Wenn es nun heißt, Rosinenpicken ist in Deutschland nicht zugelassen - okay. Aber stimmen Sie nicht mit uns überein, dass man dann nicht nur der Arbeitnehmerseite, sondern auch der Arbeitsgeberseite das Rosinenpicken verbieten sollte? Müssten wir dann nicht an uns selbst die Forderung stellen, über einen kompletten Systemwechsel nachzudenken? Denn es stimmt: Wir können nicht nur an einzelnen Schrauben drehen. Wenn wir etwas ändern wollen, dann müssen wir einen Systemwechsel herbeiführen. Sind Sie derselben Auffassung?
Das war die zweite Frage. - Herr Henke und Frau Rogée stellen sicherlich jeweils eine kurze Frage. Anschließend kann Herr Gürth antworten. Bitte.
Meine Frage schließt an die Ausführungen von Frau Budde an, was niemanden verwundern wird. Herr Gürth,
wenn Sie am Beispiel des Mindestlohnes bei der Post feststellen, dass damit der Wettbewerb vermeintlich verhindert würde, fällt Ihnen dann nicht auf, dass Sie damit sagen, dass der vermeintlich freie Wettbewerb allein über die Lohnkosten, also auf Kosten der Arbeitnehmer geführt wird, sofern es die anderen privaten Postdienstleiter nicht schaffen, auf andere Weise effizienter, kostengünstiger und damit besser zu sein?
Eine weitere Frage steht ebenfalls im Zusammenhang mit den Ausführungen von Frau Budde. Da es offensichtlich eine Nachfrage nach Postdienstleistungen gibt, gibt es nun auch private Postdienstleister. Solange es eine Nachfrage gibt, wird es niemals die von Ihnen an die Wand gemalten Arbeitsplatzverluste geben können. Dazu hätte ich gern Ihre Meinung gehört.
Ja, ich bemühe mich. - Herr Gürth, Sie haben vorhin die Koalitionsfreiheit, die Gewerkschaften, die Tarifpolitik hochgehalten. All das schwimmt da oben.
Die Allgemeinverbindlichkeit besagt, dass ein Anteil von 50 % der im Arbeitgeberverband beschäftigten Arbeitnehmer organisiert sein muss, um einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklären zu lassen. Das bietet einen Schutz vor unseriösen Wettbewerbern; das ist so. Meine Frage lautet: Warum lehnen Sie - Sie sagten es am Ende Ihrer Rede - die Aufnahme der Briefdienstleister in das Entsendegesetz konsequent ab?
Herr Präsident, ich werde mir ganz große Mühe gegeben, dies zu tun. - Zu den Ausführungen von Herrn Henke bezüglich der Post und der Lohnnebenkosten und zu der Behauptung, die drohenden Arbeitplatzverluste in diesem Sektor seien an die Wand gemalt, es werde schwarzgemalt, möchte ich schlichtweg mit der Praxis antworten.
Es gibt unterschiedliche Gewerke. In einem Bereich sind für die Wettbewerbsfähigkeit insbesondere die Material- und Energiekosten entscheidend und in einem anderen Bereich, etwa bei den Dienstleistungen, sind es die Löhne. Das ist immer so und das bleibt auch so. Das werden auch wir als Politiker nicht ändern.
Aber bei dem ganz konkreten Beispiel der Postdienstleistungen, die eine Nachfrage am Markt haben, ist es eben nicht so, dass von Wirtschaftswissenschaftlern einfach nur schwarzgemalt wird, weil sie es böse mit der LINKEN und mit den Arbeitnehmern meinen. Es ist faktisch einfach so und das ist auch nachweisbar.
Die Nachfrage nach Dienstleistungen ist vorhanden. Die Frage ist, ob diese Dienstleistungen von schlecht bezahlenden auf gut bezahlende Unternehmen verlagert werden oder ob die Arbeitsplätze letztlich einfach verloren gehen. Ich sage Ihnen, es droht eher der Verlust. Ich sage Ihnen auch warum. Das ist ganz einfach zu erklären, sodass es jeder versteht.
Es geht nicht um denjenigen, der einen Brief mit 58 Cent frankiert. Man kann auch 62 Cent bezahlen, das bringt niemanden um, noch nicht einmal einen Hartz-IV-Empfänger; so viele Briefe werden dort vielleicht nicht geschrieben. Es geht vielmehr um den Sektor, der wirklich Beschäftigung ausmacht, nämlich die Wirtschaft, die Postdienstleistungen für Mailing, für Werbung und für viele andere Dinge in Anspruch nimmt. Hierbei geht es um viele Tausende Euro im Monat; denn hierbei handelt es sich um große Posten, die versandt werden. Dieser Bereich ist sowohl für Private als auch für die Post als Monopolist ein interessantes Marktsegment.
