Protocol of the Session on April 15, 2005

Ich eröffne die 58. Sitzung des Landtages von SachsenAnhalt der vierten Wahlperiode. Ich begrüße Sie alle recht herzlich.

(Unruhe)

Ich stelle die Beschlussfähigkeit des Hohen Hauses fest, obwohl die Stimmung im Moment noch nicht so zu sein scheint, dass Sie Beschlüsse zu fassen beabsichtigen.

Meine Damen und Herren! Das Mitglied des Landtages Frau Frauke Weiß hat heute Geburtstag.

(Beifall im ganzen Hause)

Im Namen des Hauses und auch ganz persönlich gratuliere ich Ihnen dazu herzlich und wünsche Ihnen alles Gute.

Nun treten wir in die Tagesordnung ein. Wie gestern vereinbart rufe ich den Tagesordnungspunkt 1 a auf:

Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Professor Dr. Böhmer zum Thema „Sachsen-Anhalt gemeinsam gestalten - Förderpolitik für Wachstum und Beschäftigung“

Meine Damen und Herren! Ich erteile nun dem Herrn Ministerpräsidenten Professor Dr. Böhmer dazu das Wort. Bitte schön.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu den Grundsätzen des Selbstverständnisses der Europäischen Gemeinschaft gehört eine gemeinsame Strukturförderpolitik zum mittel- und langfristigen Ausgleich der inneren Entwicklungsunterschiede. Das Prinzip der gemeinsamen Hilfe zur Selbsthilfe gehört zur konstituierenden Philosophie der Verträge der Europäischen Gemeinschaft.

Wir, die neuen Bundesländer, haben von Anfang an davon profitiert, weil wir mit der Wiedervereinigung zeitgleich auch ein Teil dieser Europäischen Gemeinschaft geworden sind. Am 1. Mai 2004 ist, wie Sie wissen, diese Gemeinschaft um zehn Mitgliedstaaten größer geworden, von denen einige einen gleichartigen wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Transformationsprozess durchleben mussten wie auch die neuen Länder in Deutschland. Nur hatten diese Länder nicht jene Hilfe, die wir im innerdeutschen Solidarpakt und Finanzausgleich erfahren haben. Trotz eines niedrigeren Sozialniveaus haben diese Staaten ihrerseits eine beachtliche eigene Entwicklung hinter sich, aber im EU-Vergleich noch immer ein niedrigeres Bruttosozialprodukt. Das verschiebt das Niveau der bisherigen Grenze zwischen den Förderregionen unterschiedlicher Bedürftigkeit.

Allein infolge dieses so genannten statistischen Konvergenzeffektes werden einige Regionen der neuen Bundesländer nicht mehr Zielregion 1 der Strukturförderung sein, ohne dass sich ihre eigene Situation selbst verbessert hätte.

Seit langem treten wir für eine Sonderregelung für diese etwa 16 vom statistischen Effekt betroffenen Regionen in Europa ein. Bereits im Mai 2003 hat uns der damals

für die Strukturpolitik in der EU zuständige Kommissar Barnier sein Verständnis und seine Unterstützung zugesagt. Ein Jahr später, im Mai 2004, haben wir das gleiche Problem mit dem damals für die Einhaltung der Wettbewerbsregeln zuständigen Kommissar Monti in Schwarzheide in Brandenburg mit dem gleichen Ergebnis besprochen.

Die jetzt für die Strukturpolitik zuständige Kommissarin Frau Hübner und der für die Industriepolitik zuständige Kommissar Verheugen haben mir Anfang Dezember vorigen Jahres ihre Unterstützung zugesagt, dabei aber auf eine Entscheidung der Bundesregierung verwiesen.

Wir haben gestern in Berlin einige Stunden mit dem Präsidenten der Kommission, Herrn Barroso, zusammengesessen, der uns versichert hat, seinerseits einen partnerschaftlichen Arbeitsstil zu suchen und anzustreben und mit uns darüber im Gespräch zu bleiben.

Das Problem ist noch offen, solange über die Gegenfinanzierung noch nicht abschließend entschieden wurde. Während der Tagung des Europäischen Rates der Staats- und Regierungschefs Ende März 1999 in Berlin unter Vorsitz von Bundeskanzler Schröder wurde beschlossen, die Obergrenze der Eigenmittel der Union auf der derzeitigen Höhe von 1,27 % des Bruttosozialprodukts der EU beizubehalten und 1,14 % als Obergrenze für Zahlungen an die Gemeinschaft vorzusehen.

