verehrten Damen und Herren! In diesen Tagen ist wieder viel die Rede von Werten und Prinzipien. Lassen Sie uns zunächst über die unsrigen reden. Bewähren müssen sie sich nicht an Feiertagen, bewähren müssen sie sich in Konflikten im Alltag. - Herzlichen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich danke Herrn Höhn für die Einbringung. - Für die Landesregierung erteile ich jetzt Frau Ministerin Professor Dr. Kolb das Wort. Bitte schön.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Die beiden größten Feinde guten Rates sind Raschheit und Zorn, von denen das eine gern bei der Torheit verweilt und das andere bei Unbildung und raschen Gedanken.“ Diese beinahe zeitlose Feststellung, die auch für viele aktuelle Diskussionen sowohl im politischen als auch im Gesellschaftsleben passt, ist vor fast 2 400 Jahren von dem Begründer der politischen Geschichtsschreibung Thukydides im vierten Jahrhundert vor Christus getroffen worden, und sie gilt auch und insbesondere, wenn wir uns mit dem Thema Jugendkriminalrecht befassen; denn dieses Thema ist zu ernst, zu wichtig und auch zu komplex, um mit scheinbar einfachen Erklärungsmustern und Lösungsmodellen zu agieren.

(Beifall bei der SPD und bei der LINKEN)

Dass wir in diesem Hohen Hause sehr verantwortungsbewusst mit diesem Thema umgehen können, haben wir zuletzt bei den Beratungen zum Jugendstrafvollzugsgesetz bewiesen, welches wir nach einer sachorientierten Diskussion und mit im Grundsatz großer Einmütigkeit im Dezember 2007 in diesem Hohen Haus verabschiedet haben.

Meine Damen und Herren! Es scheint in gewisser Hinsicht das Schicksal von bestimmten Debatten gerade um das Jugendstrafrecht zu sein, wie das Ungeheuer von Loch Ness gleichsam saisonbedingt auf- und dann wieder abzutauchen. Meist sind es spektakuläre Vorfälle, die zu Diskussionen über das Jugendstrafrecht herausfordern. Ich erinnere nur den Fall Mehmed Ende der 90er-Jahre in Süddeutschland und aktuell an die schreckliche Gewalttat in der U-Bahn in München.

Wir sollten uns aber nicht durch spektakuläre Einzelfälle diesem wichtigen Thema nähern. Das kann sehr schnell den wichtigen und notwendigen Blick auf das Gesamtbild der Jugendkriminalität verstellen.

Unser Jugendstrafrecht beruht auf der zutreffenden Erkenntnis, dass Jugendkriminalität sehr häufig eine vorübergehende und temporäre Erscheinung in der Entwicklung einer noch nicht gefestigten Persönlichkeit ist. Diese Persönlichkeit wieder auf den richtigen Weg zu bringen, das ist der Kerngedanke des Jugendstrafrechtes. Deshalb soll die Strafe in der Regel durch Erziehungsmaßnahmen ersetzt werden, die aber Ausnahmen in Gestalt des Jugendarrestes als tatbezogenen Ordnungsruf ebenso vorsieht wie die Jugendstrafe in schweren Fällen.

Dabei ist unser Jugendstrafrecht flexibel ausgestaltet und gibt Jugendrichterinnen und -richtern sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälten durchaus breite Handlungsspielräume, um sowohl bezogen auf den individuel

len Fall als auch bezogen auf bestimmte neue gesellschaftliche Entwicklungen und Hintergründe sowie neue Erkenntnisse aus Wissenschaft und Praxis bei der Beurteilung der Jugendkriminalität zu reagieren.

Aber vor allem bildet das Jugendstrafrecht mit dem ebenfalls vom Erziehungs- und Resozialisierungsgedanken getragenen Jugendstrafvollzugsgesetz unseres Landes und mit dem Jugendhilferecht ein verzahntes und aufeinander abgestimmtes Regelsystem des Jugendrechtes, das Hilfen, Erziehung und Resozialisierung von straffällig gewordenen und gefährdeten Jugendlichen und Heranwachsenden in den Vordergrund stellt.

Aber - um es auch deutlich zu sagen - dies schließt natürlich Änderungen und Anpassungen dieser Regelwerke und des bestehenden Sanktionenkataloges nicht aus. Im Gegenteil: Es ist unsere gemeinsame Verantwortung gegenüber den Heranwachsenden und Jugendlichen einerseits, aber auch gegenüber der Gesellschaft insgesamt und hier insbesondere gegenüber den Opfern andererseits, über die Regelungen nachzudenken, sie auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen und sie anhand praktischer Problemfälle und -felder zu diskutieren und weiterzuentwickeln.

Das gilt insbesondere im Hinblick auf den Opferschutz, den ich bisher bei den bestehenden Regelwerken noch nicht erwähnt habe. Auch hierbei sehe ich im Moment Handlungsbedarf. Das Justizressort ist dabei, in diesem Jahr einen Opferschutzbericht zu erstellen, hierin genau zu beschreiben, welche Handlungsnotwendigkeiten bestehen, um Opfern im Strafverfahren bestimmte Erleichterungen zu verschaffen.