Ein Unternehmen kann nun irgendeinen Designer beauftragen, der die Postwurfsendungen mit einer Marketingfirma fertigstellt. Dann stellt sich die Frage, ob er das per E-Mail an eine Druckerei in Deutschland verschickt, die diese Postwurfsendungen über einen mit dieser verbundenen Dienstleister unter das Volk bringt, oder ob er es einfach nach Holland oder nach Tschechien schickt, wie schon geschehen. Dann bringt ein Lkw die 10 000, 20 000 oder 150 000 Briefe oder Postwurfsendungen, die woanders gedruckt und abgepackt worden sind, dorthin und dann werden sie verschickt.
Das ist also nicht so einfach, wie Sie das dargestellt haben, sondern es droht in der Tat der Verlust der hiesigen Arbeitsplätze. Wenn es sich für das Unternehmen nicht mehr rechnet, dann überlegt man sich doch, ob man es sich leisten kann, über Postdienstleistungen Kunden zu werben oder nicht. Wenn ich es mir nicht mehr leisten kann, dann muss ich über andere Strategien nachdenken und zum Beispiel über das Internet gehen. Das bedeutet unter dem Strich, dass die Berechnungen der Wirtschaftswissenschaftler, was den Verlust der Arbeitsplätze betrifft, sehr, sehr ernst zu nehmen sind.
Ich weiß gar nicht, welche Fragen noch offen sind. Es waren so viele. Welche Fragen sind noch offen?
Herr Gürth, herzlichen Dank für Ihren Beitrag. - Wir kommen zu dem letzten Debattenredner. Ich erteile der Abgeordneten Frau Rogée von der Fraktion DIE LINKE das Wort. Bitte schön, Frau Rogée.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige Debatte ist notwendig und es ist, glaube ich, auch richtig, dass wir uns im Plenum regelmäßig damit befassen. Herr Paqué, Sie wissen, Wiederholung ist die Mutter der Weisheit. Ich persönlich hoffe, dass wir irgendwann doch ein Umdenken erreichen. Allerdings haben uns Herr Gürth und Herr Haseloff ziemlich deutlich gemacht, dass uns eine ganze Menge auf dem Weg zu einem einheitlichen Mindestlohn trennt.
Die Fraktion DIE LINKE - das wird im Plenum niemanden wundern - unterstützt diese Aktuelle Debatte auch deswegen ausdrücklich, weil mehr als sechs Millionen Menschen im Niedriglohnbereich beschäftigt sind und mehr als elf Millionen Menschen in Deutschland als einkommensarm gelten.
Gegenwärtig leben 580 000 Vollzeitbeschäftigte mit zusätzlichen Sozialleistungen. Fast 80 000 Kinder in Sachsen-Anhalt leben in Armut, das heißt, gegenwärtig ist jedes dritte Kind von Armut betroffen. Im Jahr 2005 betraf es noch jedes vierte. Halle hat hierbei mit einem Anteil von 46 % der Kinder, die in Armut leben, einen Spitzenplatz inne.
Nach neuen Erkenntnissen sind von der Kinderarmut überwiegend Mädchen betroffen. Man könnte sagen, das ist für die künftigen Frauen bereits der Beginn des Weges in die Armut bis ins Alter. Der Anteil der Frauen bei den Niedriglöhnern beträgt 70 %.
Natürlich wissen wir, dass diese Aktuelle Debatte auch etwas damit zu tun hat, dass die SPD versucht, ihr Image im Land aufzupolieren. Die gegenwärtig in der SPD auf Bundesebene geführte Auseinandersetzung zur Verlängerung des ALG I zwischen dem Vizekanzler Franz Müntefering und dem Parteivorsitzenden Kurt Beck lässt die Stimmung in der SPD sichtbar werden.
Franz Müntefering warnt die SPD vor einem Linksruck. Das ist für einen Sozialdemokraten, der mit den Gewerkschaften an einem Strick ziehen will, schon starker Tobak. Er hat offensichtlich bis heute nicht gemerkt, dass die unsoziale Politik durch die Agenda 2010 auch dazu geführt hat, dass SPD-Mitglieder, SPD-Funktionäre und Gewerkschafter aus der SPD ausgetreten sind. Deshalb steht die SPD mit dem Rücken zur Wand, und nicht weil, wie es ein Moderator im Fernsehen unlängst formulierte, DIE LINKE am linken Rand der SPD knabbert.
