Protocol of the Session on January 26, 2001

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hiermit eröffne die 51. Sitzung des Landtages von Sachsen-Anhalt der dritten Wahlperiode. Dazu begrüße ich Sie, verehrte Anwesende, auf das Herzlichste.

Meine Damen und Herren! Der morgige Tag, der Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, ist der Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Er dient der Erinnerung an das millionenfache Leid und den millionenfachen Mord, der in deutschem Namen verübt wurde. Wir begehen diesen Gedenktag in dem Wissen, dass die Auseinandersetzung mit dem wohl schrecklichsten Teil unserer Geschichte weder abgeschlossen ist noch abgeschlossen werden darf.

Meine Damen und Herren! Während sich die Schuldfrage für die heutige Generation kaum mehr stellt, wächst uns aus unserer Geschichte eine historische Verantwortung zu. Diese Verantwortung bedeutet für Jugendliche, sich auch nach mehr als einem halben Jahrhundert nach den Geschehnissen mit unserer Vergangenheit auseinander zu setzen.

Dass die Jugend dies in ihrer großen Mehrheit möchte und auch weiterhin tut, beweist nicht zuletzt das Beispiel des ehemaligen Magdeburger Außenlagers „Magda“ des Konzentrationslagers Buchenwald, in dem wir am heutigen Tag der Opfer gedenken werden. Es war ein junger Mensch, der das nahezu der Vergessenheit anheim gefallene Lager mit seinen Recherchen nachdrücklich in die Erinnerung zurückrief.

Verantwortung heißt darüber hinaus für uns Ältere, Position zu beziehen. Das bedeutet vor allem, die Fragen der Jüngeren aufrichtig zu beantworten, sich ihnen zu stellen. Das heißt auch, die großen Dimensionen des Geschehenen herunterzubrechen ins Vorstellbare. Das heißt schließlich, Werte zu vermitteln und Orientierung zu bieten. Hierin liegt ein Auftrag an die Familien, an die Eltern und an die Großeltern. Es ist ein Auftrag an die Schule und an die gesellschaftlichen Institutionen. Es ist auch ein Auftrag an uns Parlamentarier, dem wir gerecht werden müssen.

Meine Damen und Herren! Die Verantwortung vor der Geschichte erfordert auch, sich der Tatsache bewusst zu sein, dass das Intolerante, das Feindliche gegenüber dem Ungewohnten, gegenüber dem Fremden und der Drang, in schwierigen Lebenslagen nach Sündenböcken zu suchen, bedauerlicherweise in uns allen angelegt sind.

Angesichts dieser Erkenntnis ist es umso wichtiger, sich für die Toleranz in unserer Gesellschaft und gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Intoleranz einzusetzen. Wir müssen stets und unermüdlich für die Stärkung unseres freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens eintreten. Wir müssen jene unterstützen, die sich für die Erziehung zur Toleranz und für die Demokratie engagieren.

Lassen Sie mich hinzufügen: Wer vor dem Hintergrund des in letzter Zeit wieder Geschehenen schweigt, ist nicht anständig. Das ist eine der Lehren aus unserer Geschichte, aus Auschwitz und von Magda. Nach Auschwitz kann schweigen nicht mehr anständig sein. - Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD, bei der CDU, bei der PDS und von der Regierungsbank)

Danke sehr. - Meine Damen und Herren! Ich stelle die Beschlussfähigkeit des Hohen Hauses fest.

Wir beginnen mit dem Tagesordnungspunkt 8:

Erste Beratung

Ergebnisse der EU-Regierungskonferenz

Antrag der Fraktion der SPD - Drs. 3/4069

Änderungsantrag der Fraktion der CDU - Drs. 3/4133

Einbringer ist der Abgeordnete Herr Tögel. Im Anschluss wird der Ministerpräsident das Wort ergreifen. Ich bitte Herrn Tögel um seinen Beitrag.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Ihnen vorliegende Antrag ist die logische Schlussfolgerung aus den Landtagsbeschlüssen vom Juni letzten Jahres zur Osterweiterung und zu den EU-Reformen. Der Vertrag von Nizza lässt niemanden in Jubelschreie ausbrechen. Er hat aber - das ist die entscheidende Aussage - das Reformziel der Erweiterungsfähigkeit der Europäischen Union erreicht. Ich will das ganz deutlich sagen: Dieses wichtige Ziel ist damit erreicht worden. Jeder, der sich gegen die Ratifikation des Vertrages von Nizza ausspricht, muss sich den Verdacht anheften lassen, dass er gegen die Osterweiterung ist.