Auf dieser Grundlage sind alle Finanzplanungen für die nächste Förderperiode vorbereitet worden. Dieser Beschluss ist noch nicht aufgehoben worden, aber sechs Länder, darunter federführend die Bundesregierung, haben inzwischen mitgeteilt, sie wollten nicht mehr als maximal 1,0 % des bei ihnen erwirtschafteten Bruttosozialprodukts einzahlen. Der gegenwärtige Ratspräsident Claude Juncker hofft, diesen Konflikt noch während seiner Präsidentschaft lösen zu können.

Sachsen-Anhalt wird während der gegenwärtigen Förderperiode, das heißt bis Ende des Jahres 2006, insgesamt 3,51 Milliarden € als Fördermittel von der EU bekommen haben. Sicher ist nur, dass es in der nächsten Förderperiode nicht mehr, sondern weniger sein werden.

Dessen ungeachtet laufen die Vorbereitungen für die nächste Förderperiode weiter. Die gegenwärtige finanzielle Vorausschau rechnet mit einem Fördervolumen von insgesamt 336,1 Milliarden € für den Zeitraum 2007 bis 2013 für alle 25 EU-Mitglieder. Entscheidungen über die Aufteilung und die Definition der unterschiedlichen Förderbedürftigkeit einzelner Regionen wurden bisher noch nicht getroffen.

Die EU-Kommission hat bisher sechs Verordnungsentwürfe vorgelegt und die einzelnen Fonds neu definiert. Die Verwaltungsverfahren sollen erheblich verändert werden. Während bisher ein operationelles Programm für alle drei Fonds, also den Europäischen Sozialfonds - ESF -, den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung - EFRE - und den Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft - EAGFL -, notwendig war, muss zukünftig für die drei großen Programme ESF, EFRE und ELER - das ist der neue Europäische Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raumes - jeweils ein eigenes operationelles Programm erarbeitet werden.

Auch der Verwaltungsvollzug wird sich künftig ändern. Wir werden dem Rechnung tragen, indem wir zwei Verwaltungsbehörden einrichten, eine im Ministerium der Finanzen und eine im Ministerium für Landwirtschaft und

Umwelt. Sie werden von einer gemeinsamen Geschäftsstelle in der Staatskanzlei koordiniert. Auch der steuernde interministerielle Arbeitskreis und die Strategische Clearingstelle auf der Staatssekretärsebene bleiben unverändert. Auf diese Weise wollen wir trotz eines veränderten Verwaltungsvollzugs die größtmögliche Kooperation und Abstimmung der einzelnen Förderprogramme organisieren.

Gegenwärtig sind die Mitgliedstaaten dabei, die empfohlenen Verordnungen zu beraten, und einen neuen nationalen Rahmenplan mit eigener Schwerpunktsetzung auf der Grundlage einer sozioökonomischen Analyse zu erstellen. Die Regionen mit eigener Gesetzgebungskompetenz - das sind in Deutschland die Länder - müssen dazu ihrerseits konkrete operationelle Programme für den nächsten Förderzeitraum erstellen.

Dabei sind wir zwar direkter Gesprächspartner der Kommission hinsichtlich der Vorbereitung und auch der Abwicklung der Programme, nicht aber formeller Vertragspartner. Die Kommission bestätigt der Bundesregierung die operationellen Programme ihrer Länder. Deswegen sind nachträgliche Änderungen ein mühsamer, zeitaufwendiger und für viele Beteiligte ein irritierender Vorgang. Das verlangt von uns Sorgfalt bei der Konzipierung und bei der Vorbereitung dieser Programme und es verlangt eine breite gesellschaftliche und parlamentarische Diskussion perspektivischer Entwicklungen. Dies war der eigentliche Grund, weshalb ich es für notwendig hielt, Ihnen dieses Thema heute vorzutragen.

Die wichtigsten Förderziele der nächsten Periode werden auch die des gegenwärtigen Zeitraumes sein, nämlich das Wachstum der Wirtschaftskraft des Landes und der Anstieg der Beschäftigungsquote. Bereits im Jahr 2003 hat die Landesregierung den Einsatz der EU-Mittel umfangreich evaluieren lassen. Damals konnte ein durch diese Fördermittel induzierter Anstieg des Bruttoinlandsproduktes und eine Steigerung der Zahl der Arbeitsplätze nachgewiesen werden.

Wichtiger als der kurzfristige nachfragestimulierende Effekt der Fördermittel ist die dauerhafte Erhöhung des regionalen Produktionspotenzials. Auch zukünftig kann es nicht darum gehen, aktuelle Bedürfnisse zu erfüllen, sondern nur darum, die Wirtschafts- und Wertschöpfungskraft der wirtschaftlichen Strukturen so zu erhöhen, dass das eigene Steueraufkommen wächst und dadurch die Transferabhängigkeit des Landes sinkt.

