Protocol of the Session on April 6, 2001

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hiermit eröffne ich die 56. Sitzung des Landtages von SachsenAnhalt der dritten Wahlperiode. Dazu begrüße ich Sie, verehrte Anwesende, auf das Herzlichste.

Ich stelle die Beschlussfähigkeit des Hohen Hauses fest.

Wir setzen nunmehr die 30. Sitzungsperiode fort. Wir beginnen die heutige Beratung mit dem Tagesordnungspunkt 1 - Aktuelle Debatte. Danach folgen die Tagesordnungspunkte 8, 9 und 10.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf:

Aktuelle Debatte

Abwanderung junger Menschen aus Sachsen-Anhalt

Antrag der Fraktion der PDS - Drs. 3/4389

In der Aktuellen Debatte beträgt die Redezeit je Fraktion fünf Minuten; die Landesregierung hat eine Redezeit von zehn Minuten. Es wird für die Debatte folgende Reihenfolge vorgeschlagen: PDS, FDVP, CDU, SPD und DVU.

Zunächst hat die Antragstellerin, die PDS, das Wort. Ich bitte die Abgeordnete Frau Ferchland nach vorn und erteile ihr das Wort. Bitte, Frau Ferchland.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Thema der zunehmenden Abwanderung junger Menschen aus dem Osten Deutschlands hat in den letzten Wochen verstärkt die Öffentlichkeit erreicht. Schon jetzt deuten sich aufgrund der absehbaren demografischen Entwicklung ohnehin für die ostdeutschen Kommunen schwierige Zeiten an; denn ausgehend von den Bevölkerungsprognosen nimmt der Anteil junger Menschen ständig ab, während der Anteil der Älteren immer weiter zunehmen wird.

Ursache ist zum einen der drastische, historisch beispiellose Geburtenrückgang der frühen 90er-Jahre, der dazu führen wird, dass es in absehbarer Zeit einen Sterbefallüberschuss geben wird. Das heißt, es werden mehr Menschen sterben, als geboren werden. Ein zweiter Grund liegt in der wieder zunehmenden Abwanderung junger Menschen - auch aus Sachsen-Anhalt. Dieser Trend schien Mitte der 90er-Jahre schon gestoppt, kehrt sich mittlerweile aber wieder um.

Einer Befragung vom Februar dieses Jahres zufolge, durchgeführt vom Institut für Marktforschung, plant bereits jeder Dritte im Alter von 18 bis 29 Jahren, den Osten zu verlassen. Verwiesen wird dabei eindeutig auf die Chancen in den alten Bundesländern und auf die ersten direkten Erfahrungen mit Ausbildung und Arbeitsmarkt.

Hinzu kommt, dass es besonders hohe Wanderungsverluste bei jungen Frauen gibt. So teilte das Statistische Landesamt im Februar dieses Jahres mit, dass von allen Wanderungsverlusten in den letzten neun Jahren zwei Drittel Frauen im Alter von 15 bis 25 Jahren betrafen. Das Statistische Landesamt verweist auch darauf, dass dies auf die zukünftigen Geburtenzahlen negative Auswirkungen haben wird.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch wenn uns bewusst ist, dass Mobilität ein wichtiger Baustein der Jugendkultur ist und dass Bewegung und Dynamik bei Jugendlichen eine herausragende Bedeutung haben, sollte Mobilität von Jugendlichen nicht als Notwendigkeit oder Zwang zum Lebenserhalt, sondern als Vielfalt der verschiedenen Möglichkeiten von Jugend begriffen und benannt werden.

(Beifall bei der PDS - Zustimmung von Herrn Dr. Fikentscher, SPD)

Das Institut für Marktforschung erklärt auch, dass die Zukunftschancen für junge Leute im Osten insgesamt ungünstiger sind und zunehmend ungleicher werden und dass junge Leute in zunehmendem Maße gezwungen werden, in die alten Bundesländer zu gehen, um einen Platz in der Gesellschaft zu finden.

