Dem ging unter anderem ein Gespräch seitens der genannten Opferverbände, der Stasi-Unterlagenbeauftragten und des Vereins Zeitgeschichte aus Halle voraus, an dem Gudrun Tiedge und ich teilnahmen und bei dem wir unsere Entscheidung, Gudrun Tiedge zu nominieren, begründet haben. Am Ende des Gesprächs stand jedoch die Feststellung seitens der Vertreter dieser Opferverbände, dass eine inhaltliche Diskussion über die Ansichten und die Tätigkeit von Frau Gudrun Tiedge nach dem Jahr 1990 für die Positionierung der Opferverbände völlig belanglos sei, sondern ihre Tätigkeit vor dem Jahr 1989 ein zwingendes Ausschlusskriterium darstelle.
Deshalb ist es wichtig, sich diesen Bereich ihrer Biografie noch einmal anzuschauen. Dazu werden im Wesentlichen zwei Vorwürfe erhoben:
Der erste betrifft ihre Tätigkeit als IM. Dazu gab jedoch bereits der Stasi-Untersuchungsausschuss dieses Landtages im Jahr 2005 unter der Leitung von Herrn Ruden die uns bekannte Wertung ab.
Der zweite zentrale Vorwurf richtet sich gegen ihre Tätigkeit als Jugendstaatsanwältin. Dazu ist Folgendes zu sagen: Eine differenzierende Bewertung von Menschen, die in der DDR-Zeit solche Berufe ausgeübt haben, erscheint uns notwendig. Wenn ich mir die Biografien von politischen Repräsentanten der Fraktionen anschaue, die diesen Gesetzentwurf eingebracht haben, dann scheint dies auch in diesen Fraktionen Konsens zu sein.
Trotzdem, auch ich bin der Meinung, dass es individuelle Ausschlussgründe für eine solche Funktion geben kann, die in der Tätigkeit vor dem Jahr 1989 liegen. Eine differenzierende Betrachtung führt uns bei Gudrun Tiedge aber eben zu einem anderen Schluss.
Der von der letzten DDR-Volkskammer initiierte Staatsanwälte-Wahlausschuss hat in Ansehung und ausführlicher Diskussion vor allem der in Rede stehenden Urteile zu Grenzverletzungen Gudrun Tiedge mit einer Zweidrittelmehrheit für eine weitere Tätigkeit empfohlen. Diese Empfehlung bekam eine außerordentlich geringe Zahl von ehemaligen Staatsanwälten der DDR. Abgesehen von unmittelbaren Berufseinsteigern sprechen wir von weniger als 10 % der DDR-Staatsanwälte.
Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Jede polizeiliche oder justizielle Verfolgung eines Menschen, weil er sein Menschenrecht auf Freizügigkeit anwenden will, ist eine klare Menschenrechtsverletzung und durch keine politische Zielstellung zu legitimieren. Wenn wir die Personen aber heute im Jahr 2007 im Einzelnen auf ihre Befähigung für eine aktive Gestaltung in einer demokratischen Gesellschaft hin befragen, dann muss eine differenzierende Wahrnehmung möglich sein.
Werte Kollegen von der SPD und der CDU! Man hat mit einer breit angelegten Kampagne seit Monaten versucht, Opfer von Gudrun Tiedge zu finden. Vor allem der Bayerische Rundfunk hat in Zusammenarbeit mit den bereits genannten Opferverbänden eine intensive Medien- und Internetkampagne dazu gestartet. Sie blieb bis heute erfolglos.
Wir können nicht ausschließen, dass sich heute jemand als Opfer von Gudrun Tiedge fühlt, aber es ist eben auch wichtig zu wissen, dass diese Suche, die übrigens schon im Jahr 1998 eingesetzt hat, also seit fast zehn Jahren läuft, erfolglos blieb.
Trotzdem haben Sie, werte Kollegen der Koalition, den Forderungen der beiden genannten Opferverbände entsprechend einen Gesetzentwurf eingebracht, der dazu dient, Gudrun Tiedge aus dem Stiftungsrat zu entfernen.