Im Vergleich zu den alten Bundesländern in Deutschland liegt die Infrastrukturausstattung pro Einwohner gegenwärtig bei etwa 75 %, der investierte unternehmerische Kapitalstock je Einwohner bei etwa 70 %, das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner bei 64 % und die durchschnittliche volkswirtschaftliche Produktivität bei 76 %.

Im Vergleich zu 1991 hat sich der Gesamtumsatz der Industrie in Sachsen-Anhalt mehr als verdoppelt. Die Beschäftigung in diesem Bereich sank im gleichen Zeitraum um etwa 68 % und steigt erst jetzt langsam - leider sehr langsam - wieder an. Das ist ein grundsätzliches Problem aller modernen Industriestaaten. Wegen des zeitlich gerafften technologischen Modernisierungsprozesses in allen neuen Bundesländern ist es dort besonders schwierig.

Im Übrigen - auch dies will ich sagen - deutet alles darauf hin, dass eine moderne Industriegesellschaft künftig zwischen dem regulären Arbeitsmarkt und den geschützten Arbeitsplätzen nach SGB III und SGB IX, die

es jetzt auch schon gibt, vermutlich auf Dauer einen gestützten Arbeitsmarkt - bei uns nach Maßgabe des SGB II - mit Lohnkostenzuschüssen als KombilohnModell brauchen wird.

Je anspruchsvoller und spezialisierter die modernen Arbeitsplätze werden, desto größer wird die Zahl derjenigen, die nur noch mit staatlicher Hilfe einen weniger differenzierten Arbeitsplatz ausfüllen können. Für die Programmierung der Sozialfonds muss auch dies eingeplant werden. Die Vorstellung, dass man alle Arbeitsmarktprobleme der modernen Industriegesellschaft zukünftig ausschließlich mit wirtschaftlichem Wachstum lösen kann, dürfte inzwischen von der Realität widerlegt worden sein.

(Zustimmung von Herrn Bullerjahn, SPD, und von Herrn Gallert, PDS)

Im Kern geht es darum, den Sozialstaat vom Konkurrenten zum Partner der privaten Wirtschaft zu machen und umzuorganisieren.

(Zustimmung bei der CDU und bei der FDP)

Trotzdem brauchen wir wirtschaftliches Wachstum gerade in den weniger entwickelten Regionen Europas, zu denen eben auch wir gehören. Dabei werden wir nicht erfolgreich sein, wenn wir produzieren und anbieten, was andere bereits bis zur Marktsättigung tun. Wir werden nur erfolgreich sein, wenn wir ausreichend innovativ sind.

Ich möchte Ihnen davon berichten, was ich am Mittwochvormittag auf der Hannover-Messe gehört habe. Ich war bei einem Aussteller aus Sachsen-Anhalt, einem kleinen Handwerksbetrieb, der zum ersten Mal dort ausgestellt hat. Dieser Betrieb hat eine spezielle Kupplung für Druckschläuche bis 200 bar entwickelt, eine Innovation, ein typisches Tüftlerergebnis, das er zum ersten Mal dort ausgestellt hat und das er zum Patent angemeldet hat - das Verfahren läuft, ist aber noch nicht abgeschlossen. Er wollte eigentlich nur testen, ob er Interessenten für seine Tüftelei findet. Er hat sich darüber gefreut, dass er an den ersten Tagen schon Kunden und Interessenten an seinem Stand hatte. Als er nach der zweiten Nacht wiederkam, waren zwei der drei Ausstellungsstücke gestohlen. Er weiß nicht, ob sich sein Messeauftritt gelohnt hat.

Wir haben bei uns einen erheblichen Nachholbedarf, das wissen Sie. Nur 3,2 % aller Aufwendungen für Forschung und Entwicklung in Deutschland werden in den neuen Bundesländern getätigt.

(Unruhe)

- Meine Damen und Herren, ich will Sie nicht bei Ihren Gesprächen stören. Wenn es wichtig ist, dann warte ich ein bisschen, ansonsten würde ich gern fortfahren. - Nur 15 % der Betriebe, die üblicherweise eigene Forschungs- und Entwicklungsabteilungen vorhalten, tun dies in den neuen Bundesländern.