Meine Damen und Herren! Über die Einzelheiten des Vertrags, wie die Stimmengewichtung, die Entscheidungsverfahren und die Sitzverteilung, wurde in den Medien ausführlich berichtet. Das ist bei europäischen Themen nicht immer üblich. Aber in diesem Fall gab es auch aufgrund der Dramatik, die die Sitzung des Rates in Nizza an sich hatte, eine relativ ausführliche Berichterstattung. Über die Einzelheiten der Sitzverteilung sowie die Vor- und Nachteile, die für Deutschland daraus erwachsen, können wir sicherlich noch einmal im Ausschuss für Wirtschaft, Technologie und Europaangelegenheiten reden.

Die problematische Verhandlungsführung der französischen Ratspräsidentschaft hat zu einigen Unklarheiten hinsichtlich des Vertragstextes nach dem Ende der Konferenz geführt. Inzwischen sind diese wohl durch die Diplomaten ausgeräumt worden, sodass die Unterzeichnung des Vertrages von Nizza, wie ich vorgestern in der Zeitung gelesen habe, durch die Regierungschefs am 26. Februar dieses Jahres in Brüssel erfolgen wird. Danach kann das Ratifikationsverfahren in den einzelnen Mitgliedstaaten beginnen.

Besonders interessant aus der Sicht der deutschen Bundesländer ist die Erklärung der Regierungschefs zur Zukunft der Union, in deren Folge im Jahr 2004 eine Regierungskonferenz einberufen werden soll, die unter anderem über die Themen Kompetenzabgrenzung und Vereinfachung der Verträge beraten soll.

Weiterhin wurde in Nizza beraten, dass auch der Status der Grundrechtecharta zukünftig diskutiert werden soll, also die Frage, ob wir die Grundrechtecharta in die Verträge aufnehmen wollen bzw. in welcher Form und wann dies geschehen soll.

Ebenso wichtig ist ein Beschluss von Nizza in Bezug auf das Thema Daseinsvorsorge. Auch dazu gibt es einen Ratsbeschluss.

Ich will mich in meinen Ausführungen auf die Dinge konzentrieren, die zum Punkt 3 des Antrages gehören:

Welche Handlungsmöglichkeiten, welche Mitwirkungsmöglichkeiten hat der Landtag, haben die Landesparlamente in dem Prozess der Ratifikation?

Ich will deutlich sagen - das ist sicher nicht allen hier im Raum bewusst -, dass in Deutschland die Länder, also die regionale Ebene, eine in Europa einzigartige Mitwirkungsmöglichkeit bei den Verträgen im Rahmen der Europäischen Union haben. Der Bundesrat, das heißt die Länderkammer, ist als einzige europäische regionale Institution direkt in die Entscheidung über die Verträge von Nizza einbezogen. Das heißt also, wenn der Bundesrat ablehnen sollte, würde der ganze Vertrag von Nizza nicht zum Tragen kommen.

Wir haben Vergleichbares bei den Staatsverträgen beispielsweise zu den Medien, zu denen wir in den Landesparlamenten auch nur mit Ja oder Nein votieren können. Wir haben keinerlei Möglichkeiten, noch Einfluss auf die Inhalte zu nehmen.

Ähnlich ist das Verfahren im Bundesrat. Allerdings scheint mir in der Frage der Verträge von Nizza die Zustimmung des Bundesrates sicher zu sein; denn der designierte Kanzlerkandidat der Union, Herr Stoiber, hat inzwischen schon seine Zustimmung signalisiert. Es hat den Anschein, als mutierte er auf dem Weg zum Bundeskanzleramt inzwischen auch zu einem wahren Europäer.

Zu verdanken haben die Länder die Mitwirkungsmöglichkeiten dem neuen Artikel 23 des Grundgesetzes, der aber in der Folge seiner Einführung durch die Änderung des Grundgesetzes Mitte der 90er-Jahre weiter ausgestaltet werden muss. Dazu hat sich vor allem auch in Sachsen-Anhalt in den letzten Jahren einiges getan. Ich will einige Beispiele dafür nennen.

So ist das Büro in Brüssel seit 1994 nicht mehr nur Entsorgungsposten für überflüssige oder nicht verwendungsfähige Verwaltungsbeamte des Landes;

(Zuruf von der CDU: War das einmal so?)

vielmehr hat es sich in dieser Zeit nicht nur hinsichtlich seiner Stärke entwickelt - inzwischen sind dort acht bis zehn Mitarbeiter tätig -, sondern es besteht auch aus einem jungen, engagierten Team, das inzwischen auch sehr gute Kontakte in die Häuser des Landes SachsenAnhalt hat, was in der Vergangenheit nicht immer der Fall war. Ich denke, das trägt auch dazu bei, dass die Verbindung der Häuser zu europäischen Themen etwas besser wird und die Sensibilität in den Häusern für solche Themen gestärkt wurde.

