Protocol of the Session on September 18, 2003

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bedauere es ein wenig, dass die Gesamtdiskussion über die Gesundheitsreform hier nicht mehr die notwendige Zuhörerschaft findet.

(Zustimmung von Herrn Tullner, CDU, und von Frau Grimm-Benne, SPD)

Ich glaube, alle Anwesenden, die gesetzlich versichert sind, sind an dieser Stelle auch betroffen; aber wir als Landespolitiker haben, auch wenn wir nicht direkt Gesetzgeber sind, hier durchaus eine Verantwortung. Wir haben ja auch gewisse Kompetenzen im Bereich des Krankenhausbaus, im Bereich der Kassenärztlichen Vereinigung und im Bereich der lokalen Versicherungen, sodass es, glaube ich, schon wichtig ist, dass vor allem diejenigen Abgeordneten, die mit diesem Thema nicht so befasst sind, aus dieser Diskussion das eine oder andere mitnehmen können. Ich wünsche allen in den Fraktionen viel Glück bei der Vermittlung. Einfach ist die Materie mit Sicherheit nicht.

Nachdem wir eben über die Ausgabenseite diskutiert haben, folgt jetzt eine erneute Diskussion über die Einnahmenseite. Aber, sehr geehrte Frau Bull, es ist schwierig, an dieser Stelle ernsthaft darüber zu diskutieren, weil der Begriff „Bürgerversicherung“ im Moment nichts weiter als eine Nebelkerze darstellt.

Es gibt die verschiedensten Modelle einer Bürgerversicherung. Es gibt das Seehofer’sche Modell, das ganz anders aussieht als das Modell des BMGS, und das Modell von Herrn Fischer, ehemals Außenminister, jetzt offensichtlich auch Gesundheitspolitiker, ist noch anders. Es ist der Versuch einer Fusion mit Nulleffekt, wobei einfach der Begriff „Bürgerversicherung“ weiter verwendet werden soll.

Ich glaube, das Thema so ad hoc zu entscheiden, dafür oder dagegen, ist - das habe ich eben schon kurz aufgezeigt - gar nicht möglich. Man muss untersuchen, was für Auswirkungen die einzelnen Modelle real haben, und zwar nicht nur auf der Einnahmen-, sondern auch auf der Ausgabenseite. Wenn alle einbezogen werden, wird es nämlich auch neue Leistungsempfänger geben. Davon hat bisher niemand gesprochen.

Es ist ernsthaft eine Frage, wie Sie, wenn Sie jetzt wirklich alle privat Versicherten einbeziehen wollen, mit den Kapitalansparungen umgehen wollen. Das sind Themen, die hinreichend geklärt werden müssen, bevor wir Ja oder Nein sagen.

An dieser Stelle wäre es, glaube ich, zu kurz geschossen, die Landesregierung zu verpflichten, einem Begriff zuzustimmen. Wissen wir denn, was morgen unter dem Begriff „Bürgerversicherung“ verstanden wird? Eine Bürgerversicherung ist eigentlich auch wichtig, weil jeder Bürger irgendwo versichert sein sollte.

Ich könnte Ihnen also vielleicht insoweit folgen, dass wir uns intensiv bemühen müssen, dass die bisherigen Sozialhilfeempfänger auch in irgendeiner Weise in die Versicherung einbezogen werden und nicht nur direkt über die Gemeinden bezahlen. Aber ich glaube, auch an dieser Stelle weist der gegenwärtige Konsensentwurf eine gute Möglichkeit auf.

Herr Minister, möchten Sie eine Frage von Herrn Gallert beantworten?

Ja, bitte.

Bitte, Herr Gallert.

Herr Minister, Sie haben jetzt gesagt, dass sämtliche Modelle noch diskutiert würden, dass alles noch offen sei und dass man deswegen keine Position dazu einnehmen könne. Das wundert mich ein bisschen, weil Ihre Partei schon eine Position eingenommen und die Bürgerversicherung als „Würgerversicherung“ bezeichnet hat. Damit ist die Diskussion für Sie im Grunde genommen doch schon beendet. Wenn Sie sagen, man wisse gar nicht, worüber diskutiert werde, frage ich mich, wogegen Ihre Partei eigentlich Sturm läuft.

(Zuruf von Herrn Dr. Püchel, SPD)

Sie können doch wohl die Frage beantworten, wogegen Ihre Partei Sturm läuft!

Ich bin mir sicher, dass die Bundespartei der FDP gegen das diskutierte Bürgergeld des Bundesgesundheitsministeriums Sturm läuft. Ob da andere Modelle eingeschlossen sind, weiß ich nicht. Wie gesagt, wir verweigern uns keiner Gesamtdiskussion, sehen aber mit dem leuchtenden Begriff „Bürgerversicherung“ nicht die Lösung der Probleme. Ich kann doch nicht denken, ich könne in einem kranken System alle möglichen Menschen abschröpfen, um es dadurch effektiver zu machen. Es ist nicht die Verantwortung von Politikern, ein schlechtes System am Leben zu erhalten. Es ist die Verantwortung von Politikern, Systeme so zu gestalten, dass den Bürgerinnen und Bürgern die bestmöglichen Leistungen bei geringstmöglichem Einsatz vermittelt werden.

