Protocol of the Session on January 24, 2008

(Zuruf von Herrn Kosmehl, FDP)

Institutionen und Entscheidungsprozesse müssen demokratischer, transparenter und unbürokratischer werden. Die Menschen sollten europäische Politik auf der europäischen Ebene und in ihren Heimatländern stärker mitgestalten können. Nur dann kann die EU auch weltweit die Forderung nach Demokratisierung des politischen und wirtschaftlichen Lebens erheben.

Nach dem Motto „Lieber spät als nie“ ermöglicht ein bundesdeutscher Volksentscheid über den Vertrag von Lissabon, dass sich die Bürgerinnen und Bürger darüber informieren können, ob die in dem Vertrag formulierten Inhalte über die künftigen Grundsätze und die Organisation der EU ihren Vorstellungen tatsächlich entsprechen.

Deshalb soll sich die Landesregierung im Bundesrat für eine entsprechende Grundgesetzänderung einsetzen, damit ein Volksentscheid möglich wird. Dazu könnte Artikel 23 des Grundgesetzes um eine Regelung zur Durchführung von Volksentscheiden über die vertraglichen Grundlagen der EU ergänzt werden. Eine solche Ergänzung haben im Bundestag Rot-Grün in der 14. Wahlperiode und die FDP in der vergangenen Wahlperiode gefordert.

Damit der schwer lesbare Vertrag von Lissabon - das gebe ich gerne zu - überhaupt verständlich wird, müssten die Änderungen zum bisher gültigen Nizza-Vertrag mit erfasst werden und müsste der Vertrag in entsprechender Auflage verteilt werden. So stellt sich das sicher auch die Landesregierung vor, wenn sie den Text bekannt machen will. Oder sind es dann doch nur Interes

sierte, die an der Veröffentlichung im „WWW“ Interesse zeigen?

Der Vertrag von Lissabon ist der weitreichendste EUReformvertrag in der 50-jährigen Geschichte der EU. Er steht rechtlich über dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, enthält aber im Gegensatz zu diesem keine Verpflichtung auf das Sozialstaatsprinzip nach Artikel 20 des Grundgesetzes oder die Sozialpflichtigkeit des Eigentums nach Artikel 14 des Grundgesetzes.

Über ein so weitreichendes Projekt wie den Vertrag müssen die Bürgerinnen und Bürger informiert sein und abstimmen können. Jürgen Habermas schreibt zu Recht in der „Zeit“ vom 29. November 2007 - ich zitiere -:

„Die Europapolitik ist an Wendepunkten des Einigungsprozesses noch niemals so unverhohlen elitär und bürokratisch betrieben worden wie dieses Mal. Die Regierungen müssten über ihren Schatten springen und den eigenen Bürgern die Chance geben, in einem Referendum über die Zukunft Europas zu entscheiden.“

Sie sehen, meine Damen und Herren, das mit den Eliten war nicht von mir.

Der Vertrag von Lissabon beinhaltet im Vergleich zum derzeit gültigen Nizza-Vertrag leichte Verbesserungen: Das Europaparlament bekommt mehr Befugnisse - das ist richtig -, erhält aber weiterhin keine Gesetzgebungskompetenz. Die Grundrechtecharta ist verbindlich, aber nicht Bestandteil des Vertrages. Eine kostenfreie Grundrechtsbeschwerdemöglichkeit fehlt. Die nationalen Parlamente werden stärker einbezogen und es soll ein Bürgerbegehren geben können.

Die eigentliche Krise, in der sich die EU aus unserer Sicht befindet, vermag dieser Vertrag jedoch nicht zu lösen, solange er nicht den Interessen der Bürgerinnen und Bürger entspricht.

An der Grundrichtung der Europäischen Union ändert sich indes nichts. Mit diesem Vertrag wird die EU nicht friedlicher, sozialer oder wesentlich demokratischer. Wir finden: im Gegenteil. Das neoliberale Wirtschaftssystem - Herr Kollege Kosmehl, Sie haben mir das ja schon mehrmals definiert -, das zugunsten eines offenen Wettbewerbs die staatliche Steuerung und soziale Mindeststandards aufhebt, wird festgeschrieben. Ich betone noch einmal: Nokia verhält sich nur konform zur Lissabon-Strategie. Sie sind auf ihren Gewinn ausgerichtet und die Arbeitskräfte stehen dann tatsächlich im Regen

(Herr Kosmehl, FDP: Das stimmt doch überhaupt nicht!)

und werden mit bundesdeutschen Maßnahmen wieder aufgefangen.

(Herr Kosmehl, FDP: Ach so!)

Eine Sozialunion ist nach dem Vertrag von Lissabon nicht vorgesehen.

Die Mitgliedstaaten werden zum schrittweisen Ausbau ihrer militärischen Kapazitäten verpflichtet. Deswegen unsere Kritik, dass die EU nicht friedlicher wird. Dies wird deutlich durch die Verteidigungsagentur, die bereits tätig ist, obwohl der Vertrag noch nicht ratifiziert worden ist, durch Battlegroups oder durch die Steigerung der Militärausgaben.

