Protocol of the Session on June 14, 2007

Was allerdings in Halberstadt passierte, ist, was die Polizei betrifft, keine Panne, wie Staatssekretär Herr Erben es beschwichtigend formulierte. Was in Halberstadt passierte, das ist ein Skandal, zumindest dann, wenn man einem detaillierten Augenzeugenbericht Glauben schenken darf, den Herr Gallert schon zitiert hat.

Die Polizeibeamten kümmerten sich um die Personalien der Opfer, statt die Täter zu verfolgen und dingfest zu machen. Sie ließen fünf Mitglieder der Opfergruppe - darunter vier Frauen - mitten in der Nacht am Tatort zurück, ohne Hilfe anzubieten. Die Polizeibeamten brauchten eine Viertelstunde, um nach einem weiteren telefonischen Hilferuf wieder am Tatort einzutreffen, nachdem dort fünf Täter in bedrohlicher Weise wieder aufgetaucht waren. Als die Polizei schließlich ankam, waren die Täter schon wieder verschwunden.

Meine Damen und Herren! All dies ist unprofessionell. Mehr als das, es wirkt geradezu provozierend gleichgültig gegenüber dem Schicksal der Opfer und der Verfolgung der Täter.

(Beifall bei der FDP und bei der Linkspartei.PDS)

Wenn man dann noch hört und liest, dass in dem zuständigen Polizeirevier auch noch ein Satz Flyer einer Coverband der ehemals rechtsextremen „Böhsen Onkelz“ auslag und dass dieser Flyer eine Werbung für die Internetseite der unter Rechtsextremen beliebten Kleidermarke „Thor Steinar“ enthielt, dann muss man fragen: Wem will man es eigentlich noch verdenken, wenn er allzu pauschale Rückschlüsse dahin gehend zieht, dass der Kampf gegen den Rechtsextremismus in unserer Polizei nicht sonderlich ernst genommen wird?

Meine Damen und Herren! Es geht hier überhaupt nicht um Pauschalverurteilungen.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Es geht überhaupt nicht darum, dass die Polizei zum Prügelknaben gemacht wird. Aber hier liegt ein Fall vor, in dem seitens der Polizei die notwendige Sensibilität für die Opfer fehlte. Das muss an dieser Stelle auch mit dem Respekt vor den Opfern klar ausgesprochen werden.

(Beifall bei der FDP und bei der Linkspartei.PDS)

Wir ärgern uns alle über die Berichterstattung in den überregionalen Medien, die unser Land nach solchen Vorfällen als Hort des Rechtsextremismus darstellt, und wir ärgern uns über manchen Besserwisser aus anderen Teilen der Republik, der ohne Ortskenntnis behauptet, es gäbe hierzulande eine rechtsextreme Alltagskultur, die in der Breite längst geduldet würde.

Aber die Frage müssen wir uns stellen: Wie wollen wir dem denn glaubhaft entgegentreten, wenn die Fakten so liegen wie in Halberstadt, und können wir das wirklich nur auf Einzelfälle und auf so genannte Pannen schieben?

Immerhin, meine Damen und Herren, steht Sachsen-Anhalt in der Statistik rechtsextremer Gewalttaten pro Einwohner im Verfassungsschutzbericht 2006 des Bundesinnenministers an der Spitze der deutschen Länder. Natürlich kann man auch da wieder zu Recht auf Unterschiede in der Meldebereitschaft hinweisen, die wohl in Sachsen-Anhalt aus einer Reihe von Gründen besonders hoch ist.

Meine Damen und Herren! Dies kann vielleicht den Unterschied zu den Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen erklären, die pro Einwohner noch nicht einmal die Hälfte der in Sachsen-Anhalt gemeldeten Straftaten aufweisen. Es ist übrigens ein merkwürdiges Ergebnis für Länder, in denen die NPD große Wahlerfolge erzielt hat. Aber es kann - so ehrlich müssen wir in diesem Hohen Hause sein - nicht den Abstand zu Nordrhein-Westfalen, Hessen, Rheinland-Pfalz, BadenWürttemberg und Bayern plausibel machen. Alle diese Bundesländer liegen bei der Zahl drastisch niedriger, und zwar bei rund einem Fünftel bzw. einem Zehntel der Zahl der rechtsextremen Straftaten, die wir in SachsenAnhalt pro Einwohner festzustellen haben.

