Protocol of the Session on March 13, 2003

Inwieweit andere diskutierte Gebietsänderungen vom Gesetzgeber Entscheidungen verlangen werden, bleibt abzuwarten. Dass eine Verringerung der Anzahl von Verwaltungseinheiten wenigstens mittelfristig zu Personaleinsparungen führt, ist unstrittig. Ich halte es sogar für wahrscheinlich, dass zu gegebener Zeit auch eine solche Reform notwendig werden könnte. Aber, meine Damen und Herren, die modernen intranet- und internetbasierten Kommunikationstechnologien lassen manche dieser Diskussionen jetzt schon als antiquiert erscheinen.

Als erstes Bundesland hat Baden-Württemberg ein elektronisches Bürgerdiensteportal aufgebaut. Das Landesportal ist für alle Kommunen geöffnet und bietet interaktiven Service für fast alle Verwaltungsfunktionen. Die Bürger müssen kaum noch zu einem Amt.

Wir haben ebenfalls vorgesehen, unser Landesportal zusammen mit den Kommunen in ähnlicher Weise auf- und auszubauen. Beim Aufbau eines Landesverwaltungsamtes wollen wir zwar Entscheidungsprozesse und Kompetenzen zentralisieren, aber nicht unbedingt die gesamte Verwaltungsarbeit. Moderne Systemanbieter, auch aus Sachsen-Anhalt, arbeiten an Systemlösungen für dezentrale Verwaltungen in anderen Bundesländern. Dann müssen auch wir uns von den Denkvorstellungen des vergangenen Jahrhunderts befreien. Wir wollen Sachsen-Anhalt eben nicht für gestern und auch nicht nur für heute, sondern für morgen und übermorgen aufbauen.

Meine Damen und Herren! Es war mir wichtig, dies vorzutragen, weil in der nächsten Zeit auf allen Ebenen, vom Konvent der Europäischen Union über den Bundestag und die Landtage bis zu unseren Kreis-, Stadt- und Ortsräten, eine Fülle von Reformschritten zu entscheiden sein wird, die für unsere zukünftige Entwicklung notwendig sind. Das wird im Einzelfall von uns verlangen, uns selbst zu bewegen und uns aus der Befangenheit in bisherigen Denknormen zu befreien. Jeder von Ihnen weiß, wie schwierig das ist.

Um die Zukunft zu gestalten, wird es nicht genügen, nur gegenwärtige Strukturvorstellungen bewahren zu wollen. Dazu bedarf es zwischen Regierung und Gesetzgeber auch einer Übereinkunft über die Reihenfolge der einzelnen Schritte und gemeinsamer Entscheidungsmaximen. Alle Entscheidungen zu den Strukturen der Selbstverwaltung und den Reformen der Risikoabsicherung müssen unter den Zwängen der Entwicklung und Gestaltung des Wirtschaftsstandortes Sachsen-Anhalt getroffen werden. Nur wenn es uns gelingt, unser Land zu einem werthaltigen Wirtschaftsstandort zu entwickeln, zu einem Land, in das sich auch andere einbringen, weil sie sehen, wie entschlossen wir uns selbst einzubringen in der Lage sind, nur dann werden wir den Wettbewerb der Regionen gewinnen oder in diesem Wettbewerb wenigstens eine Chance haben.

Weil wir vorhaben, Ihnen dazu in den nächsten Wochen und Monaten eine Reihe von Gesetzentwürfen vorzulegen, die dieser Entwicklung dienen sollen, habe ich vorgeschlagen, Ihnen dieses Thema heute anzubieten. Weil wir darüber auch einen gemeinsamen Konsens finden müssen. - Vielen Dank.

(Lebhafter Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Vielen Dank, Herr Ministerpräsident. - Meine sehr verehrten Damen und Herren! Begrüßen Sie mit mir Damen und Herren des Rotary Clubs Bitterfeld mit seinem Vizepräsidenten und unserem Landtagspräsidenten Herrn Wolfgang Schaefer auf dieser Tribüne.