Als Beispiel: Der vor kurzem beschlossene Bundeshaushalt für das Jahr 2008 hat bei den Rüstungsausgaben

die stolze Höhe von 30 Milliarden €. Das ist der drittgrößte Haushalt. Die Gesundheitsministerin kann lediglich über 3 Milliarden € verfügen. Darin liegt das Problem. Die Menschen vor Ort haben natürlich erst einmal ihre Gesundheit im Kopf. Das mit dem Sicherheitsgefühl ist ja so eine Sache. Wenn wir mehr Sicherheit projizieren, um der wachsenden Terrorgefahr entgegenzutreten, dann bedarf es wieder Gegenmaßnahmen, die wieder Geld kosten, und die Spirale dreht sich dann tatsächlich immer weiter. Wir finden auch, dass der Vertrag die strenge Bindung an die UN-Charta auflöst.

Das Europäische Parlament erhält zwar mehr Befugnisse; aber wir hatten wirklich eine Gesetzgebungskompetenz angestrebt. Das ist nicht der Fall. Das Europaparlament hat leider keine Mitsprache in der Außen- und Sicherheitspolitik. Auch die Europäische Zentralbank unterliegt nicht der direkten Kontrolle durch das Parlament. In der Innen- und Justizpolitik erfolgt eine Zentralisierung der Polizei und der Staatsanwaltschaft durch Europol und den europäischen Staatsanwalt. Auch dies unterliegt dann nicht der Kontrolle durch die nationalen Parlamente oder durch das Europäische Parlament.

Das im Vertrag vorgesehene Bürgerbegehren ist kein Bürgerentscheid, sondern würde mit einer Million Unterschriften die EU-Gremien lediglich zu der Befassung mit einem Problem auffordern.

Sollte sich die Landesregierung mit ihrem Vorstoß für eine Grundgesetzänderung zur Einführung von Volksentscheiden, was äußerst wünschenswert wäre, nicht durchsetzen können, dann fordern wir die Landesregierung hiermit auf, diesen Vertrag im Bundesrat abzulehnen. - Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN - Herr Borgwardt, CDU: Das ist wirklich ein starkes Stück!)

Danke sehr für die Einbringung. - Für die Landesregierung spricht Staatsminister Robra. Bitte sehr, Sie haben das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Czeke, das mit dem Volksentscheid habe ich wenigstens noch nachvollziehen können als Anliegen der LINKEN, das in den vergangenen Jahren, seit wir die Konventsdebatten führen, stetig wiederholt worden ist. Aber warum Sie dieses wirklich hart errungene Ergebnis von Lissabon, dem 27 Mitgliedsstaaten jedenfalls auf der Ebene der Regierungen nach zähem Ringen zugestimmt haben, dadurch gefährden wollen, dass sie uns auffordern, im Bundesrat für Deutschland insgesamt den Vertrag abzulehnen, kann ich beim besten Willen nicht nachvollziehen.

(Zustimmung von Herrn Miesterfeldt, SPD)

Was wir hier erlebt haben, war ein kleinliches Herummäkeln an einzelnen Regelungen des Gesamtvertrages, der sehr komplex ist; das steht außer Frage. Sie haben aber nicht eine tragfähige Begründung dafür geliefert, warum das Ganze abgelehnt werden soll.

(Zustimmung bei der CDU und bei der SPD)

Wissen Sie, es ist aus meiner Sicht schon mehr als peinlich, dass es in Europa zwei Kräfte gibt, die den Vertrag von Lissabon ablehnen wollen: Das ist die vereinigte

europäische Linke vom Europäischen Parlament bis - wie wir eben erleben konnten - in die Landesparlamente hinein auf der einen Seite und das sind die Ultranationalisten auf der anderen Seite.

(Herr Miesterfeldt, SPD: Das ist nichts Neues! - Unruhe bei der LINKEN)

Wie sich das konkret abbildet und wie sich das dann möglicherweise in einer Agitationskampagne auch im Rahmen eines Volksentscheides abbilden würde, das können Sie in den Protokollen der Landtage von Mecklenburg Vorpommern und Sachsen nachlesen. Da sind von rechts außen Thesen und Standpunkte vertreten worden, mit denen ich mich nicht einmal mehr vom Grundanliegen der Ablehnung her im selben Boot befinden möchte.

(Frau Bull, DIE LINKE: Da sitzen Sie im Glas- haus, Herr Kollege!)

Das ist Ihr Problem und nicht das unsere. Da muss man wirklich einmal sehen, mit wem man in einem Boot sitzt und wie man das am Ende noch durchargumentieren will auf allen Achsen der Thematik.

(Beifall bei der CDU und bei der SPD)

Würden Sie Fragen von Herrn Gallert und von Frau Dr. Klein beantworten?

Das mache ich gleich, im Anschluss daran.

Die Landesregierung ist in der Bewertung des Vertrages von Lissabon nicht allein, sondern alle Landesregierungen vertreten dazu denselben Standpunkt. Es gibt dazu Beschlüsse der Europaministerpräsidentenkonferenz, die wir federführend erarbeitet haben. Es gibt dazu Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz. Es gibt dazu auch einen Beschluss des Bundesrates inhaltlicher Natur. Das ist alles nachlesbar.

