Protocol of the Session on February 23, 2007

Die EU ist damit als politischer Handlungsraum über die Nationalstaatlichkeit hinweg ein wichtiger Raum für sozialen Protest. Aufgrund der Proteste musste das in der Bolkestein-Initiative vorgesehene radikale Herkunftslandprinzip abgeschwächt werden. In Artikel 16 der Richtlinie ist jetzt nur noch von „Dienstleistungsfreiheit“ die Rede. Allerdings hätte dort das Ziellandprinzip stehen müssen, wonach die Aufnahme und die Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit den Rechtsvorschriften und den Tarifverträgen des Ziellandes unterliegt. Das würde harmonisieren.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Stattdessen dürfen jetzt die Zielländer ihre nationalen Vorschriften nur auf bestimmte Voraussetzungen anwenden. Sie dürfen nicht diskriminierend sein, müssen erforderlich sein, also bei Gefährdung der Sicherheit, der Gesundheit oder der Umwelt, und müssen verhältnismäßig sein. Diese Auslegungen werden den Europäischen Gerichtshof zukünftig zu beschäftigen haben.

Aufgrund des Artikels 16 - so befürchtete auch die Gewerkschaft ver.di in ihrer Stellungnahme vor dem Wirtschaftsausschuss des Bundestages - werde es ein Gesetzeshopping durch Betriebsverlagerungen entsprechend den geltenden Standards geben. Zitat:

„Ein verschärftes Lohn- und Sozialdumping und ein Absinken des Qualitätsstandards werden die Folge sein, wenn es keine flankierenden Maßnahmen wie gesetzliche Mindestlöhne, Sozial- und Qualitätsstandards gibt.“

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Letztlich erreichten die europaweiten Proteste gegen die Dienstleistungsrichtlinie auch, dass Bereiche der Daseinsvorsorge, die ausschließlich öffentlich erbracht werden, was allerdings bekanntlich abnimmt, ausgenommen sind.

Ein wichtiger Erfolg ist auch, dass die Bestimmungsländer Einwände geltend machen können, wie oben schon genannt, wenn Aspekte der Gesundheit, Sicherheit und Umwelt berührt sind. Verbraucherschutz ist allerdings kein Ausnahmetatbestand und Grund für die Beauftragung ausländischer Dienstleistungserbringer, was wir kritisieren.

Im Text der Richtlinie bleiben viele Unklarheiten, über die der Europäische Gerichtshof letztlich zu entscheiden haben wird. Das betrifft unter anderem die Pflege als Teil des Gesundheitsbereiches und auch entgeltliche Daseinsvorsorgeleistungen im Bildungsbereich zum Beispiel bei der Meisterausbildung oder bei dem Einsatz von Studiengebühren, sodass die GEW einen zuneh

menden Privatisierungsdruck auf dem Bildungssektor befürchtet.

Man muss auch sagen, dass die vom Europäischen Parlament jetzt beschlossene Version noch hinter den erreichten Kompromiss zur EU-Dienstleistungsrichtlinie zurückfällt.

Das EU-Parlament hatte bei der ersten Lesung im Februar 2006 noch gefordert, alle Dienstleistungen mit einem sozialen Gemeinwohlauftrag von der Richtlinie auszunehmen. Jetzt werden lediglich Dienstleistungen in den Bereichen Sozialwohnungen, Kinderbetreuung und Unterstützung bedürftiger Familien und Personen von der Richtlinie nicht erfasst, die entweder vom Staat selbst oder von einem von ihm beauftragten Dienstleistungserbringer oder von einer als solche staatlich anerkannten gemeinnützigen Einrichtung erbracht werden.

Viele von privaten Unternehmen, sozialen Initiativen oder öffentlich-privaten Partnerschaften erbrachte soziale Dienstleistungen können so unter die Richtlinie fallen. Deshalb interessiert uns in unserem Antrag insbesondere die Frage nach den Auswirkungen der Dienstleistungsrichtlinie auf die Bereiche der Daseinsvorsorge.

Da die Beteiligung der Kommunen, der Sozialpartner und der betroffenen Unternehmen im Vorfeld der Diskussion über eine EU-Dienstleistungsrichtlinie nicht gegeben war, sind für sie die Folgen und die Anforderungen der Richtlinie schwer zu beurteilen. Es fehlen Studien und Erhebungen seitens der Bundesregierung. Deshalb ist die Einrichtung eines offenen und ständigen Dialogs zu den Wirkungen der EU-Dienstleistungsrichtlinie auf Bundes- und Landesebene unter Beteiligung der Betroffenen nötig.