Sachsen-Anhalt hat eine hohe Frequenz rechtsextremer Gewalt und eine hohe Präsenz des Rechtsextremismus in der Öffentlichkeit. Wer mit offenen Augen durch dieses Land reist, der kann dies auch wahrnehmen, vor allem an Kleidung und Schuhen, an Frisuren, am Gehabe vieler junger Männer. Das ist nun einmal so, das müssen wir zur Kenntnis nehmen, wobei - das sage ich an dieser Stelle deutlich - die Sichtbarkeit eher abnimmt, was die Gefahr noch erhöht. Denn offenbar verfolgen die NPD und ihr nahe stehende Organisationen die gezielte Strategie einer gewissen äußerlichen Verbürgerlichung des Rechtsextremismus. Dem müssen wir begegnen.

(Beifall bei der FDP und bei der Linkspartei.PDS)

Meine Damen und Herren! Es gibt keine einfache Lösung im Kampf gegen den Extremismus, egal ob er von rechts oder von links kommt. Lieber Herr Gallert, das Aufzählen von sozialen Problemen hierzulande oder anderswo ist ein Baustein, aber nur ein kleiner Baustein.

Meine Damen und Herren! Es gibt Länder auf dieser Welt - ich will gar nicht in die Details gehen -, die riesige soziale Probleme haben, aber eines haben sie nicht: Rassismus. Da müssen wir uns selber an die Brust klopfen. Die Verhältnisse in Deutschland sind sozial erheblich besser als in anderen Ländern, aber wir haben ein starkes Problem mit dem Extremismus.

(Beifall bei der FDP)

Meine Damen und Herren! Auch der Linksextremismus findet immer noch einen Nährboden in Deutschland, wie wir jüngst bei den massiven und brutalen Ausschreitungen von militanten Globalisierungsgegnern feststellen mussten. Auch da gibt es nichts zu beschönigen.

(Zustimmung von Herrn Hauser, FDP)

Aber der Nährboden des Linksextremismus ist vor allem in den urbanen Regionen Westdeutschlands und Berlins zu suchen. Es ist nun einmal so: Jeder kehre vor seiner eigenen Tür. Das heißt für uns: In Sachsen-Anhalt muss der Schwerpunkt auf absehbare Zeit der Kampf gegen den Rechtsextremismus sein.

(Zustimmung von Herrn Franke, FDP)

Dafür gibt es keine einfachen Rezepte und Erfolgsgarantien. Kampagnen wie „Hingucken“ können da nur ein Baustein sein. Das Gleiche gilt für das hoch anerkennenswerte Netzwerk für Demokratie und Toleranz. Es hilft, um das Bewusstsein der Menschen im Land für das Problem zu schärfen, aber das kann nicht alles sein.

Gerade auch der Kampf gegen den Linksextremismus hat gezeigt, wie langsam und wie schwer der Fortschritt ist. Seit mehr als 30 Jahren läuft dieser Kampf gegen linksextreme Gegner der Freiheit, von schwarzen Blocks über Autonome bis zur RAF, übrigens - wir sollten das nie vergessen - seinerzeit unterstützt von der DDR mit ihrer Staatssicherheit. Die Ereignisse von Heiligendamm sind eine harte Erinnerung daran, dass auch dieser Kampf noch nicht gewonnen ist.

Aber eine Grundvoraussetzung für einen erfolgreichen Kampf gegen den Extremismus ist, dass Polizeiarbeit und Strafverfolgung konsequent erfolgen. Sonst geht jede gesellschaftliche Anstrengung ins Leere und wird zur reinen Symbolpolitik. Die Polizei muss wissen, dass dies von ihr erwartet wird, und die Politik muss die Möglichkeiten schaffen, jeden einzelnen Polizisten so zu schulen und so auszurüsten, dass er seiner Verantwortung gerecht werden kann.

Möglicherweise reicht das, was bisher an Schulungen angeboten wird - und das erkennen wir durchaus an -, doch noch nicht aus. Vielleicht genügt es nicht, wie bisher nur eine Auswahl von Führungskräften und Multiplikatoren in der Polizeihochschule Aschersleben zu schulen. Vielleicht müssen sukzessive alle Polizisten des Landes eine direkte Schulung und nicht nur eine indirekte Schulung über die Führungskräfte erhalten.

Über diese und andere Fragen werden wir in den kommenden Wochen und Monaten zu beraten haben, natürlich nicht im Plenum, sondern in den zuständigen Fachausschüssen, in denen die entsprechende Fachkompetenz liegt. Wir als FDP-Fraktion werden uns intensiv dieser Diskussion stellen.

Meine Damen und Herren! Zur Ehrlichkeit gehört schließlich auch, dass man klar umreißt, worum es geht und worum es nicht geht. Es geht um eine konsequente und verantwortungsvolle Polizeiarbeit, die Vertrauen schafft und dadurch den Kampf gegen den Extremismus schützt. Es geht aber nicht darum, neue strafbare Tatbestände zu erfinden, die angeblich die Strafverfolgung erst möglich machen. Insbesondere kann es nicht darum gehen, zwischen politisch motivierten und nicht politisch motivierten Straftaten zu unterscheiden.