Ich komme zu den Mindestlöhnen zurück. Vor einigen Monaten hat die SPD eine Unterschriftenaktion beschlossen. Darüber haben wir in diesem Hohen Haus gesprochen. Im Bund und in Sachsen-Anhalt haben Sie ihre eigene Beschlusslage abgelehnt, weil sie von uns als Antrag formuliert wurde. Dabei wollten wir nur wissen, wie ernsthaft Sie sich für einen Mindestlohn einsetzen. Deshalb bin ich etwas misstrauisch in Bezug auf die Ernsthaftigkeit und die Zielstrebigkeit Ihrer Fraktion bei der Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns in Deutschland.
Die gegenwärtige Debatte, die von vielen Interessenlagen gekennzeichnet ist, bringt den normalen Bürger schon ziemlich durcheinander. Es wird geredet von der großen Bedeutung der Tarifpartner und der Tarifverträge, von der Allgemeinverbindlichkeitserklärung, vom
Entsendegesetz, von der Vereinbarung eines tariflichen Mindestlohns, vom flächendeckenden Mindestlohn, vom gesetzlichen Mindestlohn und anderem. Das alles soll helfen, existenzsichernde Löhne zu erreichen.
Ja, die Tarifpolitik hat in Deutschland über viele Jahre hinweg für eine stabile und soziale Entwicklung in den Unternehmen gesorgt. Das Festhalten an Tarifverträgen als Basis für den Mindestlohn kann aber nur dort Mindestlöhne sichern, wo Tarifverträge existieren. In mehr als der Hälfte der Unternehmen gibt es keine Tarifverträge. Deshalb wird es dort auch keine Mindestlohnregelung geben.
Da aber Tarifverträge die Voraussetzung für die Allgemeinverbindlichkeit und branchenbezogen für das Entsendegesetz sind, ist ein flächendeckender Mindestlohn auf dieser Basis nicht möglich. Ich muss mich sehr wundern, wenn Sie, Herr Gürth, - das haben Sie heute wieder bestätigt - und auch Herr Paqué das Hohelied der Tarifautonomie singen, wohl wissend, dass die flächendeckende Einführung der Mindestlöhne aus den eben genannten Gründen gar nicht möglich ist.
Nun möchte ich das Beispiel aus der Begründung aufgreifen: die Mindestlöhne bei den Briefdienstleistern. Im Zusammenhang mit der Freigabe des Briefmonopols haben die Arbeitnehmerinnen und auch die gelbe Post ihre Sorge offensichtlich glaubhaft deutlich gemacht, dass die sozialen Bedingungen bei den Mitwettbewerbern der Post zu einem enormen Abbau der bisherigen tariflichen Leistungen führen wird.
Ich hätte mir gewünscht, dass der Tarifvertrag der Postbranche, unter dem immer noch 50 % der Beschäftigten vereint sind, für allgemeinverbindlich erklärt worden wäre. Dort ist der Stundenlohn nämlich noch etwas höher, Herr Gürth. Leider haben das die Lobbyisten der nicht nach Tarif zahlenden Unternehmen verhindert. Übrigens gehört dazu auch die PIN AG, deren Miteigentümer zu etwa 50 % der Springer-Verlag ist. Dieser hat natürlich über seine Printmedien unter anderem auch Einfluss auf die Meinungsbildung der Menschen und damit auch der Parteien und der prominenten Mandatsträger genommen. Sie kennen sicher diese beiden ganzseitigen Zeitungsannoncen aus der „Volksstimme“ gegen Herrn Müntefering und Herrn Zumwinkel.
Das halte ich schon für eine Qualität, die einfach inakzeptabel ist. Das kann sich jeder später noch ansehen. Ein Schelm, wer Arges dabei denkt.
Ich finde, so wird Druck auf die Bundesregierung ausgeübt. Kolleginnen und Kollegen, keiner von uns ist frei davon, das auch zu erleben. Das hat aus meiner Sicht nun wirklich nichts, aber auch gar nichts mit freier Meinungs- und Willensbildung zu tun.
In einem am Montag gesendeten Beitrag des „Report Mainz“ ging es um den Streit in Deutschland zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns. Es war zu hören,