Wer laut Richtlinie die einheitlichen Ansprechpartner im Lande für die Leistungserbringerin oder -empfängerin sein soll, ist ebenso noch im Nebel.

Unklar ist meiner Auffassung nach auch, inwieweit das Arbeitsrecht und das Streikrecht von der Richtlinie ausgeklammert sind. Auch ein Vorrang sozialer Grundrechte ist nicht klargestellt. Das ist auch unser Kritikpunkt. Wenn nämlich dieser Vorrang gewährleistet würde, wäre - es sei mir gestattet, das so salopp zu sagen - die Kuh vom Eis.

(Zustimmung bei der Linkspartei.PDS)

In diesem Zusammenhang ist das aktuelle Grünbuch der EU-Kommission zum Arbeitsrecht relevant. In ihm wird die europaweite Zunahme von prekären Arbeitsverhältnissen festgestellt und nach einer separaten EU-Regelung gefragt.

Ein weiteres Problem ist das Fehlen einer wirksamen Wirtschaftsaufsicht und -kontrolle der Dienstleistungsunternehmen. Das sieht offenbar auch Herr Gürth so, wenn ich seine Pressemitteilung vom Mittwoch richtig verstanden habe.

Sogar Bestimmungen des Strafrechts dürfen gegenüber Dienstleistungserbringern aus anderen Mitgliedstaaten nicht mehr angewendet werden. Für Dienstleister aus dem EU-Ausland gilt dies im Rahmen des freien Dienstleistungsverkehrs nur dort, wo Vorschriften der Mitgliedstaaten den Kriterien der Erforderlichkeit, der Diskriminierungsfreiheit und der Verhältnismäßigkeit genügen.

Inländische Dienstleistungsunternehmen werden so durch die Richtlinie wohl nicht diskriminiert, aber zu

mindest deutlich schlechter gestellt. Folglich werden sie die Abschaffung hoher heimischer Standards und Auflagen fordern, um in der durch den Dienstleistungsbinnenmarkt verschärften Kostenkonkurrenz nicht unterzugehen. Das ist wiederum nicht von uns. Das ist gesetzmäßig; das ist Betriebswirtschaftslehre. Die Schaffung eines Dienstleistungsbinnenmarktes auf dieser Grundlage wird einen harten Wettbewerb um die Absenkung von Standards auslösen.

Unklar ist weiterhin, ob mittels dieser Richtlinie wirklich Arbeitsplätze in Masse entstehen. Es fehlt an einer fundierten quantitativen Arbeitsmarktprognose zu den Wirkungen der Richtlinie.

Nach den Ergebnissen einer Sonderumfrage des ifoInstituts vom Januar 2006 sehen die ostdeutschen und insbesondere die befragten sächsischen Unternehmen die Wirkungen skeptischer als ihre Kollegen in den westlichen Bundesländern. Sie erwarten steigenden Wettbewerbsdruck, sinkende Qualitäts- und Sicherheitsstandards und negative Beschäftigungstendenzen.

Die IG BAU rechnet mit einem Rückgang der Inlandsbeschäftigung. Eine eventuell steigende Auslandstätigkeit inländischer Firmen werde hauptsächlich durch Präsenz und Umsatz, aber nicht durch Arbeitsplätze gekennzeichnet sein. Bei Zielländern mit hohem Mindestlohn und sehr niedrigen Löhnen könne man nicht konkurrieren.

Der DGB äußerte bei der von der Linksfraktion initiierten Anhörung vor dem Wirtschaftsausschuss des Deutschen Bundestages am 16. Oktober 2006 die Befürchtung, dass es zu einem weiteren Verlust sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse kommen wird. Das können wir alle gemeinsam doch nicht wollen.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Daraus ergeben sich für uns folgende Vorstellungen und Forderungen:

soziale und ökologische Mindeststandards EU-weit - in diesem Zusammenhang verweise ich nochmals auf die Pressemitteilung von Herrn Gürth, der das so ausführt -,

ein EU-weiter Mindestlohn und ein Entsendegesetz für alle Branchen,

Durchsetzung von gewerkschaftlichen Rechten im grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr,

Klarheit bei den Ausnahmen für öffentlich-soziale Dienstleistungen und für Daseinsvorsorge,

Klarheit und Verbesserung der Kontrolle und strafrechtlicher Sanktionen sowie

die Abschätzung der Folgen von Gesetzen und gegebenenfalls deren Rücknahme.

Wir bitten um die Überweisung unseres Antrages in die Ausschüsse für Wirtschaft und Arbeit, für Soziales, für Bildung, Wissenschaft und Kultur, für Inneres und für Bundes- und Europaangelegenheiten sowie Medien.