Um es ganz klar zu sagen: Selbst wenn Sie diese Logik in Ihren eigenen Reihen immer anwenden würden, hielten wir sie für grundfalsch. Da Sie aber, wenn es um das eigene Personal geht, völlig andere Bewertungskriterien anlegen und auch regelmäßig vor den Wahlen andere Signale aussenden, sagt dieser Gesetzentwurf wenig über Gudrun Tiedge, aber viel über die Autoren aus.
Eigentlich wichtiger als diese Auseinandersetzung ist jedoch eine Analyse der Situation der Gedenkstättenstiftung im Ganzen. Dabei trifft man auf Erstaunliches. Während sich Fernsehanstalten und Zeitungen gegenseitig in der Berichterstattung über den so genannten Fall Tiedge übertreffen, befindet sich vor allem der Stiftungsbeirat für die Zeit von 1933 bis 1945 in einem desaströsen Zustand, ohne dass das wirklich jemanden zu interessieren scheint.
Kommen wir zu den Dingen im Einzelnen: Das im Gesetz aufgeführte Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma hat von Anfang an seine Mitwirkung in dieser Stiftung verweigert. Grund dafür ist zum einen seine Einschätzung, dass es in SachsenAnhalt ähnlich wie in Sachsen zu einer nicht zu akzeptierenden Nivellierung zwischen dem Völkermord der NSZeit und den Menschenrechtsverletzungen in der DDR komme.
Darüber hinaus betrachtet die Interessenvertretung der Sinti und Roma die zwingend vorgesehene Stasi-Überprüfung als substanzielles Misstrauen des deutschen Staates gegenüber den Sinti und Roma, wofür diese gegenüber dem deutschen Staat - übrigens auch gegenüber der Bundesrepublik Deutschland, aber eben nicht umgekehrt - ausdrücklich Grund haben. Diese Opfergruppe wird also nicht mitarbeiten, solange es diese Stasi-Überprüfung im Beirat gibt.
Der Verband der Euthanasiegeschädigten und Zwangssterilisierten hat seine Mitarbeit in der Stiftung beendet. Gegenüber dem Ministerium erfolgte dieser Schritt mit der Begründung der Wahl des Stiftungsdirektors. Begründet wird dies nicht im Detail. Aber nach einem sachlichen Grund muss man nicht lange suchen, wenn dieser Verband in dem Schreiben des Stiftungsdirektors nicht einmal richtig benannt wird. Es ist also ganz klar: Solange Herr Scherrieble Stiftungsdirektor ist, wird dieser Opferverband nicht mitarbeiten.
Drittens. Obwohl es keine formelle Absage gibt, erfolgt bisher keine Mitarbeit des Zentralrates der Juden in Deutschland. Es gibt die Benennung von Herrn Professor Dr. Korn, der für den gesamten Gedenkstätten
bereich im Zentralrat der Juden verantwortlich und außerdem noch Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde von Frankfurt am Main ist.
Seine Vertretung nimmt deshalb im Normalfall Herr Peter Fischer für den Zentralrat wahr, zum Beispiel in Brandenburg und Thüringen. Herr Fischer hat sich aus den folgenden Gründen nicht für den Stiftungsbeirat nominieren lassen: Zum einen hat er sehr deutlich formuliert, dass die regelhafte Stasi-Überprüfung von Beiratsmitgliedern ein dezidiertes Misstrauen gegenüber den delegierenden Institutionen, in seinem Fall also dem Zentralrat, darstellt.
Zum anderen führt er an, dass die Art und Weise der Diskussion um die Gedenkstätten in Sachsen-Anhalt eine Mitarbeit für ihn unmöglich macht. Als Beispiel benennt Herr Fischer die Diskreditierung seiner Person durch den Vorsitzenden des Verbandes der Stalinistisch Verfolgten in der Diskussion um die Torgauer Urnen. Herr Fischer sagte dazu:
Die beiden letzten verbliebenen Vertreter in diesem Beirat, der Vertreter des VdN/BdA und der Vertreter der evangelischen Kirche, haben sich in der Diskussion um Gudrun Tiedge positioniert. Herr Steinhäuser forderte in einem Leserbrief dazu auf, die Wahl von Frau Tiedge zu akzeptieren. Vom VdN/BdA gibt es eine Pressemitteilung, in der sich der Sprecherrat eindeutig zu einer Zusammenarbeit mit Gudrun Tiedge bekennt und sich für ihre engagierte Arbeit bedankt.
