Die Delinquentin oder der Delinquent soll das direkte Zusammenspiel von Kriminalität und Strafe spüren und für die Zukunft daraus Konsequenzen ziehen. Als ein besonders effektives Mittel der sozialen Kontrolle erscheint also die Strafe.
Vor diesem Hintergrund möchten Sie, Herr Becker, die Diversionsrichtlinien abschaffen, die unter anderem den
von Ihnen so betitelten „Du-du-Termin“ für jugendliche Ersttäter enthalten. Ihrer Meinung nach würde mit diesen Richtlinien das Tor für eine kriminelle Karriere geöffnet.
Bevor dieser Schritt jedoch gegangen wird, sollten wir uns das Konstrukt Diversion und dessen Auswirkungen differenziert anschauen. Dem vorausschicken möchte ich indes einen Grundsatz des Jugendgerichtsgesetzes.
Eine Besonderheit des Jugendstrafrechts ist nämlich, dass es sich um ein Erziehungsstrafrecht und nicht um ein Schuldstrafrecht handelt. Grund hierfür sind Bagatellhaftigkeit, Flüchtigkeit, Normalität und Ubiquität von Jugendkriminalität, was übrigens auch Ihr jetziger Staatsminister Herr Robra als gesichert ansah, als er der Adhoc-Kommission Diversion der Konferenzen der Jugend- und der Justizminister und -senatoren angehörte.
In diesem Zusammenhang vertrat er begrüßenswerterweise die Ansicht, dass die Einstellung von Verfahren durch die Staatsanwaltschaft weiterzuentwickeln und auszubauen ist; denn, wie bereits gesagt, es handelt sich bei Jugendstraftaten fast ausschließlich um Bagatelldelikte, wie Schwarzfahren in der Straßenbahn, Fahren ohne Fahrerlaubnis. Das sind Normbrüche. Das Strafrecht hat zweifellos die Aufgabe, deutlich zu machen, dass diese nicht akzeptiert werden. Dazu bietet das Diversionsinstrumentarium eine reiche Auswahl.
Wie steht es dagegen wirklich mit der abschreckenden Wirkung auf die Allgemeinheit durch eine Verurteilung des Bagatelltäters? Der derzeitige Forschungsstand zeigt uns, dass diese äußerst gering ist.
Ich möchte hierfür ein Beispiel aus einem ganz anderen Bereich bringen. Haben denn etwa die massenhaft verteilten Knöllchen an Parksünder zu einer verstärkten Normakzeptanz geführt? Die Praxis zeigt uns: nein.
Die Flüchtigkeit von Jugendkriminalität begründet sich im jugendlichen Probierverhalten, das nicht zwangsläufig einen Einstieg in eine kriminelle Karriere bedeuten muss. So schnell wie die kriminelle Karriere begonnen hat, so schnell endet sie bei einem Großteil der Jugendlichen wieder. Die Intensivtätergruppe hingegen ist sehr klein. Zudem ist jugendliche Delinquenz eine Begleiterscheinung in der Entwicklung junger Menschen. Dies muss nicht gleichbedeutend mit einer Fehlentwicklung sein. Und, meine Damen und Herren, leichte Kriminalität kommt in allen Schichten der jungen Bevölkerung vor.
Dies hängt zum einen damit zusammen, dass sich Jugendliche in einer Sozialisations- und Integrationsphase befinden, bei der sie erst mit zunehmender Reife in die Normwelt der Erwachsenen hineinwachsen, was häufig mit einem Austesten von Grenzen einhergeht. Zudem unterliegen junge Menschen inneren und äußeren Spannungen, die gekennzeichnet sind von Erlebnishunger, geringen Hemmschwellen, Drang nach Selbstentfaltung, aber eben auch von Übermut und Unüberlegtheit. Ihnen fehlt noch die Handlungskompetenz in Stress- oder Versuchungssituationen. Sie durchlaufen ihre erste biografische Übergangsphase; sie lösen sich von der Familie, sind neuen Anforderungen durch ihre Umwelt ausgesetzt, was natürlich zu Rollenunsicherheit, Verunsicherung und vielleicht auch zu einer Identitätskrise führen kann.
Straffälliges Verhalten junger Menschen hat also etwas mit ihrer Entwicklungsphase zu tun. Doch eben gerade
in dieser Entwicklungsphase sind junge Menschen noch prägbar und durch Erziehung beeinflussbar. Sie befinden sich in einer Entwicklungsphase, in der wir ihnen eine Befähigung für das soziale Miteinander geben sollten.