Gründe für die Abwanderung gibt es viele. Ein Grund ist, dass im Osten Deutschlands das Lohnniveau gegenüber dem Westen nach wie vor zu gering ist. Es fällt uns auf die Füße, dass es keinen konkreten Zeitplan gibt, die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse herzustellen, wie es das Grundgesetz erfordert.

Uns liegt nicht daran, mit der Aktuellen Debatte ein Horrorszenario aufzuführen, es geht uns vielmehr um eine neue Sichtperspektive, eine Sichtperspektive auf einen möglichen Fachkräftemangel, der für das Land SachsenAnhalt für die künftige wirtschaftliche Entwicklung von großer Bedeutung sein wird. Diese Frage wird sich eventuell zur Schicksalsfrage entwickeln.

Ich erinnere daran, dass das Lutz-Gutachten feststellte, dass ab dem Jahr 2006 zwei Entwicklungen aufeinander treffen: ein altersbedingtes Ausscheiden vieler Mitarbeiter aus den Betrieben - bis zum Jahr 2017 werden allein 30 % der jetzt Erwerbstätigen ausscheiden - und ein deutlicher Nachwuchsrückgang aufgrund des Geburteneinbruchs der Jahre 1990 bis 1994. Bereits jetzt gibt es Klagen über fehlende Fachkräfte in bestimmten Bereichen der Wirtschaft. Hieraus sehen wir einen Handlungsbedarf.

Wir müssen im Land eine Fachkräftedebatte führen; denn die Folgen von Geburtenrückgang, Sterbefallüberschuss und Abwanderung junger Menschen werden die heimische Wirtschaft nachhaltiger treffen, als wir uns das jetzt vorstellen können. Auch rächt sich die zu geringe Ausbildungsbereitschaft vieler Unternehmen, die trotz Ausbildungsberechtigung und finanzieller Möglichkeit ihrer Verantwortung gar nicht oder nur ungenügend nachgekommen sind. Es rächt sich, dass berufliche Ausbildung über Sonderprogramme und Warteschleifen, über Überbedarfsförderung und in einem zu engen Berufsspektrum abgewickelt wird, und es rächt sich auch, dass es an einer Förderung für die so genannte zweite Schwelle fehlt.

„Aktiv in die Rente“ ist sicher für die Klientel ein wichtiges und notwendiges Programm; wir brauchen aber auch ein Programm, das jungen Leuten aktiv den Einstieg ins Berufsleben sichert, und das über drei Jahre hinaus.

(Zustimmung bei der PDS)

Vor dem Hintergrund der Abwanderung und der zukünftigen demografischen Entwicklung ist es für mich mehr als unverständlich, dass das Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit im letzten Sommer beschlossen hat, jungen Arbeitslosen aus dem Osten eine Mobilitätshilfe zu geben, wenn sie in die alten Bundes

länder gehen. Diese 5 000 DM oder mehr will ich niemandem streitig machen, aber die Frage, warum gerade Mobilität von Ost nach West und zum Beispiel nicht von Havelberg nach Zeitz gefördert wird, ist wohl erlaubt.

(Beifall bei der PDS)

Dies ist eine Ohnmachtserklärung und zeigt auf, dass herkömmliche Wirtschaftspolitik, auch herkömmliche Arbeitsmarktinstrumente latent überfordert sind.

(Zuruf von Herrn Miksch, fraktionslos)

Das Hangeln von Übergangslösung zu Übergangslösung zeigt auch, dass herkömmliche Instrumentarien des Westens im Osten nicht greifen.

Es geht uns um die Zukunft Ostdeutschlands. Dazu gehören die Reform der Wirtschaftsprogramme, der Aufbau einer regionalen Vernetzung der Wirtschaft und spezifische Maßnahmen für kleine und mittlere Unternehmen. Dazu gehört auch, dass Humankapital endlich als Wert begriffen wird. Diese Debatte ist als Plädoyer zu verstehen, jungen Menschen in Sachsen-Anhalt jetzt eine wirkliche Lebensperspektive zu eröffnen. - Danke schön.