(Beifall im ganzen Hause)

Begrüßen Sie ebenfalls mit mir Schülerinnen und Schüler der Sekundarschule „Am Gröpertor“ in Halberstadt

(Beifall im ganzen Hause)

sowie Schülerinnen und Schüler des Luther-Gymnasiums Wittenberg.

(Beifall im ganzen Hause)

Nunmehr treten wir in die

Aussprache zur Regierungserklärung

ein. Der Ältestenrat schlägt eine Debattendauer von 85 Minuten mit folgender Reihenfolge und mit folgenden Redezeiten vor: PDS-Fraktion 13 Minuten, FDP-Fraktion neun Minuten, SPD-Fraktion 13 Minuten und CDU-Fraktion 25 Minuten. Der Landesregierung stehen weitere 25 Minuten zur Verfügung.

Ich rufe als erste Rednerin für die PDS-Fraktion die Abgeordnete Frau Dr. Sitte auf. Bitte sehr, Frau Dr. Sitte.

Danke, Herr Präsident. - Meine Damen und Herren! Herr Ministerpräsident! Das Fazit steht eigentlich schon am Anfang der Diskussion: So wie es ist, kann es nicht bleiben. „Reformen braucht das Land“, sagt der Minister- und Bundesratspräsident und hält heute eine Regierungserklärung. „Reformen braucht das Land“, sagt der Bundeskanzler und hält morgen eine Regierungserklärung. „Reformen brauchen die Länder“, schallt es aus dem Bundesrat und aus dem Bundestag. Die aktuellen Zustände werden als untragbar, wirtschaftshemmend und investorenfeindlich angesehen. Rund fünf Millionen arbeitslose Menschen sind ein lebendiger Beweis für die vielen Sackgassen, in die gesteuert wurde. Deshalb bedarf es also der Reformen.

Deutschland - ein Land der Reformer! Dies ist doch einmal etwas ganz Neues in Ost und in West. Der geübte Staatsbürger ahnt es schon: Da muss es ein Aber geben; denn die Reformen lassen auf sich warten. Reformwille führt nicht linear zu Reformkraft. Zu verschieden scheinen die Vorstellungen über Reforminhalte zu sein. Da fragt man sich: Ist das wirklich so? Wie tief geht diese Differenz wirklich? Gibt es substanzielle inhaltliche Kritik?

Genau genommen hat die CDU längst selbst die Antwort gegeben. Indem sie nämlich der SPD vorgeworfen hat, sie habe aus dem Wahlprogramm von CDU/CSU abgeschrieben bzw. wesentliche Teile übernommen, macht sie klar, dass die Richtung die gleiche ist, nur eben nicht in Tempo und in Weite. In der Substanz gibt es also wesentliche inhaltliche Schnittmengen.

Was soll - fragt man sich dann weiter - das Getöse aus beiden Lagern? Was will uns der Ministerpräsident eigentlich sagen, wenn es doch offensichtlich nur darum

geht, in der medialen Welt den Führungsanspruch zu behaupten?

(Beifall bei der PDS)

Schickt er seine Botschaft nicht vor allem deshalb heute in die Welt, weil er glaubt, als Chef des Bundesrates die Gefäßweite für die Blut-Schweiß-undTränen-Rede des Bundeskanzlers morgen vorgeben zu müssen?

(Beifall bei der PDS)

Wenn also die Grundsubstanz der Reformvorstellungen von CDU und SPD im Wesentlichen Übereinstimmung aufweist, dann ist der Grund für das schleppende Tempo doch vor allem in parteipolitischen Taktiken zu suchen.

An dieser Stelle kommt es dann aus meiner Sicht zu der einzig interessanten Frage: Worüber sind sich die zwei Parteien eigentlich derart einig, dass es in diesem gesamten Streit nur noch graduelle Diskussionen und parteitaktische Hintergründe gibt? Ist ein Interessenausgleich innerhalb dieses Reformprozesses überhaupt noch in Sicht oder haben sich nicht genau genommen beide Parteien sehr einseitig festgelegt? Gibt es innerhalb dieses Kompromisses, der da in Aussicht steht, wirklich Gewinner, gibt es Verlierer im Sinne von Kompromissen?

