Protocol of the Session on September 14, 2007

Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 26. Sitzung des Landtages von Sachsen-Anhalt. Ich begrüße Sie recht herzlich.

Zwei Abgeordnete unseres Hauses haben heute Geburtstag. Dazu gratulieren wir den Abgeordneten Herrn Guido Henke und Herrn André Lüderitz im Namen des Hohen Hauses. Ich möchte Ihnen auch persönlich gratulieren.

(Beifall im ganzen Hause)

Wir wünschen Ihnen Schaffenskraft, Erfolg und Gesundheit sowie einen netten Geburtstag in unseren Reihen.

Meine Damen und Herren! Ich stelle die Beschlussfähigkeit des Hohen Hauses fest.

Es wurde gestern schon bekannt gegeben, dass der Ministerpräsident Herr Professor Dr. Böhmer und Minister Herr Dr. Haseloff ganztägig nicht anwesend sein werden. Minister Herr Dr. Daehre wird bis 12 Uhr nicht anwesend sein.

(Minister Herr Dr. Daehre: Frau Präsidentin, es hat sich geändert! Ich bin bei euch!)

- Entschuldigung, Herr Minister, aber ich habe Sie heute noch nicht gehört.

(Heiterkeit bei der LINKEN - Minister Herr Dr. Daehre: Das ist meine Art! Ich bin zurück- haltend!)

- Deshalb. - Wir beginnen die heutige Beratung mit dem Tagesordnungspunkt 3, danach setzen wir mit Tagesordnungspunkt 12 fort. Ich möchte daran erinnern, dass wir die Tagesordnungspunkte 13, 20 und 21 schon gestern abgehandelt haben.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 auf:

Aktuelle Debatte

Es liegen zwei Beratungsgegenstände vor. Sie wissen, dass für jedes Thema je Fraktion zehn Minuten Redezeit vorgesehen sind.

Ich rufe das erste Thema auf:

Zur Situation der Pflege in Sachsen-Anhalt

Antrag der Fraktion DIE LINKE - Drs. 5/865

Ich erteile dem Abgeordneten Herrn Dr. Eckert das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer Anfang September die Zeitung aufschlug oder das Fernsehen anschaltete, wurde mit solchen Schlagzeilen torpediert wie „Pflegeschande“, „Das Pflegeelend in Deutschland“, „Eine Studie der Schande“, „Hunger, Durst und ein wunder Körper: Versorgung alter Menschen ist in Deutschland mangelhaft“ oder „Statt Menschlichkeit zählt der Mammon - Das Betreiben von Pflegeheimen ist ein auf Gewinn ausgerichtetes Gewer

be geworden“. Die Überschrift: „Die Pflege braucht Pflege - Jeder Dritte nicht ausreichend ernährt - Auch in Sachsen-Anhalt erhebliche Mängel“ war da noch sachlich.

In dieser Situation war das Agieren des Sozialministeriums mehr als nur ungeschickt, auch wenn möglicherweise eine fehlerhafte Übermittlung von Daten diese Verwirrung verursachte. Die Überschrift lautete: „In Sachsen-Anhalt kein Pflegenotstand“. Dem kann ich sogar zustimmen.

Wir haben keinen Pflegenotstand, aber es gibt auch bei uns erhebliche Mängel in der Pflege. Wir haben seit Jahren einen erheblichen Handlungsbedarf. Ich erinnere daran - vielleicht können sich einige andere auch daran erinnern -, dass dieses Thema am 12. Dezember 2002 auf Antrag der SPD-Fraktion schon einmal auf der Tagesordnung stand. Damals ging es um die Zustände in einem Pflegeheim in Stendal. Wir haben also seit Jahren einen erheblichen Handlungsbedarf.

Meine Damen und Herren! Wenn ich die im zweiten Prüfbericht des MDK aufgezeigten Mängel beseitigen will, dann muss ich diese sehen wollen. Ich muss sie anerkennen und entsprechende Maßnahmen zur Veränderung diskutieren und ergreifen.

Dabei möchten wir feststellen, dass die überwiegende Mehrheit der in der Pflege beschäftigten Menschen eine anstrengende und eine gute Arbeit leistet.

(Beifall bei der LINKEN)

Oft gehen sie an die Grenzen ihrer physischen und psychischen Leistungsfähigkeit. Die gesellschaftliche Anerkennung für die harte Arbeit hält sich aber in Grenzen und die Entlohnung ist ungenügend.

Wo liegen nun die Ursachen für die Verfehlungen und Missstände in der Pflege? Sind sie allein in persönlichem Versagen oder gar, wie berichtet wurde, in der Profitgier der Betreiber zu suchen? Oder stimmen die Rahmenbedingungen nicht? Wir meinen, vor allem sind die Rahmenbedingungen zu verändern.