Weil Sie, Herr Tullner, vorhin von Herzenssache sprachen - ich sage ihm das, obwohl er nicht da ist; ich kann es ihm dann beim nächsten Mal im Protokoll zeigen -, betone ich: Wenn ich deutlich gemacht habe, dass das Herz auch für Menschen und für ihre sozialen Bedingungen schlagen kann, akzeptiere ich natürlich auch, dass es Zeitgenossen gibt, deren Herz ein wenig mehr für Wettbewerb und Wirtschaft schlagen kann. Aber dies

bezüglich sind wir nicht so weit auseinander. - Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS - Zuruf von Herrn Gallert, Linkspartei.PDS)

Vielen Dank, Herr Czeke, für die Einbringung dieses Antrages. - Nun bitte ich, den Antrag in der Drs. 5/530 einzubringen. Es spricht Herr Tögel. Bitte schön.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass die Dienstleistungsrichtlinie in den vergangenen Monaten und Jahren eines der umstrittensten Vorhaben auf europäischer Ebene gewesen ist, ist niemandem entgangen. Dass sie Ende 2006 in Kraft getreten ist, ist auch überall zu lesen und zu hören gewesen. Das heißt allerdings nicht, was manche vielleicht gehofft haben, dass damit das Thema Dienstleistungsrichtlinie für die Politik erledigt ist; denn gerade jetzt fangen für uns die Fragen der Umsetzung an.

Dass die Dienstleistungsrichtlinie nötig war, bestreitet eigentlich niemand. Allerdings gingen die mit der Dienstleistungsrichtlinie verbundenen Zielsetzungen in Richtung mehr Liberalisierung oder mehr Harmonisierung sehr weit auseinander. Das hat die Diskussion gezeigt und das wissen wir auch aus der Vergangenheit.

Dass der Kompromiss, der Ende 2006 zustande gekommen ist, ein guter Kompromiss ist, zeigt sich daran, dass niemand so richtig mit ihm zufrieden ist, weil niemand seine Ziele richtig durchsetzen konnte. Auch ich hätte mir in bestimmten Bereichen, beispielsweise was die Sozialstandards betrifft, mehr gewünscht.

Die Bundesrepublik und die anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben jetzt drei Jahre Zeit, die Dienstleistungsrichtlinie in nationales Recht umzusetzen. Dass das nicht ganz einfach sein wird, obwohl der Zeitraum sehr lang erscheint, glaube ich auch, weil gerade im Rahmen der unterschiedlichen Zuständigkeiten in den Mitgliedstaaten, aber auch in der Bundesrepublik im Rahmen des Föderalismus sehr viele Kompromisse notwendig sind, die nicht immer leicht zu erreichen sein werden.

Ich will kurz darauf eingehen, was Herr Czeke hinsichtlich der Dienstleistungsrichtlinie an sich kritisiert. Diese Kritik mag aus unterschiedlichen Gründen sicherlich berechtigt sein, aber sie hilft uns jetzt nicht weiter; denn die Richtlinie ist in Kraft.

Ich denke, wir sollten den Blick nach vorn richten und sehen, wie wir die Dienstleistungsrichtlinie in nationales Recht umsetzen, was wir - das ist die Zielrichtung des Antrages der Koalition - auf Landesebene zu tun haben und wann in Sachsen-Anhalt welche Schritte notwendig sein werden.

Wer ein Blick auf die Webseite des Bundeswirtschaftsministeriums wirft, findet die entsprechenden Informationen darüber, was nötig ist und was gemacht werden muss. Zum Beispiel müssen Arbeitsgruppen eingesetzt werden oder sie wurden schon eingesetzt. Hieran wird also schon gearbeitet.

Da die Dienstleistungsrichtlinie erst im Dezember 2006 in Kraft getreten ist, kann man nicht erwarten, dass im Februar 2007 schon alle Dinge, wie zum Beispiel die

einheitlichen Ansprechpartner oder das europäische Informationssystem, endgültig geregelt sind.

(Herr Borgwardt, CDU: Ergebnis!)

Das ist ein Diskussionsprozess, der Zeit braucht. Ich denke, die drei Jahre müssen wir dafür nutzen.

Für mich ist ein besonderer Punkt, der auch in der innerdeutschen Diskussion wichtig ist und der auch innerhalb der Koalition nicht unstrittig ist, die Frage der fehlenden sozialen Absicherung gegen Mini- und Dumpinglöhne ausländischer Firmen, die in der Bundesrepublik Deutschland arbeiten. Dass wir in diesem Punkt noch vorankommen müssen - auch in der Koalition in Berlin -, ist völlig klar.