(Beifall bei der PDS - Zustimmung bei der SPD)

Danke sehr. - Meine Damen und Herren! Dieses Thema wird sicherlich unsere Besuchergruppen genauso interessieren wie uns. Wir begrüßen eine erste Gruppe Schülerinnen und Schüler des Hegel-Gymnasiums in Magdeburg und Damen und Herren des Europäischen Bildungswerkes. Herzlich willkommen!

(Beifall im ganzen Hause)

Die Debatte wird für die Landesregierung mit dem Beitrag des Ministerpräsidenten fortgesetzt. Bitte, Herr Dr. Höppner.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich finde es ausgesprochen gut, dass wir uns heute eine Aktuelle Debatte zu diesem für unser Land sehr wichtigen Thema leisten, weil es in der Tat in den letzten Monaten eine verstärkte Diskussion über das Thema Abwanderung, insbesondere Abwanderung von jungen Leuten, aus dem Osten Deutschlands gegeben hat. Diese Debatte ist ziemlich aufgeregt und teilweise mit sehr vielen Emotionen geführt worden. Es gab Schlagzeilen wie: „Der Osten blutet aus!“, „Die Besten wandern ab in den Westen!“. Dabei ist die Debatte, wie das bei emotionalen Debatten so ist, sehr undifferenziert geführt worden. Von einer Massenabwanderung aus Ostdeutschland kann jedoch nicht die Rede sein.

Im Antrag der PDS-Fraktion ist beispielsweise behauptet worden, dass die Steuereinnahmen der Kommunen und des Landes, also die Finanzkraft, sinken würden. Es stellt sich jedoch heraus, dass das keineswegs mit Fakten belegbar ist. Die Steuereinnahmen sind in den letzten Jahren gestiegen. Wenn man die Steuereinnahmen der letzten Jahre vergleicht, muss man sagen, dass das nicht das entscheidende Argument ist.

Über die Steuerkraft der Kommunen können wir reden. Das ist ein Punkt, der uns auch weiterhin beschäftigen wird. Ihn aber immer mit der Abwanderung in Verbindung zu bringen scheint mir nicht angemessen zu sein. Die Steuereinnahmen der Kommunen betrugen zum

Beispiel im Jahre 1999 netto ca. 1,6 Milliarden DM. Im Jahre 1998 waren es noch 1,5 Milliarden DM, im Jahre 1997 1,4 Milliarden DM. Das heißt mit anderen Worten, die Steuereinnahmen sind in den letzten Jahren erheblich gestiegen.

Ferner heißt es im Antrag der PDS-Fraktion zur Aktuellen Debatte, die Abwanderung von Jugendlichen und von jungen Familien in den Westen würde dazu beitragen, Probleme in vielen Städten und Gemeinden zu erzeugen. Auch das ist ein wenig undifferenziert. Es gibt in unseren Städten erhebliche Probleme, so zum Beispiel bei dem Thema Wohnungsleerstand. Wir kennen das und haben darüber im Landtag debattiert.

Das IWH hat darüber dankenswerterweise inzwischen eine Analyse vorgelegt, in der dieses Abwanderungsproblem dargestellt ist. Aus dieser Analyse ist ersichtlich, dass der Wohnungsleerstand im Wesentlichen dadurch begründet ist, dass es in den letzten Jahren einen erheblichen Neubau an Wohnungen gegeben hat. Nur 10 % der heute leer stehenden Wohnungen sind Wanderungsbewegungen geschuldet. Der restliche Leerstand ist darauf zurückzuführen, dass die Bevölkerungszahl nicht nur nicht gewachsen ist, sondern abgenommen hat und dass trotzdem neue Wohnungen errichtet worden sind.