Was will nun die Bundesregierung, die damit auch angesprochen ist, tun? - Es sind vor allem mehr Kontrolle und minimale Veränderungen in den Rahmenbedingungen vorgesehen.

In einem noch nicht abgestimmten Referentenentwurf werden Maßnahmen benannt, die DIE LINKE schon seit Jahren fordert, zum Beispiel die Einführung einer Pflegestufe „0“, die Dynamisierung der Leistungen - das hierzu vorgeschlagene Ausmaß ist nicht akzeptabel -, die Einführung einer Pflegezeit - heute musste ich der Zeitung entnehmen, dass die CDU auf Bundesebene in diesem Bereich erheblichen Gesprächsbedarf hat - oder auch Fördermittel zum Ausbau niedrigschwelliger Betreuungsangebote.

Erstens. Einige für die Gestaltung der Bedingungen in der Pflege wesentliche Rahmenbedingungen sind von der Bundesregierung nicht aufgegriffen worden. Wir meinen, dass einige Rahmenbedingungen zu ändern sind. Beispielsweise heißt es im Referentenentwurf sehr schön:

„Daher werden strukturelle Änderungen in der Pflegeversicherung vorgenommen, die dem Grundsatz ‚ambulant vor stationär’ stärker als bisher Rechnung tragen.“

An dieser Stelle ist Skepsis, große Skepsis angesagt; denn auch bisher wurde dieser Grundsatz immer wieder beschworen, wie eine Monstranz vor sich hergetragen, doch in der Realität wurde dieser für die Gestaltung von Rahmenbedingungen wichtige Ansatz nicht umgesetzt.

Betrachten wir die Zahlen: Gab es beispielsweise im Jahr 1999 bundesweit 8 900 Pflegeheime mit 645 000 Plätzen, waren es im Jahr 2005 schon 10 424 Heime mit 757 000 Plätzen. Das sind Steigerungen auf 116 % bzw. 117 %.

In Sachsen-Anhalt wuchs die Zahl der Heime von 260 auf 365. Die Zahl der Plätze wuchs von ca. 19 600 auf 23 800, im Vergleich zum Bundesdurchschnitt also wesentlich schneller. Nehme ich als Ausgangspunkt das Jahr 1996, in dem bundesweit etwa 450 000 stationär pflegebedürftige Menschen gezählt worden sind, wurde de facto das Prinzip „stationär vor ambulant“ realisiert.

Das ist nicht nur, aber auch der Landesregierung zuzurechnen. Seit dem Jahr 2001 gab es keine landesweite Abstimmung mit den für die Planungsfragen zuständigen Kommunen mehr. Vorstöße der Landesregierung auf Bundesebene zur realen Umsetzung des Grundsatzes „ambulant vor stationär“ gab es ebenfalls nicht.

Wenn das so ist - die Zahlen sind so -, dann müssen wir auch und gerade in Sachsen-Anhalt vor allem die strukturellen Ursachen für die ungenügende Pflege aufdecken und beseitigen. Wir erwarten, dass die Landesregierung gemeinsam mit den Kommunen aktiv wird und Maßnahmen zur realen Stärkung des ambulanten Bereiches einleitet.

Zweitens. Die Bundesregierung hat gegenwärtig eben nicht vor, den Pflegebedürftigkeitsbegriff neu zu definieren. Wenn das aber nicht erfolgt, dann werden die Hauptprobleme, die uns heute in der Pflege beschäftigen, nicht lösbar sein.

Dazu ein Beispiel. Mit Recht wird vom MDK kritisiert, dass bei nur ca. 65 bis 70 % - das ist in den letzten Jahren ansteigend - der überprüften pflegebedürftigen Menschen die Biografie Berücksichtigung fand. Die Pflegeversicherung finanziert derartige wichtige und notwendige Leistungen nicht. Wie soll sich aber die Situation an Demenz erkrankter Menschen real verbessern, wenn die Pflegeversicherung dafür entsprechend den gültigen Definitionen keine Ressourcen zur Verfügung stellt?

Satt, sauber, still - das ist es, was die Pflegeversicherung entsprechend dem somatisch geprägten Pflegebegriff bezahlt. Wenn mehr gemacht wurde, dann ist es vor allem dem Engagement der Beschäftigten sowie deren Berufsverständnis geschuldet. In Bezug auf den Pflegebedürftigkeitsbegriff ist erheblicher Handlungsbedarf angesagt, und zwar seit Jahren.