Gerade im Sinne dieses Erziehungsgedankens wurden im Jahr 1953 Paragrafen in das Jugendgerichtsgesetz eingefügt, die dem Jugendstaatsanwalt oder dem Jugendrichter die Möglichkeit eröffneten, auf strafbares Verhalten von Jugendlichen informell zu reagieren.
Auch der Begründung der CDU zum Entwurf des Ersten Gesetzes zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes aus dem Jahr 1989 konnte ich entnehmen, dass das Jugendstrafrecht der Erziehung eine zentrale Bedeutung beimisst, da die Straftaten junger Menschen zumeist entwicklungsbedingt sind und oft aus Konfliktsituationen ihres Alters resultieren. Ihr damaliger Entwurf - so hieß es weiter - sollte den Erziehungsgedanken vor allem dadurch verstärken, dass er die informellen Erledigungsmöglichkeiten zu verbessern sucht. Auch vertrat Ihre Partei zu diesem Zeitpunkt die Meinung, dass ein erheblicher Teil der leichteren Jugendkriminalität eher als normale Erscheinung und nicht als Symptom einer beginnenden oder möglichen kriminellen Verwahrlosung beurteilt werden könne.
Sie sagten, informelle erzieherische Maßnahmen reichten nicht selten aus, um ein erneutes Straffälligwerden zu verhindern.
Ich muss sagen, das klingt sehr vernünftig, und so stehe ich, wenn auch sonst gewiss selten, voll und ganz hinter Ihrer damaligen Auffassung.
Kommen wir nunmehr zur Diversion selbst. Das Grundprinzip der Diversion besteht also darin, dem unteren Kriminalitätsbereich angehörende strafbare Handlungen aus dem förmlichen Strafverfahren herauszunehmen, indem von der Verfolgung durch die Staatsanwaltschaft abgesehen wird oder Jugendrichter das Verfahren einstellen. Zudem kann in vielen Fällen auch den Eltern zugetraut werden, dass sie sich mit dem Fehlverhalten ihrer Kinder auseinander setzen und angemessen mit ihnen umgehen und Wiederholungen auch ohne staatliche Strafen verhindern.
Die Täter sollen also nicht mit dem bloßstellenden Strafverfahren in seiner ganzen Länge und Härte überzogen werden. Stigmatisierung und Chancenabschneidung sollen vermieden werden; denn gerade durch formelle Verfahren kommt es zu Abstempelungseffekten, die eine kriminelle Karriere fördern können.
„Der Hang zum Verbrechen wächst auch bei den Jugendlichen mit jeder neuen Verurteilung. Je härter die Vorstrafe nach Art und Maß gewesen ist, desto rascher der Rückfall erfolgt. Wenn ein Jugendlicher oder auch ein Erwachsener ein Verbrechen begeht und wir lassen ihn laufen, so ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass er wieder ein Verbrechen begeht, als wenn wir ihn bestrafen.“
Das von von Liszt Gesagte wurde auch in der nahen Vergangenheit immer wieder durch Dunkelfeldforschung bestätigt.
Ferner können durch die Diversion die Interessen der Opfer einer Straftat stärker berücksichtigt werden. Nach den Diversionsrichtlinien ist in vielen Fällen die effektive Schadenswiedergutmachung, namentlich der TäterOpfer-Ausgleich, Voraussetzung einer diversionellen Erledigung. Damit wird das Opfer unmittelbar mit in die Maßnahme eingebunden.
Schließlich möchte ich auch die ökonomische Seite der Strafjustiz ansprechen. Durch die Diversion, also das Absehen von Verfolgung durch die Staatsanwaltschaft, wird die Zahl der Anklagen reduziert. Die Diversion geht also einher mit einer Entlastung der Strafgerichte im Bereich der kleinen und mittleren Kriminalität. Die Folge ist, dass sich die Strafjustiz den tatsächlichen Problemfällen von weitaus größerer Tragweise zuwenden kann. Ein recht angenehmer Nebeneffekt ist zudem die Reduzierung der Kosten der Strafrechtspflege. Das sollte doch gerade in Zeiten knapper Kassen unser aller Interesse finden.
Am Ende meiner Rede gern. - Zusammenfassend lassen sich also drei wesentliche Erfolge der Diversion aufzeigen: erstens die Vermeidung negativer Effekte für den Beschuldigten, was zweitens einhergeht mit besserem Opferschutz und Schadenswiedergutmachung durch individuelle Konfliktaufarbeitung, und schließlich die Entlastung der Strafjustiz.