(Beifall bei der FDP und bei der Linkspartei.PDS)

Meine Damen und Herren! Unser Strafrecht liefert einen überzeugenden Rahmen, um jede Gewalttat und jede Motivation zur Tat richtig einzuordnen und zu beurteilen. Tat und Strafmaß richten sich nach den genauen Umständen und den Motiven, die der Richter untersucht und bewertet. Sie sollten sich nicht an einer grobschlächtigen Einordnung in „politisch“ und „nicht politisch“ orientieren, auch nicht bei der Körperverletzung.

(Zustimmung von Herrn Franke, FDP)

Wie wäre denn dann im Fall von Halberstadt das brutale Einschlagen auf einen wehrlosen Menschen deutscher Abstammung zu werten? Wahrscheinlich motivierte in Halberstadt der Haarschnitt des Opfers - das ist ja das

Zynische - die Täter zum Zuschlagen. War das politisch oder religiös oder ethnisch motiviert?

Meine Damen und Herren! Derartige Unterscheidungen führen an dieser Stelle nicht weiter. Sie mögen politisch von Bedeutung sein, aber rechtsstaatlich führen sie nicht weiter. Die Unterscheidung zwischen politischer und nichtpolitischer Motivation sollte nicht erfolgen. Verzichten Sie deshalb, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU- und der SPD-Fraktion, und Sie, sehr geehrte Frau Justizministerin Kolb, auf diese Unterscheidung.

Sie werden damit übrigens bei den Rechtsexperten ihrer eigenen Parteien auf Bundesebene und bei den Bundestagsfraktionen Ihrer Parteien vollständig Schiffbruch erleiden und Sie werden damit dem Kampf gegen den Rechtsradikalismus einen Bärendienst erweisen.

(Beifall bei der FDP - Zustimmung bei der Links- partei.PDS)

Gut gemeint ist nicht gut gemacht. Mein Kollege Veit Wolpert wird heute Nachmittag noch ausführlich aus der Sicht liberaler Rechtspolitik dazu Stellung nehmen.

Meine Damen und Herren! Wir sollten aus dem gescheiterten Verbotsverfahren gegen die NPD endlich unsere Lehren ziehen. Der Kampf gegen den Extremismus ist ein Kampf der Politik, ein Kampf der Polizei und ein Kampf des Rechtsstaates. Es gibt dabei keinen Platz für populistische Aktionen, sondern allein für eine konsequente und verantwortungsvolle Auseinandersetzung mit der Sache, und zwar von all denjenigen, die für Freiheit und Toleranz stehen. - Herzlich Dank, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP)

Herzlichen Dank, Herr Professor Paqué. - Bevor ich den letzten Debattenredner aufrufe, begrüße ich Gäste von der Landeszentrale für politische Bildung und eine Gruppe von Abgeordneten und Mitgliedern des Vereins der Partnerschaft der Parlamente aus den USA. Seien Sie uns herzlich willkommen!

(Beifall im ganzen Hause)

Nun erteile ich der SPD-Fraktion das Wort. Herr Abgeordneter Rothe, bitte schön.

Herr Präsident, ich werde mich an die vereinbarte Redezeit halten.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor drei Tagen ist im Dessauer Stadtpark an den gewaltsamen Tod des Mosambikaners Alberto Adriano erinnert worden. Frau Ministerin Kuppe sagte bei der Gedenkfeier:

„Rassismus und Extremismus gehen uns alle an, weil sie die Basis des demokratischen Zusammenlebens angreifen.“

(Beifall bei der SPD)

Mit dieser Haltung stimme ich überein. Ich halte es auch für richtig, den rechtsradikalen Überfall vom vergangenen Wochenende in Halberstadt, wie im Thema unserer heutigen Aktuellen Debatte formuliert, als einen „Anschlag auf die Zivilgesellschaft in Sachsen-Anhalt“ zu

bezeichnen. Man mag einwenden, dass die demokratische Zivilgesellschaft in ihrer freiheitlichen Verfasstheit hinreichend gefestigt und durch Extremisten unverwundbar sei. Ich bin da eher skeptisch.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung von Herrn Kurze, CDU)

Der Historiker Golo Mann hat in seiner 1958 veröffentlichten „Deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“ folgenden Satz formuliert:

„Der Nazismus war das Deutscheste vom Deutschen, hervorgebracht und getragen von einer Schicht der Nation, viel breiter als sie je zuvor ein deutsches Regierungssystem getragen hatte.“