Die Behindertenverbände haben vor einem Jahr auf eine Initiative der Behindertenbeauftragten der Bundesregierung Frau Evers-Meyer in einer Arbeitsgruppe Vorschläge vor allem zur Begrifflichkeit unterbreitet. Die Chancen, dass die große Koalition im Bundestag über diese Vorschläge ernsthaft diskutiert, sind sehr gering. Ich denke, deswegen hat Sachsen-Anhalt im Bundesrat eine Mitverantwortung. Diese Mitverantwortung fordern wir ein.

Drittens. Die Probleme in der Pflege zu lösen und Gestaltungsspielräume zu eröffnen heißt auch, für eine entsprechende Finanzierung zu sorgen. Die Bundesregie

rung will jetzt durch eine Beitragserhöhung in Höhe von 0,25 % die Einnahmen in der Pflegeversicherung anheben. Das ist eine Möglichkeit und bringt ca. 2 Milliarden € pro Jahr mehr. Das ist viel Geld. Es reicht aber angesichts der Probleme überhaupt nicht aus; denn in den letzten 20 Jahren hat sich der Pflegebedarf und haben sich die zu Pflegenden wesentlich verändert. Die früher hauptsächlich vorzufindende Gruppe der leicht- bis mittelgradig körperlich erkrankten Menschen ist einer völlig neuen Pflegegeneration gewichen.

Das heutige Hauptmerkmal sind gerontopsychiatrische Diagnosen. Darauf hat die Pflegepolitik zu reagieren. Hier muss mehr Geld eingesetzt und der Bedarf neu definiert werden. Ein an Demenz erkrankter Mensch kann noch sehr viele Handgriffe allein bewältigen. Er benötigt aber, um es tun zu können, vor allen Dingen eine umfassende Anleitung und Aufsicht. Darauf ist die Pflegeversicherung eben nicht ausgerichtet, inhaltlich nicht und finanziell erst recht nicht.

Deshalb sollte als weitere Möglichkeit zur Verbesserung der Einnahmesituation in der Pflege die private Pflegeversicherung als strukturelle Fehlentscheidung aus den 90er-Jahren zurückgenommen werden. Sie sollte geschlossen werden. Damit würden sofort - ich betone: sofort - ca. 2,2 bis 2,4 Milliarden € mehr in der gesetzlichen Pflegeversicherung zur Verfügung stehen. Dabei bleibt der bisher angesparte Kapitalstock von über 15 Milliarden € völlig unangetastet.

Die Landesregierung hat sich nach den Zeitungsmeldungen in einer ersten Reaktion auf den Bericht des MDK für mehr Transparenz ausgesprochen. Die Prüfberichte sollen jetzt im Internet einsehbar sein. Das ist ein richtiger Schritt. Wir meinen, wichtiger wäre es jedoch, die Rahmenbedingungen in der Pflege so auszugestalten, dass eine bessere Pflegequalität auch leistbar ist. Dazu muss sie im Bundesrat Initiativen ergreifen.

Bezogen auf das Land ist die Landesregierung aufgefordert, das Lebensumfeld der älteren Menschen, also das Wohnen, das Einkaufen und das soziale Umfeld mit Vereinen und Ehrenamt, so zu gestalten, dass die älteren Menschen so lange wie nur möglich in ihren Wohnungen, bei ihren Freunden, Nachbarn und Verwandten leben können. In diesem Bereich hat das Land unmittelbare Handlungskompetenzen auszufüllen. Das aber ist, wenn ich an unsere Vision eines barrierefreie SachsenAnhalts denke, schon der Inhalt des nächsten Antrags. - Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der LINKEN)

Danke, Herr Dr. Eckert. - Für die Landesregierung hat Frau Ministerin Dr. Kuppe um das Wort gebeten.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Herren und Damen Abgeordneten! Der Umzug in ein Pflegeheim ist für die Betroffenen, für Familienangehörige und für Freunde ein gravierender Einschnitt. Vertrautes muss aufgegeben und Krankheit und Pflegebedürftigkeit müssen akzeptiert werden. Ein solcher Schritt hat nicht nur praktische Konsequenzen. Er ist auch eine psychische Herausforderung für alle Beteiligten, weil Angst, Unsicher

heit und nicht selten auch ein schlechtes Gewissen eine Rolle spielen.

Umso verständlicher ist es, dass Medienberichte zur Pflegesituation große Beachtung finden. Das ist richtig so. Das Thema Pflege gehört in die Mitte der Gesellschaft. Deshalb begrüße ich auch die heutige Debatte im Landtag.

(Beifall bei der SPD, bei der CDU und bei der LINKEN)