Während im gesamtdeutschen Durchschnitt 8,2 % der Erwerbstätigen in Forschung und Entwicklung eingesetzt sind, sind es in Sachsen-Anhalt gegenwärtig nur 1,9 %. Während in den westlichen Flächenländern die Drittmitteleinnahmen aus der gewerblichen Wirtschaft 31 % der Gesamteinnahmen der Hochschulen ausmachen, sind es in Sachsen-Anhalt gegenwärtig nur 22 %.

Für die nächste Förderperiode müssen wir Schwerpunkte im Bereich der industrienahen Innovationsförderung

setzen. Nur mit innovativen Angeboten werden wir Marktanteile erobern. Wir haben längst gelernt, dass es in erster Linie darauf ankommt zu verkaufen. Was wir verkaufen können, können wir auch produzieren. Das gilt inzwischen weltweit. Wir sind da auch nicht so schlecht aufgestellt.

Es wird Ihnen nicht neu sein, dass wir etwa seit den frühen 90er-Jahren im Bereich des Weinbergcampus in Halle erheblich investiert haben. Dort sind speziell für diesen Zweck bereits 735,5 Millionen € investiert worden und bis 2008 sind noch einmal 120 Millionen € an Investitionen geplant. Natürlich erwarten wir auch eine volkswirtschaftliche Rendite aus dieser Investition.

Für die zukünftige Förderpolitik bedeutet dies, gezielt Innovationsförderkreisläufe zu organisieren. Mit der Wirtschaftsförderung nach Artikel 87 des EG-Vertrages wollen wir das Entwicklungs- und Forschungspotenzial der Betriebe fördern, die ihrerseits mit Drittmittelaufträgen die Forschungs- und Entwicklungskapazität unserer Hochschulen unterstützen. Wenn daraus industriell nutzbare Ergebnisse und verkaufbare Endprodukte entstehen, ergibt dies zusätzliche Arbeitsplätze und ein höheres eigenes Steueraufkommen. Nur wenn diese Konzeption aufgeht, war am Ende die Förderpolitik erfolgreich.

Schon vor den Initiativen der Bundesregierung haben wir in Sachsen-Anhalt mit einer eigenen Exzellenzoffensive für unsere Hochschulen begonnen. Durch Profilierung, Schwerpunktbildung und Konzentration sollen die Chancen im internationalen Wettbewerb verbessert werden. Die außeruniversitären Forschungseinrichtungen, aber auch Unternehmen sollen bei den Forschungsschwerpunkten Kooperationspartner der Hochschulen sein und werden.

Die Anwendungsorientierung der Forschung ist eines der wesentlichen Ziele zukünftiger Förderpolitik. Es kann nicht nur darum gehen, einfach Steuergelder zu verteilen. Unser Ziel muss es sein, Wirtschaftskreisläufe zu induzieren und Fördermittel so einzusetzen, dass sie möglichst mehrfach im Land zirkulieren. Das wird auch bedeuten, dass manche Projekte, die noch in dieser Förderperiode begünstigt wurden, zukünftig nicht mehr gefördert werden können und sollen.

Die im Europäischen Parlament geäußerte Kritik an der Förderung von Radwegen in Ostdeutschland muss man schon ernst nehmen. Es werden Jahrzehnte vergehen, bis durch die Nutzung von Radwegen für eine Region so viel Steuermehreinnahmen eingegangen sind, wie Steuergelder für den Bau ausgegeben wurden. An die volkswirtschaftliche Effizienz und Rendite zukünftiger Förderpolitik werden wir deshalb noch kritischere Maßstäbe anlegen müssen.

Das bezieht sich ebenso auf die Fördermethodik. Wir haben bereits damit begonnen, einen Teil der EU-Fördermittel in Form begünstigter Darlehen auszugeben, die dann nach Jahren in einen revolvierenden Fonds zurückfließen sollen. Dieses Instrument muss in der nächsten Förderperiode erheblich ausgeweitet werden.

Gegenwärtig laufen auch auf Bundesebene intensive Gespräche über die Öffnung der Förderprogramme für alternative Finanzierungskonzepte. Das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe wird gelegentlich - auch das müssen wir ehrlicherweise sagen - in den Nehmerländern anders interpretiert als in den Geberländern. Aus der Sicht eines Hilfe empfangenden Landes besteht die Neigung, so viele Anwendungsbereiche wie möglich hineinzuformulie

ren. Artikel 87 des EG-Vertrages schreibt zwingend vor, dass durch diese Hilfsmittel die eigene Wirtschafts- und damit Steuerkraft gestärkt werden muss. Dadurch soll das so genannte Konvergenzziel erreicht werden. Wären wir ein Geberland, würden wir das wahrscheinlich genauso sehen.