Bislang war es nämlich so, dass Politik vor der Aufgabe stand, einen Kompromiss für die Arbeitgeberseite ebenso wie für die Arbeitnehmerseite zu schließen. Das Symptomatische an der aktuellen Reformdebatte ist jedoch, dass alle Reformvorschläge ausschließlich zulasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und viele zulasten des Mittelstandes gehen. Erinnert sei an die Eichel’sche Steuer- und Unternehmensteuerreform, erinnert sei an die Hartz-Gesetze und den Umbau sowie die Kürzungen bei der Bundesanstalt für Arbeit, an die Pläne, den Kündigungsschutz aufzuweichen, das Ladenschlussgesetz heute abzuschaffen, an die Vorschläge zur Abschaffung des Solidar- und Paritätsprinzips in den Sicherungssystemen, an umfangreiche Leistungseinschränkungen in allen Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge.

Steuersenkungen werden in die Diskussion gebracht, aber wiederum nur für die Seite der Arbeitgeber. Der Staat soll aus seiner bisherigen Verantwortlichkeit für die Gesellschaft als Ganzes austreten. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie ihren Interessenvertretungen wird suggeriert, dass es gerade ihr Anspruchsdenken sei, welches für den Niedergang der Wirtschaft verantwortlich zeichne.

(Beifall bei der PDS)

Die Positionen, die zum Kündigungsschutz vertreten werden, zeigen exemplarisch, was ich meine. Deshalb führe ich das etwas genauer aus.

Kündigungsschutz heißt nicht, dass Kündigungen unmöglich sind. Er fordert lediglich die Notwendigkeit von sachlichen Begründungen. Das sind bekanntermaßen betriebsbedingte Gründe und Gründe, die im Verhalten der Person des Arbeitnehmers liegen. Die Lockerung wird derzeit mit der Behauptung gefordert, dass man ohne Abfindung gar keinen mehr losbekäme.

Wie aber sieht die Wirklichkeit aus? 78 % der Kündigungen laufen ohne Betriebsräte, laufen ohne Arbeitsgerichte und ohne Abfindungen. Nur 14 % vollziehen sich überhaupt mit Abfindungen. Das legt doch die Ver

mutung nahe, dass es sich hierbei um ein vorgeschobenes Argument handelt.

(Beifall bei der PDS)

Ganz ähnlich verhält es sich in Bezug auf die Sozialauswahl, deren Elemente in Dauer der Betriebszugehörigkeit und Alter des Arbeitnehmers bzw. dessen Unterhaltsverpflichtungen bestehen. Insbesondere nach Letzterem zu fragen gebietet sich sozial gerade in der gegenwärtigen Situation, doch auch mit Blick auf das Grundgesetz. Wie heißt es dort in Artikel 14: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Viele Unternehmer und Unternehmerinnen gerade auch im Osten sind sich dieser besonderen Verantwortung bewusst und handeln danach.

Dennoch können auch aus wirtschaftlichen Gründen im Interesse des Betriebes Ausnahmen gemacht werden, und in den ersten sechs Monaten der Beschäftigung greift der Kündigungsschutz überhaupt nicht, gleich wie groß der Betrieb ist. Die Hartz-Gesetze ihrerseits schränken den Kündigungsschutz besonders für über 50-Jährige bedeutend ein.

Das alles ist mit den gegenwärtigen Regelungen des Kündigungsschutzes möglich. Die neuen Pläne weichen den Kündigungsschutz erneut auf. Auch in der Kohl-Ära - das muss man an dieser Stelle feststellen - gab es einen solchen Kündigungsschutz, den alten Kündigungsschutz sozusagen, und trotzdem standen wir damals auch vor einem 5-Millionen-Arbeitslosen-Heer.

Nach der Einschränkung des Kündigungsschutzes im Jahr 1996 versicherte das Handwerk, bundesweit würden über 300 000 Arbeitsplätze geschaffen. Erst unlängst sagte Norbert Blüm, der damals zuständige Minister, dazu, dass er auf diese 300 000 Arbeitsplätze heute noch warte. Im Jahr 1999 belegte eine OECD-Studie eindeutig, dass aus Lockerungen des Kündigungsschutzes keine zusätzlichen Arbeitsplätze erwachsen.

