Protocol of the Session on July 8, 2004

Trauen Sie denn den Leuten in Sachsen-Anhalt nicht zu, dass sie lesen, hören und sich eine eigene Meinung bilden können?

(Lebhafter Beifall bei der PDS - Zustimmung von Frau Fischer, Naumburg, SPD)

Wir haben mit Volksbegehren völlig andere Erfahrungen gemacht.

(Frau Brakebusch, CDU: Ich auch! - Weitere Zu- rufe von der CDU: Wir auch!)

Am 20. Februar übergab das Bündnis dem Landeswahlleiter fast 40 000 Unterschriftslisten mit mehr als 300 000 Unterschriften, von denen letztlich 260 588 als gültig anerkannt worden sind.

Dass nicht noch mehr Wahlberechtigte ihre Unterschrift geleistet haben, liegt Herrn Ministerpräsident Böhmer zufolge daran, dass die restlichen Einwohner des Landes Sachsen-Anhalt dieses Gesetz nicht wollten. Wenn das wirklich so ist - das sage ich gerade Ihnen -, können Sie sich ja jedes politische und taktische Geplänkel schenken und einen Gegenentwurf mit in den Volksentscheid stellen.

(Beifall bei der PDS - Herr Schröder, CDU: Wir haben doch ein geltendes Gesetz!)

Was ist das Ziel unseres Gesetzentwurfs?

(Zuruf von der CDU: Oh, jetzt kommt es!)

Folgt man der öffentlichen Debatte, dann kristallisiert sich die Wahrnehmung in den zurückliegenden Monaten fast ausschließlich auf den Punkt, ob erwerbslose Eltern

ihre Kinder auch am Nachmittag in die Einrichtung bringen können.

(Herr Kurze, CDU: Können sie!)

Ich sage Ihnen unumwunden, dass wir das wollen, schon allein deshalb, weil für uns diese Erwerbslosen keine Menschen zweiter Klasse sind.

(Lebhafter Beifall bei der PDS - Oh! bei der CDU)

Ich möchte die zur Verfügung stehende Zeit allerdings dazu nutzen, auf die aus unserer Sicht wirklich wichtigen Aspekte zur Förderung, Bildung und Betreuung der Kinder einzugehen; denn nur darum geht es in unserem Gesetzentwurf.

(Zustimmung bei der PDS - Zurufe von der CDU)

Meine Frau und ich tragen die Verantwortung dafür, dass sich unser sechsjähriger Sohn und unsere achtjährige Tochter zu eigenständigen Persönlichkeiten entwickeln, die sich gut in die Gemeinschaft anderer Kinder oder Erwachsener einfügen können.

(Zustimmung bei der PDS - Frau Fischer, Merse- burg, CDU: Das ist auch wichtig!)

- Ich sage Ihnen das, um einmal mein Familienbild klarzumachen. - Wir versuchen, ihnen Toleranz, Verantwortung gegenüber anderen, aber auch Konsequenz und Geradlinigkeit zu vermitteln. Wie in zahllosen anderen Familien auch, sind das für uns keine Pflichten, die uns zwangsläufig zugefallen sind. Wir haben uns bewusst für unsere Kinder entschieden und wollen sie liebevoll und fürsorglich auf ihrem Weg begleiten.

(Zuruf von Herrn Kosmehl, FDP)

Ohne die Kindertagesstätten wären wir allerdings des Öfteren und nicht nur zeitlich überfordert gewesen. Unsere Kinder waren mit etwa einem Jahr in der Krippe und besuchen noch heute den Hort. Beide Kinder haben von der pädagogischen Kompetenz der Erzieherinnen genauso profitiert wie von dem vielfältigen Kontakt zu anderen Kindern.

(Starker Beifall bei der PDS - Zustimmung bei der SPD)

Erziehungswissenschaftler bezeichnen wohl vieles davon als Basiskompetenzen. Meine Frau und ich, wir haben uns sicherlich darüber gefreut, dass unsere Kinder früh laufen konnten, dass sie nicht bis vier, sondern nur bis zwei die Windeln brauchten. Überrascht haben uns allerdings die Entwicklung ihrer motorischen Fähigkeiten, die schnelle Erweiterung ihres Wortschatzes sowie die Fähigkeit, frühzeitig ganze Sätze zu bilden. Die Notwendigkeit, sich im gemeinsamen Spiel mit anderen Kindern einzugliedern, aber auch mal durchzusetzen, hat ihre Umgangsformen positiv beeinflusst.