(Beifall bei der FDP - Zustimmung bei der CDU)

Vielen Dank, Herr Minister Kley. - Bei der Debatte werden wir jetzt die Rednerinnen und Redner wie soeben hören, bloß in etwas veränderter Reihenfolge. Es beginnt diesmal Herr Scholze für die FDP.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten! Die Tinte des Berichtes der Rürup-Kommission ist noch nicht richtig getrocknet, da wird schon von allen Seiten darüber philosophiert, wie man denn die Erkenntnisse in gesetzgeberisches Handeln einfließen lassen kann. Doch bereits bevor der Bericht überhaupt fertig gestellt wurde, zeichnete sich ab, dass der Kommissionsvorsitzende Professor Rürup und der Lieblingsberater unserer Bundesgesundheitsministerin Professor Lauterbach keinen einstimmigen Vorschlag aus der Arbeit der Kommission entwickeln werden. Das Y-Modell war geboren, die Reformmodelle Bürgerversicherung und Kopfpauschale stehen sich offensichtlich unvereinbar gegenüber.

Wenn man die Problematik der Bürgerversicherung in nur fünf Minuten Redezeit abhandeln muss, bleibt zwangsläufig vieles ungesagt, was in diesem Zusammenhang eigentlich ebenfalls dargestellt werden müsste. Ich will mich daher auf Aspekte beschränken, die sich ausschließlich mit der Bürgerversicherung befassen.

Was sind denn die Kernelemente der Bürgerversicherung? Ziel der Bürgerversicherung ist es, durch eine Verbreiterung der Einnahmebasis medizinisch notwendige Leistungen zu finanzieren. Neben der Erfassung aller

Einkommensarten wird die Beitragsbemessungsgrenze drastisch erhöht und beitragspflichtig sind neben Arbeitnehmern auch Beamte, Selbständige und Landwirte.

Wo liegen die Probleme im aktuellen gesundheitspolitischen Kontext?

Problem Nr. 1: Die Ausgaben steigen. Beklagt werden insbesondere die durch den medizinischen Fortschritt und die angebotsinduzierte Nachfrage steigenden Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung.

Problem Nr. 2: der demografische Wandel. Seit Jahren haben wir eine steigende Lebenserwartung. Die Menschen werden immer älter. Sie können dank des medizinischen Fortschritts am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Das ist eine positive Entwicklung mit dem Nebeneffekt der steigenden Nachfrage nach medizinischen Leistungen.

Problem Nr. 3: Die Einnahmen sind arbeitskostenbezogen. Die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung werden zu gleichen Teilen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern finanziert. Bei steigender Arbeitslosigkeit in Konjunkturkrisen sinken die Einnahmen in der GKV. Folglich müssen Beiträge angehoben werden, um die Leistungen bezahlen zu können. Damit steigen die Lohnnebenkosten; die Attraktivität, neue Arbeitsplätze zu schaffen, sinkt.

Vor diesem Hintergrund muss ein zukunftsfähiges Finanzierungssystem für Leistungen der GKV entwickelt werden.

Wir wissen aber auch: Die Diskussion über das Reformmodell Bürgerversicherung befasst sich im Wesentlichen mit dem gesundheitspolitischen Steuerungsziel der Finanzierung des Gesundheitswesens. Es werden andere wichtige Steuerungsziele, wie zum Beispiel Zugangsrationalität, Systemqualität, Effektivität und Versorgungsqualität, ausgeklammert.

Kommen wir zurück auf die Bürgerversicherung. Sie wird genau die erwähnten Probleme nicht lösen. Vielmehr wird ein Status quo erhalten. Zwar wird man in der Anfangsphase der Einführung die gewünschten Mehreinnahmen erzielen, doch mit der Zeit stehen der Bürgerversicherung mehr Leistungsempfänger mit steigender Lebenserwartung gegenüber. Wir werden also die gleiche Finanzierungslücke, die jetzt die Politik in Handlungsdruck versetzt, in wenigen Jahren in verstärkter Form wieder erleben.

Der vorübergehende positive Finanzierungseffekt wird durch einen negativen Ausgabeneffekt überkompensiert.

(Frau Dr. Kuppe, SPD: Eben gerade nicht!)

Das ist weder innovativ noch generationengerecht. Dieses simple Gedankenspiel entlarvt das Konzept der Bürgerversicherung als das, was es ist: ein vordergründiger, rein populistischer Ansatz, der Gerechtigkeit vorgaukelt, in Wirklichkeit aber ungerecht ist, weil einmal mehr Finanzierungsprobleme auf künftige Generationen verlagert werden.