Die Landesregierung ist der festen Überzeugung, dass der Vertrag von Lissabon ein großer Erfolg ist - im Wesentlichen noch der deutschen Präsidentschaft, in der fast alle Probleme abgeräumt wurden - und dass wir mit diesem Vertrag mehr Subsidiarität, mehr Legitimation, mehr Transparenz und mehr Handlungsfähigkeit bekommen, und zwar nach innen und nach außen; es ist richtig, dass wir in Europa mehr Verantwortung auch nach außen übernehmen. Das wollen wir gern dadurch sichern, dass wir den Vertrag ratifizieren werden. Alle 16 Bundesländer sind sich darin einig, dass wir am 15. Februar 2008 im Bundesrat dem Vertrag mit größter Einmütigkeit zustimmen werden.

Wir wollen - das ist in der Tat richtig wiedergegeben worden - in den Mittelpunkt der Kommunikationsstrategie der Landesregierung das Werben für den Vertrag stellen, wir wollen auch die Inhalte des Vertrages kommunizieren und wir wollen das mit langem Atem so anlegen, dass uns das Ganze sinnvoll zur Europawahl im Juni 2009 hinführt.

Herr Czeke, das wird dann der eigentliche Lackmustest werden, natürlich auch zu dem Vertrag; insofern gebe ich Ihnen völlig Recht. Wir haben, wenn man so will, ein Plebiszit zu Europa und das ist die Europawahl im Ju

ni 2009. Wir sollten alles dafür tun, dass die Wahlbeteiligung hoch ist, dass die demokratischen Kräfte, die Europa tragen, dann eine große Unterstützung erfahren und dass die Ultranationalisten, gerade auch in Deutschland, wegen ihrer zum Teil widerwärtigen Agitation eine Absage bekommen.

Nur am Rande sei angemerkt: Diese Wortspiele, die sich letztlich darauf stützen, dass wir rein zufällig die Lissabon-Strategie haben und dass dieser Vertrag nun in Lissabon geschlossen worden ist und deswegen „Vertrag von Lissabon“ heißt, mögen ja reizvoll sein, sie führen aber hinsichtlich der Erkenntnis nicht wirklich weiter. Der Vertrag hat schon seine ganz eigenständige Bedeutung und die Lissabon-Strategie hat ihre eigenständige Bedeutung. Beides möge man in jeweils unterschiedlichem Lichte sehen und würdigen.

Ich denke, damit ist aus meiner Sicht das Wesentliche zu dem Thema Vertrag gesagt. Zum Thema Volksentscheid vielleicht noch so viel: Sie wissen - wir haben ja auch darüber schon diskutiert -, das Thema war Gegenstand auch der Erörterungen im Rahmen der Föderalismusreform I. Darin ist es insbesondere von der LINKEN, aber auch von der FDP als Begehren transportiert worden. Es gab dafür nicht die notwendigen verfassungsändernden Mehrheiten und es gibt auch keinen Grund für die Annahme, dass es diese verfassungsändernden Mehrheiten jetzt geben wird.

Ich weiß - Herr Kosmehl wird das vermutlich gleich erläutern -, dass es konsensuale Möglichkeiten gäbe, Referenden durchzuführen, die nicht den Charakter eines Volksentscheides hätten, aber der Propaganda für den Vertrag im ganz positiven Sinne dienen könnten. Aber abgesehen davon, dass wir damit unverhältnismäßig viel Zeit verlieren und inhaltlich nichts gewinnen würden, sehen wir weder Anlass noch Möglichkeiten, gerade aus deutscher Sicht, die den Vertrag ja im Wesentlichen unter ihrer Präsidentschaft ausverhandelt haben, hier noch einmal einen Volksentscheid durchzuführen.

Wir hatten eine große Beteiligung auch gerade der deutschen Öffentlichkeit an der Gestaltung, an der Entwicklung des Vertrages. Das hing damit zusammen, dass es wirklich bis zum Ende eine spannende Frage war: Wie werden sich andere Länder, wie wird sich Frankreich, wie werden sich die Niederlande, wie wird sich England, wie wird sich vor allen Dingen auch Polen dazu stellen? - Das ist am Ende alles zusammengebunden worden. Nun wollen wir das auch nicht gefährden, sondern im Interesse eines handlungsfähigen Europas in dieser wirklich schwierigen globalisierten Welt dann auch gemeinsam in die Scheuer fahren. - Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU und bei der SPD)

Herr Gallert, zunächst Ihre Nachfrage. Danach Frau Dr. Klein.

Herr Staatsminister, es ist weniger eine Nachfrage als eine Intervention. Ich sage in aller Deutlichkeit: Wenn Sie hier versuchen, jedwede Ablehnung des EU-Vertrages in eine rechtsnationale Ecke zu stellen,

(Unruhe bei der CDU und bei der FDP - Minister Herr Robra: Das habe ich gar nicht gesagt! - Herr Kosmehl, FDP: Was soll denn das?)