(Lebhafter Beifall bei der PDS - Zustimmung bei der SPD - Zurufe von der CDU)

Genau das ist es auch, was ich von den Kindertagesstätten erwarte.

(Herr Scharf, CDU: Das machen sie doch! - Herr Kosmehl, FDP: Ja, richtig!)

Sie sollen neben ihrer Betreuungsfunktion dem Anspruch der Kinder auf Förderung und Bildung gerecht werden.

(Frau Feußner, CDU: Das tun sie doch auch! Das machen sie doch! - Weitere Zurufe von der CDU)

Kindertagesstätten sollen wirkungsvoll dabei helfen, bestehende Unterschiede auszugleichen

(Zuruf: Genau!)

und allen Kindern - allen! - gute Startchancen für den Schulanfang zu bieten.

(Beifall bei der SPD und bei der PDS - Zurufe von Herrn Kosmehl, FDP, und von Frau Feußner, CDU)

Sie sollen mithelfen, Fundamente für die Persönlichkeitsentwicklung herauszubilden, die unsere Kinder für das ganze Leben brauchen.

(Zurufe von der CDU und von der FDP)

Meine Damen und Herrn Abgeordneten! Das ist wie bei einem Haus: Wenn die Fundamente bröckeln, dann kommt uns die Schieflage teuer zu stehen.

(Zustimmung bei der PDS - Zuruf von Frau Wy- brands, CDU)

Seit dem In-Kraft-Treten Ihres Kinderförderungsgesetzes fehlt in unserer Einrichtung eine Erzieherin.

(Frau Wybrands, CDU: Wenn Mütter die Kinder erziehen, holpert das Ganze, ja? Das kann nicht wahr sein!)

Den restlichen Erzieherinnen fällt es, weil ihnen auch noch die Arbeitszeit gekürzt wurde, zunehmend schwerer, die entstandenen Defizite auszugleichen,

(Zurufe von Frau Wybrands, CDU, und von Herrn Kosmehl, FDP)

geschweige denn einen erweiterten Bildungsauftrag wahrzunehmen.

(Zustimmung bei der SPD und bei der PDS - Oh! bei der CDU und bei der FDP)

Die Landesregierung sieht jedoch mit ihrem Kinderförderungsgesetz - anders als zahllose Betroffene - verbesserte pädagogische Standards und erweiterte Möglichkeiten der Förderung und Bildung - allerdings wohl nur am Vormittag. Vom gemeinsamen Lernen und Spielen am Nachmittag schließt sie per Gesetz jedes dritte Kind im Land seit mehr als einem Jahr aus.

(Beifall bei der SPD und bei der PDS - Herr Kos- mehl, FDP: Nein, nein! Wo steht das? Wo steht das?)

Das Gesetz schließt diese Kinder aus, weil ihre Eltern in diesem Land keine Arbeit finden, in einem Land, das seit Jahren die höchste Arbeitslosigkeit aufweist.

(Herr Scharf, CDU: Das ist falsch, einfach falsch! Das ist eine falsche Unterstellung! - Herr Kos- mehl, FDP: Wo steht das? Wo steht, dass die Kinder nicht gebracht werden können? - Frau Bull, PDS: Im Gesetz, Mensch! Gucken Sie doch mal rein!)

Ich komme später noch zu der frühkindlichen Erziehung und den Umgangsformen, die sich daraus entwickeln können.

(Heiterkeit bei der PDS - Unruhe bei der FDP)

In keinem vergleichbaren Industrieland entscheidet die soziale Herkunft so sehr über den Bildungserfolg wie in Deutschland.

(Herr Gürth, CDU: Das ist nicht zutreffend!)

Anstatt nun aber solche Nachteile auszugleichen und die Chancengleichheit der Kinder zu verbessern, macht die Landesregierung den Umfang der Förderung und Betreuung der Kinder genau an diesem Punkt fest, an der Erwerbstätigkeit der Eltern.