Insofern ist die jetzt geführte Diskussion notwendig und richtig. Ich plädiere allerdings für eine sorgfältige Prüfung anstelle von aufgeregten Debatten oder Schnellschüssen.

Meine Damen und Herren! Erfordernisse, Änderungen im Jugendstrafrecht vorzunehmen, können sich beispielsweise aus der so genannten Lage der Jugendkriminalität ergeben, wie auch aus den Erfahrungen der Praxis mit dem bestehenden Regelwerk sowie neuen Erkenntnissen der Wissenschaft. Auskunft über die aktuelle Lage gibt uns die polizeiliche Kriminalstatistik des Bundes und des Landes, die das so genannte Hellfeld der Jugendkriminalität abbildet.

Beide Statistiken zeigen zunächst einmal, dass der nackte Befund in den letzten Jahren keinen gravierenden Anstieg von Jugendtatverdächtigen ausweist. In Sachsen-Anhalt geht die Zahl der Jugendtatverdächtigen seit dem Jahr 1998 sogar kontinuierlich zurück, ein Befund, der vor allem deshalb wichtig ist, weil es im täterorientierten Jugendstrafrecht maßgeblich auf die Entwicklung der Täterzahlen ankommt.

Leichte Steigerungen gibt es bundesweit wie in unserem Land bei den von Jugendtatverdächtigen verübten Gewaltdelikten, namentlich bei den Körperverletzungen. Aber dies - das ist der zweite Befund - gilt nicht nur für das Jugendstrafrecht. Gewaltdelikte haben generell, das heißt auch bei den Erwachsenen, in den letzten Jahren zugenommen. Es gibt also hierbei im Bereich der Jugendkriminalität keine besondere Entwicklung.

Problematisch - das darf an dieser Stelle nicht verschwiegen werden - bleiben in Sachsen-Anhalt wie auch in anderen Ländern nach wie vor die so genannten Mehrfach- und Intensivtäter. Auf die Intensivtäter - das

sind diejenigen, die in einem Kalenderjahr mehr als neun Straftaten verübt haben - mit einem Tatverdächtigenanteil von 3 % gehen mehr als 30 % aller Jugenddelikte zurück. Das heißt, 30 % aller Delikte werden von einer Tätergruppe von 3 % verübt.

Die Landesregierung hat hierauf bereits frühzeitig reagiert. Im Jahr 2004 ist ein Konzept in die Praxis umgesetzt worden, ein Intensivtäterkonzept, mit dem ein Netzwerk von Polizei, Staatsanwaltschaften und Jugendämtern aufgebaut worden ist und insbesondere auf die Verzahnung von Präventions- und Repressionsmaßnahmen abgestellt wird, das auf eine stärkere Kommunikation zwischen den Beteiligten ausgerichtet ist und mit dem, bezogen auf die jeweilige Täterpersönlichkeit, versucht wird, den Betreffenden aus der Spirale der Kriminalität wieder herauszulösen.

Meine Damen und Herren! Es ist nicht in Abrede zu stellen: Es gibt gravierende Erscheinungsformen von Jugendkriminalität auch im Bereich der Gewaltdelikte. Es gibt vor allem regionale, stadtteilbezogene Problembereiche. Diese lassen sich aber grundsätzlich mit dem vorhandenen Instrumentarium bewältigen, was allerdings nicht ausschließt, über Weiterentwicklungen nachzudenken, hierbei insbesondere über Handlungsmöglichkeiten im Vorfeld des Strafrechtes. Denn die Ursachen dieser Entwicklungen liegen nicht allein im Jugendstrafrecht. Polizei und Justiz sind in der Regel das letzte Glied einer langen Kette von Fehlentwicklungen, Versäumnissen und falschen Weichenstellungen. Wenn sie einschreiten müssen, ist das Kind eigentlich schon in den Brunnen gefallen.

(Zustimmung bei der SPD und von Herrn Kurze, CDU)

Wer Jugendkriminalität effektiv bekämpfen will, muss auch über Maßnahmen der Prävention und der gezielten und vernetzten Jugendarbeit nachdenken. Es muss - ganz wichtig - über die Nachsorge für haftentlassene Jugendliche nachgedacht werden. Das machen wir nicht erst in den letzten Wochen. Wir haben nicht zuletzt mit dem Jugendstrafvollzugsgesetz die Grundlagen dafür gelegt, das Nachsorgemanagement zu verbessern. Wir haben gerade in der letzten Woche im Rechtsausschuss ein neues Konzept „Zebra“ vorgelegt, um zentrale Stellen für die Haftentlassenenvorsorge einzurichten, um den Betroffenen nach der Haftentlassung zu ermöglichen, ein straffreies Leben zu führen. Denn wer Jugendliche in die alten kriminellen Milieus entlässt, darf sich nicht über Serientäter wundern.

Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich nun noch kurz auf einige der derzeit diskutierten Vorschläge zu Änderungen im Jugendstrafrecht eingehen, die zum großen Teil in der Vergangenheit in der Praxis wie auch in der Wissenschaft erörtert worden sind.

Ein Herabsetzen der Strafmündigkeit vom 14. auf das zwölfte Lebensjahr lehne ich grundsätzlich ab.

(Beifall bei der SPD und bei der LINKEN)

Dabei sehe ich mich auch in Übereinstimmung mit meinen Kolleginnen und Kollegen Justizministerinnen und Justizministern in anderen Ländern, die das in einem Jumiko-Beschluss im letzten Jahr zum Ausdruck gebracht haben. Ich denke, dass wir hierbei mit den Regelungen des Jugendhilfe- und Familienrechts gerade im Hinblick auf die präventiven Netzwerke mehr erreichen

können, als wenn wir Kinder kriminalisieren und dem Irrglauben unterliegen, dass man sie in einer Jugendanstalt bessern könnte.

(Zustimmung bei der SPD und bei der LINKEN)

Wenn zwölfjährige Kinder auffällig werden, dann müssen wir auch an die Eltern heran, Erziehungshilfen geben, aber, wie gesagt, die Kinder nicht in Justizvollzugsanstalten stecken.

Ebenfalls eine ablehnende Haltung habe ich gegenüber den so genannten Erziehungscamps nach amerikanischem Muster, die von einigen Politikern als die Lösungsmöglichkeit für besonders gewalttätige Jugendliche vorgeschlagen worden sind.

(Herr Gürth, CDU: So schlimm finde ich das gar nicht!)

Abgesehen davon, dass vor dem historischen Hintergrund von Jugendschutzlagern in der NS-Zeit eine kritische Betrachtung angebracht ist, sehe ich hierbei auch keinen besonderen Gewinn beim Rechtsgüterschutz. Ich denke, das, was an Notwendigkeiten besteht, können wir in unserer Jugendanstalt gewährleisten, sodass es hierfür neuer Einrichtungen nicht bedarf.

Allerdings unterstütze ich nachdrücklich die Diskussion über neue Formen von Erziehungs- und Lebenshilfeeinrichtungen für straffällige und gefährdete Jugendliche. Dies ist angesichts der zunehmenden Erziehungsunfähigkeit in der Gesellschaft, meist gekoppelt mit sozialen Ausgrenzungs- und Integrationsproblemen, sehr wichtig.

(Zustimmung bei der SPD und von Herrn Gallert, DIE LINKE)

Diese Diskussion wird auch über den Justizbereich hinaus zu führen sein und Antworten von Politik und Gesellschaft darauf erfordern, inwieweit wir bereit sind, dafür auch personelle und finanzielle Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Ich weiß aber auch, was jetzt manche denken: Der Schutz unserer Bürgerinnen und Bürger darf nicht auf eine Geldfrage reduziert werden, zumal ein frühzeitiges Gegensteuern mit effektiven Maßnahmen meist preisgünstiger ist, als später teure Jugendstrafen zu verhängen.

Die Frage der Beurteilung von Heranwachsenden nach dem Jugendstrafrecht oder nach dem Erwachsenenstrafrecht ist in Wissenschaft und Praxis umstritten und bedarf aus meiner Sicht der weiteren Diskussion.

(Zustimmung von Herrn Stahlknecht, CDU)

Die Rechtsprechung wendet überwiegend - im Durchschnitt sind das bis zu 90 % - das Jugendstrafrecht an. Wenn man sich das näher ansieht, dann stellt man fest, dass es erhebliche regionale Unterschiede, ein NordSüd-Gefälle gibt.

Meine Damen und Herren! Eine regionalisierte Anwendung von Jugendstrafrecht ist weder akzeptabel noch nachvollziehbar. Insoweit sollte noch einmal darüber nachgedacht werden, inwieweit dieses Instrumentarium wirklich sinnvoll und verantwortungsvoll angewandt werden kann.

Die Ursachen für die Unterschiede liegen unter anderem in den unbestimmten Rechtsbegriffen. Im Gesetz ist von Jugendlichen und von Jugendverfehlung die Rede. Das gibt den Jugendrichtern einen breiten Beurteilungsspielraum, der teilweise nur mithilfe von Sachverständigen

erschlossen und ausgefüllt werden kann. An dieser Stelle ist möglicherweise zu prüfen, inwieweit gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht.

Demgegenüber erscheint mir eine Anhebung der Höchststrafe im Jugendstrafrecht auf 15 Jahre nicht geboten. Ich glaube, wir sollten nicht dem Irrglauben unterliegen und den Bürgerinnen und Bürgern die scheinbare Sicherheit vorgaukeln, dass sich ein betrunkener Jugendlicher von einer Gewalttat abschrecken lässt, weil die bisher zehnjährige Höchststrafe gesetzlich auf 15 Jahre angehoben wurde. Damit kann dem Opferschutz sowie dem berechtigten Anliegen der Bürgerinnen und Bürgern nach einer höheren Sicherheit nicht Rechnung getragen werden.