Ein Vergleich der Praxis der Jugendgerichte mit der Praxis im Bereich des Erwachsenenstrafrechtes zeigt übrigens, dass es im Jugendstrafrecht momentan in über 60 % der Verfahren zu einer informellen Erledigung durch die Diversion kommt. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Im Erwachsenenstrafrecht sieht das nicht anders aus.
Außerdem gebietet uns nicht nur das Prinzip der Verhältnismäßigkeit, welches immerhin den Rang einer Verfassungsnorm innehat, sondern auch das Gebot von Humanität und Sozialstaatlichkeit, dass das Strafrecht nur dort Anwendung findet, wo keine milderen und besseren Mittel vorhanden sind, um dieselbe Wirkung zu erzielen. Genau diese anderen Mittel sind durch die Diversionsmöglichkeiten und die in jedem Bundesland erlassenen Richtlinien vorhanden und sollten auch entsprechend genutzt werden.
Die Diversionsmöglichkeit darf auch nicht mit einer Nullreaktion verwechselt werden. Schon die Entdeckung der Tat, die Reaktion des Opfers, die Vernehmung durch die Polizei, dann die Reaktionen des sozialen Umfeldes und schließlich das Warten auf die justizielle Entscheidung sind Reaktionen auf eine Straftat, die nicht spurlos am Täter vorbeigehen.
Nun können Sie den berechtigten Einwand bringen, dass auch nach Abschaffung der Diversionsrichtlinien weiterhin eine diversionelle Verfahrenseinstellung nach dem Jugendgerichtsgesetz möglich ist. Doch ich mache
Sie eindringlich darauf aufmerksam, dass die staatsanwaltschaftliche Praxis genau auf die Signale aus dem Landtag und dem Justizministerium schaut. Glauben Sie mir: Die Signale werden verstanden.
Ihre Äußerungen, Herr Becker, stehen im Sinnzusammenhang mit Verschärfungen. Es wird dementsprechend zu einer geringeren Anwendung der Diversionsmöglichkeiten kommen. Doch zahlreiche Studien belegen es: Die Kriminalitätsrate wird dadurch nicht sinken.
Gerade deshalb möchte ich noch kurz auf Rückfalluntersuchungen zu sprechen kommen. Durch die Aufhebung der Diversionsrichtlinien sollen laut Aussage von Ihnen, Herr Becker, nunmehr kriminelle Karrieren verhindert werden. Empirische Studien haben aber aufgezeigt, dass die Legalbewährung nach einer Verfahrenseinstellung regelmäßig besser ist als nach einer Verurteilung. Es ist also gerade kriminologisch nachgewiesen, dass mithilfe der Diversionsmöglichkeiten eine kriminelle Karriere verhindert wird, was im krassen Gegensatz zu Ihrer Aussage steht.
Ich habe das Gefühl, dass es hierbei nicht wirklich um die Problembewältigung von Jugendkriminalität geht.
Es handelt sich hierbei lediglich um eine symbolische Politik mit kurzsichtigem Aktionismus, dem jugendliche Delinquenten zum Opfer fallen werden. Die Welt wird scheinbar in Ordnung gebracht. Eine tatsächliche Problemlösung wird dies aber nicht zur Folge haben. Die Tatsachen werden hier doch auf den Kopf gestellt, was politisch und wissenschaftlich unredlich ist.
Wir müssen uns eher die Zeit nehmen, meine Damen und Herren, um uns tatsächlich mit jungen Menschen und ihren spezifischen Problemen auseinander zu setzen, auch wenn sie Straftaten begehen. Wir sollten uns daher gemeinsam ernsthaft die Frage stellen: Wollen wir Erziehung durch Strafe oder Befähigung statt Strafe?
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Jugendliche sind nicht a priori eine kriminelle Problemgruppe, die es mit aller Macht zu bekämpfen gilt, wo sie die Erwachsenenruhe stört. Vielmehr sollten wir die Jugendlichen mit all ihren Schwächen und Stärken als unseren Zukunftsfaktor ansehen. - Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Frau von Angern, Sie sagten zu Beginn Ihrer Rede, das JGG diene vor allem der Erziehung. Sind Sie der Meinung, dass eine Verfahrenseinstellung ein wirksames Erziehungsmittel ist?
Ja. Ich habe gerade in meiner Rede bestätigt, dass ich in der Einstellung eine erzieherische Möglichkeit sehe, in Verbindung mit den Möglichkeiten zum Beispiel des Täter-Opfer-Ausgleichs, den man leisten könnte. Aber das ist nicht zwingend erforderlich. Ich denke, dass Eltern auf ihre Kinder einwirken können.