Gern wird in diesem Zusammenhang auch auf andere europäische Länder, wie beispielsweise die Niederlande, verwiesen. Dort aber bedarf es zur Kündigung sogar einer staatlichen Genehmigung. In Österreich und Italien müssen selbst bei berechtigten Kündigungen Abfindungen gezahlt werden.

Die geforderte und angekündigte Verkürzung der Dauer des Bezugs von Arbeitslosengeld auf einen Zeitraum von ca. zwölf bis 18 Monaten wäre aus meiner Sicht überhaupt nur dann akzeptabel, wenn Regierung und Wirtschaft ihrerseits ihre Hausaufgaben machten und innerhalb von zwölf bis 18 Monaten die vielleicht rund fünf Millionen fehlenden Arbeitsplätze noch schaffen würden.

(Beifall bei der PDS)

Das Wort „vielleicht“ deshalb, weil es bis dahin ein paar mehr sein könnten.

In Sachsen-Anhalt jedenfalls stehen den 288 424 gemeldeten Arbeitslosen 10 044 offene Stellen gegenüber. Daran zeigt sich doch, zu wessen Lasten diese Pläne gehen.

Mit den geplanten Maßnahmen wird sich der Verdrängungswettbewerb unter Arbeitnehmern und Arbeitsuchenden, nicht aber unter Investoren verschärfen. Denn zeitgleich wird aus der Wirtschaft betont, dass sich die wirtschaftliche Lage in absehbarer Zeit nicht verbessern werde. Dagegen werden sich Fluktuations- und

Rotationsprozesse auf dem Arbeitsmarkt verschärfen und beschleunigen.

Mehr Arbeitsplätze werden in der Summe nach allen bisherigen Erfahrungen ohne eine kaufkräftige Nachfrage auf dem Markt, sei es für Investitions- oder Konsumgüter, also nicht entstehen. Viel schlimmer: Die ständige Angst um Arbeit zieht gravierende Veränderungen im Konsumverhalten nach sich. Unsicherheiten wegen befristeter Arbeitsrechtsverhältnisse führen insbesondere bei geplanten größeren Käufen zu spürbarer Zurückhaltung.

Jeder und jede, die sich diesem Mainstream offizieller Politik einseitiger Interessenvertretung entgegenstellt, wird als Reformbremse gebrandmarkt. Die Paralyse entsteht also, möchte man zynisch anmerken, weil das Prinzip der Chancengleichheit in der Interessenvertretung besteht.

Der Kanzler hat nun in dieser Phase die Nerven verloren. Nachdem seine letzten Vermittlungsversuche gescheitert sind, zieht er es nun allein durch. Er wird es morgen auch sagen. Dabei gibt er selbst längst keine sozialdemokratischen Antworten mehr auf die großen Konflikte dieser Gesellschaft.

Die offizielle Amtssprache ist in diesem Lande also Wirtschaftsdeutsch geworden. Kanzler Schröder will nach eigener Aussage morgen Gestaltungshoheit zurückgewinnen. Aber das funktioniert aus unserer Sicht im Grunde genommen nicht durch Preisgabe von Kompetenzen und Pflichten, denen er sich bisher hat stellen müssen, sondern es werden preisgegeben Interessen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, Mittelständlern, und es werden preisgegeben staatliche Kernaufgaben, die bisher völlig unumstritten waren und die auch durch das Grundgesetz gefordert werden.

In diese Phase fällt der Vorschlag einiger ostdeutscher Ministerpräsidenten, Ostdeutschland zur Modellregion für Entbürokratisierung und Deregulierung zu machen. Hört man das das erste Mal, denkt man, das klingt gar nicht so schlecht. Natürlich hat die Bürokratie längst labyrinthische Ausmaße angenommen, aber unter Deregulierung wird auch der Abbau von Arbeits-, Kündigungs-, Bau-, Planungs- und Mitbestimmungsrechten verstanden - alles Dinge, für die der Osten teilweise schon seit Jahren über deutlich abweichende Regelungen verfügt.