Der Leerstand wird noch dadurch vergrößert, dass in den Städten eine zusätzliche Wanderungsbewegung im Gange ist, und zwar die Wanderungsbewegung aus den Stadtkernen in das Umland, sodass wir in einigen Orten einen Zuwachs der Bevölkerungszahl haben.

Das alles erweckt unter den Betroffenen den Eindruck: Alle gehen weg und keiner bleibt hier. Dabei ist das eine Entwicklung, die wir im Westen der Bundesrepublik Deutschland schon kennen, nämlich eine Wanderung aus den Städten in das Stadtumland. Bei uns besteht die besondere Schwierigkeit darin, dass sich eine Entwicklung, die sich im Westen über Jahrzehnte erstreckt hat, bei uns praktisch in zehn Jahren vollzogen hat.

Ich nenne all diese Dinge, um deutlich zu machen, dass diese Debatte sehr viel mit Emotionen zu tun hat und dass diese Emotionen sehr verständlich sind, aber zum Teil andere Ursachen haben als die Abwanderung in den Westen.

In diesem Zusammenhang nenne ich einen Punkt, der im Moment sehr viele Menschen bedrückt. Das ist die Tatsache, dass Schulen und Kindergärten geschlossen werden und dass mancher im ländlichen Bereich den Eindruck hat, die Seele seines Dorfes verschwinde. Das hat aber nichts mit Abwanderung, sondern mit dem Geburtenrückgang zu tun.

Wir wissen, dass dieser Geburteneinbruch Anfang der 90er-Jahre viele Ursachen hatte. Der Geburteneinbruch hatte mit den vielfältigen Veränderungen zu tun, die zu verkraften waren; er hatte aber auch damit zu tun, dass wir uns in mancher Beziehung an die Verhältnisse in westlichen Industrienationen sehr schnell angeglichen haben. Beispielsweise ist es so, dass sich das Alter der Erstgebärenden um ein paar Jahre verschoben hat. Auch das hat mit zu diesem Geburteneinbruch geführt.

Ich habe diese Dinge erwähnt, um deutlich zu machen, dass an dieser Stelle eine nüchterne Analyse über das lohnt, was tatsächlich im Gange ist. Aufgeregte Diskussionen helfen uns an dieser Stelle nicht weiter, wobei ich dazu sagen muss, dass ich es ganz subjektiv verstehe. Wir haben uns in der Ministerpräsidentenkonferenz über

das Abwanderungsthema unterhalten. Ich erinnere mich an Debatten, die zum Teil sehr aufgeregt geführt worden sind. Das heißt, man lässt sich von einer eher emotionalen Betrachtung anstecken, was bei der Lösung des Problems aber nicht hilfreich ist.

Die Wanderungsströme junger Erwachsener aus den neuen in die alten Bundesländer sind relativ gering. Zwischen 1991 und 1999, also in fast zehn Jahren, haben im Saldo der Zu- und Fortwanderung ca. 30 000 junge Erwachsene im Alter zwischen 18 und 25 Jahren das Land Sachsen-Anhalt in Richtung alte Bundesländer verlassen. Das sind lediglich 1,5 % der Bevölkerung in dieser Altersgruppe.

Abgesehen davon, wer will es jungen Menschen verübeln, wenn sie Ausbildung und Arbeit in den alten Bundesländern - besser noch in Europa - suchen? Das kann jeder nachvollziehen, der Kinder in diesem Alter hat. Wenn die Jugendlichen ihre Ausbildung abgeschlossen haben und an den Heimatort noch nicht gebunden sind, dann suchen sie in der Welt, wo sie den besten Platz finden. Sie fühlen sich nicht gebunden an die Heimatregion, in der sie aufgewachsen sind.

Man muss auch deutlich sagen, dass die Aussage, sie kämen nie wieder, nicht zutrifft. Es ist durchaus so, dass eine ganze Reihe junger Leute wieder in das Land kommt.

Es gibt ein Argument, das mich besonders beunruhigt, und zwar ist das die Aussage, dass die Besten fortgehen würden.

(Zuruf von Frau Wiechmann, FDVP)