Warum aber, frage ich Sie, haben wir es mit einer allgewaltigen Medienschlacht um Gudrun Tiedge zu tun und warum scheint es darüber hinaus fast völlig egal zu sein, welche Hinderungsgründe andere Opferverbände, nämlich die aus der Zeit des Faschismus, haben, in dieser Stiftung mitzuarbeiten? Was also macht die Mitarbeit des Verbandes der Opfer des Stalinismus unverzichtbar, während man auf die Sinti und Roma, den Zentralrat der Juden sowie den Verband der Euthanasiegeschädigten und Zwangssterilisierten offenbar verzichten kann? Was, liebe Kollegen von der CDU und der SPD, ist Ihr Grund für diese Unterscheidung?
Das ist für uns die entscheidende Frage. Um sie beantworten zu können, muss man sich die aktuelle geschichtspolitische Auseinandersetzung anschauen.
Eine Antwort gibt uns in dankenswerter Klarheit Professor Dr. Klaus Schroeder. Er ist der Leiter des Forschungsbundes SED-Staat an der FU Berlin und von der CDU benannter Sachverständiger beim Gedenkstättenstiftungsgesetz des Bundes. Er hat das übersichtlich in einem Artikel in der Tageszeitung „Die Welt“ vom 7. November 2007 dargelegt.
Demnach geht es im Wesentlichen darum, die DDR- und die nationalsozialistische Terrorherrschaft in der Erinnerungskultur unter den Begriffen „Diktatur“ und „totalitäre Systeme“ von ihrem Wesen her als ähnlich, wenn nicht sogar als weitgehend identisch darzustellen. Dem gegenüber steht die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Dieses bipolare Weltbild soll das verbindliche Geschichtsbild sein. Dabei stören natürlich all diejenigen, die eine solche These nicht mittragen und sich mit ihrer DDR-Biografie nicht in ein einfaches Täter-OpferSchema pressen lassen. Dazu gehören konsequenter
weise aber auch all diejenigen, die folgende Position vertreten - ich zitiere noch einmal Herrn Fischer -:
„Deshalb verbietet es sich, die Tatsachen über einen Kamm zu scheren; denn im Verwischen der qualitativen Unterschiede historischer Zusammenhänge entstehen ähnliche Defekte im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit, wie sie aus der Zeit des einseitig machtpolitischen Antifaschismus der Kommunisten zu DDR-Zeiten bekannt sind. Ein Zeitbogen von 1933 bis 1989, die Herstellung eines solchen Kontinuums verbietet sich aus der Sicht des Zentralrates.“
Herr Scharf hat mit seiner Frage: „Was würden Sie denn davon halten, wenn ein NS- Verbrecher darin wäre?“, genau dies skizziert.
Übrigens, werte Kollegen von der CDU und der SPD, ein solches bipolares Geschichtsbild wie das von Professor Dr. Schroeder ist für mich nicht neu. In der DDR habe ich gelehrt bekommen, dass die Bundesrepublik Deutschland nach 1949 und das Terrorregime von 1933 bis 1945 nur zwei Spielarten des entwickelten Kapitalismus sind, dem der unangreifbar überlegene Sozialismus gegenübersteht.
Meine Damen und Herren! Wir sind nicht bereit, das eine bipolare Geschichtsbild durch das andere austauschen zu lassen, zumal wir uns über die politische Funktion eines solchen Vorgehens im Klaren sind. Dies aber ist der eigentliche Hintergrund der Auseinandersetzung, über die wir hierbei reden.
Abschließend sind wir als Fraktion zu der Auffassung gelangt, dass die Gedenkstättenstiftung für die Zeit von 1933 bis 1989 selbst nach der jetzt vorgeschlagenen Fassung des Gesetzes gescheitert ist. Eine demokratische Erinnerungskultur lässt sich aus unserer Sicht in Sachsen-Anhalt nur noch in zwei getrennten Stiftungen realisieren.
Herr Gallert, mir geht es um die Stellungnahme der Verbände, die Sie erwähnt haben, die nicht mitmachen wollen. Zu uns sind sie nicht gekommen. Ich habe das nur allgemein erfahren.