Am Rande möchte ich nur auf einen interessanten landespolitischen Aspekt verweisen. Die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen - sie steht ja nun nicht in dem Verdacht, konservativ und liberal zu sein - hat ermittelt, dass eine Bürgerversicherung mit erheblichen Mehrkosten für den Landeshaushalt verbunden ist. Nach einer entsprechenden Untersuchung belaufen sich dort die jährlichen Mehrkosten für eine Regelversicherung akti

ver Landesbeamter und solcher im Ruhestand in der gesetzlichen Krankenversicherung auf bis zu 550 Millionen €.

Wir als Liberale werden uns in die anstehende Debatte zur zukunftsfähigen Gestaltung unseres Gesundheitswesens und des Finanzierungssystems einbringen. Eine Bürgerversicherung nach dem jetzt vorliegenden Modell wird nicht unsere Zustimmung finden. Das schließt den Antrag der PDS, wie er hier vorliegt, mit ein. - Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vielen Dank, Herr Scholze. - Für die SPD-Fraktion erteile ich der Abgeordneten Frau Dr. Kuppe das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Die Finanzierungsgrundlagen der Krankenversicherung in Deutschland müssen neu geordnet und mittel- bis langfristig gesichert werden. Ich hoffe, dass darüber Konsens in diesem Haus besteht.

Einzelne Sachverständige und Kommissionen haben dazu unterschiedliche Vorschläge unterbreitet. Karl Lauterbach und Bert Rürup stehen für die personifizierten gegensätzlichen Pole von Konzepten: Volks- oder Bürgerversicherung auf der einen Seite, Kopfpauschale bzw. Gesundheitsprämie auf der anderen Seite. Dazwischen werden jeden Tag neue Varianten und Mischformen mehr oder weniger ernsthaft platziert und zur Bewertung und Umsetzung vorgeschlagen. Dieser vielstimmige Chor reflektiert in der Tat eine ziemlich unübersichtliche Gemengelage.

Umso mehr hätte uns als Landtagsabgeordnete in diesem Punkt die Haltung der Landesregierung zur zukünftigen Finanzierungsgrundlage der gesetzlichen Krankenversicherung interessiert.

(Zustimmung bei der SPD)

Diese inhaltslosen Bemerkungen, Herr Minister, die nützen uns allen nichts.

(Zustimmung bei der SPD)

Die Kopfpauschale oder Gesundheitsprämie konzentriert sich auf den ersten Blick auf die einfache Regel, dass alle bisher in der GKV Versicherten und die bisher beitragsfrei mitversicherten Familienmitglieder eine einheitliche Pauschale von ca. 210 € pro Monat in die Kasse zu entrichten haben. Der Arbeitgeberanteil soll dem Lohn zugeschlagen und damit eine Abkoppelung dieser Abgaben vom Faktor Arbeit erreicht werden, was ja erst einmal grundsätzlich ein sinnvolles Ziel ist.

Da aber in diesem System beispielsweise eine Verkäuferin eine Prämie in derselben Höhe zu zahlen hätte wie ein leitender Angestellter eines Unternehmens, soll diese Gerechtigkeitslücke durch einen riesigen Umverteilungsprozess gemildert werden. Ein steuerfinanzierter Einkommensausgleich, der jährlich im Bundeshaushalt zu beschließen wäre, müsste ein Finanzvolumen von 20 bis 30 Milliarden € pro Jahr in Richtung Versicherte mit geringem Einkommen lenken. An die damit verbundene bürokratische Maschinerie möchte ich gar nicht denken.

Die Volks- oder Bürgerversicherung möchte das bestehende, aber durchlöcherte Solidarprinzip wieder stär

ken und qualifizieren. Neben abhängig Beschäftigten sollen auch Selbständige, Beamte und bisher privat versicherte Gutverdienende sowie weitere Einkommensarten wie Zinsen, Dividenden und Mieteinnahmen berücksichtigt werden. Damit würde die Einnahmebasis enorm verbreitert werden und die Beitragssätze könnten sinken.

Kritiker wie Sie, Herr Scholze, sagen, es gibt durch zusätzliche Einzahlerinnen und Einzahler natürlich auch mehr Anspruchsberechtigte auf Leistungen. Damit könnten die Ausgaben steigen. Da aber bei entsprechender Veränderung, wie es ja in der Diskussion ist, der Veränderung von Versicherungspflicht- und Beitragsbemessungsgrenzen, auch die so genannten guten Risiken und die Gutverdienenden ins System hineinkommen,

(Zustimmung bei der PDS)

wird sich nach anderen Prognosen, als sie Ihnen vorliegen, im Saldo ein positiver Wert ergeben.

Darauf setzen wir, weil zudem das Solidarprinzip an sich in der Bevölkerung einen hohen Stellenwert genießt, und der darf nicht ohne Not aufs Spiel gesetzt werden.