Nachdem ich es noch einmal nachgelesen habe, weiß ich nun: Als das Innenministerium den Entwurf des Gedenkstättenstiftungsgesetzes eingebracht hat, wurde in der Begründung zu dem Gesetzentwurf auch erwähnt, dass die Verbände angeschrieben worden sind und Stellungnahmen abgegeben haben. Schon in diesen Stellungnahmen haben sowohl Sinti und Roma als auch der
Verband der Euthanasiegeschädigten ihre Bedenken vorgetragen. Das wurde in den Ausschussberatungen wahrscheinlich nur gestreift. Man hat sich trotzdem darauf geeinigt, die Stiftung zu gründen. Dem haben auch die LINKEN zugestimmt. Es war also vorher bekannt.
Die zweite Frage lautet: Ist es nicht trotz dieser Probleme wichtig, dass wir an den Orten, die es gibt, den Versuch einer Lösung unternehmen? Von jedem, der darin vertreten ist, wird erwartet, dass er den anderen respektiert und dass nicht gegenseitig aufgerechnet oder verharmlost wird. Ist es dann nicht eine Aufgabe, das in einer Stiftung zu machen?
Herr Bischoff, ich will Ihnen ganz ehrlich sagen: Es gab bei uns noch einmal eine ausführliche Diskussion über die Frage: Haben wir damals einen Fehler gemacht, als wir dieser Konstruktion der Gedenkstättenstiftung zugestimmt haben, die übrigens aus dem Innenministerium gekommen ist und eher dem sächsischen Modell folgt?
Das ist nun abgewendet worden. Wir haben jetzt eine vergleichbare Situation in Brandenburg. Dort funktioniert es. Das Interessante ist, dass es in Sachsen-Anhalt nicht funktioniert. Das hat nicht nur etwas mit der Struktur, sondern auch etwas mit den Personen zu tun.
Wir haben es in Sachsen-Anhalt mit der Situation tun, dass bei dem Streit um die Torgauer Urnen von Herrn Fischer seitens des Zentralrates verlangt wurde, dass man bei der Beurteilung sehr wohl auch berücksichtigen müsse, dass die Menschen, die dort in der Militärhaft der SMAD umgekommen und möglicherweise ermordet worden seien, auch Kriegsverbrecher gewesen seien.
Wenn eine solche Aussage getroffen wird, dann fragt der Vorsitzende des Verbandes der Stalinistisch Verfolgten: Für wen sprechen Sie gerade, Herr Fischer? Für den Zentralrat oder für das MfS? - Das genau ist die Situation, die dazu führt, dass es bei uns eben so nicht geht.
Eine zweite Geschichte - das haben wir vorher so nicht abgesehen -: Jetzt sagen Sie, Herr Scharf, wir brauchten die Regelüberprüfung für alle; deswegen müssten wir das Gesetz ändern. Wir brauchten sie deswegen - das war im Wesentlichen Ihre Argumentation -, weil die Perspektive der Opfer entscheidend sei.
Ja, aber die Opfer haben unterschiedliche Perspektiven. Für die einen ist es unabdingbar notwendig, die anderen sagen jedoch: Dann erfolgt definitiv keine Mitarbeit. Warum folgen Sie eigentlich der einen Opferperspektive und lassen die andere völlig außen vor? - Das ist die Frage, die wir stellen.
Wir haben gesagt: Das Gesetz ist von uns so mit eingebracht worden. Wir müssen es akzeptieren. Ein Gesetz hat nun einmal das Wesensmerkmal, das alle damit leben müssen, wenn es politisch auf den Weg gebracht worden ist. Jetzt wird dieses Gesetz deswegen aufgemacht, weil eine Opfergruppe mit der Konsequenz nicht leben kann. In diesem Kontext thematisieren wir die Sichtweisen der anderen Opfergruppen.
Wenn wir es für eine Opfergruppe aufmachen, warum interessieren uns eigentlich die Bedenken der anderen
drei Opfergruppen nicht? - Das ist die Frage, die wir stellen. Darauf möchte ich eine Antwort haben.
Sie werden eines nicht hinbekommen: Sie werden zum einen nicht eine allumfassende Stasi-Überprüfung, wie sie die Verbände der Opfer des Stalinismus und der stalinistisch Verfolgten haben wollen, hinbekommen und zum anderen diese Überprüfung ausschließen, wie sie zumindest die Sinti und Roma für sich ausschließen.