Auch in der Staatskanzlei ist ein fachlich hervorragendes Referat installiert. Ich denke, ich kann es nach drei Jahren als Mitglied im Ausschuss der Regionen beurteilen: Das Land Sachsen-Anhalt leistet im Zusammenspiel dieser beiden Organisationseinheiten in Brüssel und in der Staatskanzlei auf europäischer Ebene mehr als manches größere Bundesland.

(Herr Becker, CDU: Oh!)

- Ja, das ruft bei Herrn Becker Erstaunen hervor. Es gab einen Artikel in der „Wirtschaftswoche“. Darin wurde das Büro Sachsen-Anhalts mit dem von Nordrhein-Westfalen verglichen. Ich muss sagen, in diesem Zusammenhang hat das Land Sachsen-Anhalt sehr gut abgeschnitten.

Leider gibt der Landtag - damit will ich zu der Frage, was den Landtag betrifft, zurückkommen - im Hinblick auf die

Europapolitik ein eher trauriges Bild ab. Es hat sich hier im Landtag in den vergangenen Jahren kein adäquates Bewusstsein zur Bedeutung der Europapolitik entwickelt. Neben Mecklenburg-Vorpommern und Baden-Württemberg ist Sachsen-Anhalt das einzige Bundesland, dessen Parlament keinen eigenen Europaausschuss hat. Wenn wir in der nächsten Legislaturperiode, wie es der Präsident vorgeschlagen hat, darüber nachdenken sollten, wieder einen eigenen Ausschuss einzurichten, dann sollten wir allerdings nur daran gehen, wenn tatsächlich auch der Wille der Abgeordneten zur Mitwirkung in einem solchen Ausschuss erkennbar wird.

(Zustimmung von Frau Bull, PDS)

Das heißt aus meiner Sicht Folgendes: Die Anbindung an den Wirtschaftsausschuss ist vielleicht thematisch nahe liegend. Dort hat dieser Themenkomplex aber bei den vielen Problemen, die im Wirtschaftsausschuss zu diskutieren sind, nicht die prioritäre Stellung, die dem Thema nach meiner Ansicht zukommen sollte. Das ist kein Vorwurf an die Abgeordneten im Wirtschaftsausschuss; aber sie haben natürlich für die Mitwirkung im Ausschuss andere Prioritäten gesetzt, nämlich wirtschaftspolitische Prioritäten. Demzufolge ist es auch für viele Abgeordnete sehr schwierig, dieser relativ komplizierten Materie zu folgen und inhaltlich immer auf dem Laufenden zu sein.

Wir haben natürlich ein paar grundsätzliche Probleme, die ich ganz offen ansprechen möchte und die geklärt werden müssten, wenn wir diesen Ausschuss in der nächsten Legislaturperiode eingesetzt haben sollten. Wir haben das Problem, dass es keine eigene Gesetzgebungskompetenz der Bundesländer in Fragen der Europapolitik gibt. Wir haben das Problem, dass es keinen eigenen Haushalt für Europapolitik gibt. Das heißt, es gibt auch nicht so richtig etwas zu beschließen, was eine ähnliche Wirkung wie Beschlüsse etwa im Finanzausschuss oder im Bildungsausschuss entfalten würde.

Ein besonderes Problem ist, dass wir einen relativ langen Vorlauf haben. Die Dinge, über die heute auf europäischer Ebene geredet wird, werden erst in zwei, drei oder fünf Jahren auf regionaler Ebene wirksam, manchmal auch etwas schneller. Das Problem der Abgeordneten ist natürlich, dass die Angelegenheiten, die nahe liegende Probleme bereiten und aktuell sind, viel intensiver beleuchtet werden als solche, die weiter entfernt sind. Ich denke, wir müssten darüber reden, wie wir damit umgehen können. Wir sollten auch mit den Kollegen in den anderen Bundesländern oder in anderen Regionen Europas darüber diskutieren, wie wir in dieser Hinsicht weiter verfahren können.

Ich will noch ganz kurz auf Punkt 4 des Antrages eingehen. Wir sehen natürlich auch, dass weitere Schritte zur Verbesserung der Transparenz von EU-Entscheidungen, zur Effektivierung der Verwaltung und zur Demokratisierung der EU-Organe notwendig sind. Wir wollen ständig daran arbeiten; aber das ist natürlich eine Politik der kleinen Schritte.

Es gibt natürlich immer den Widerspruch zwischen Regierungshandeln und parlamentarischer Kontrolle. Wir sehen ja hier im Lande auch, wie schwierig es ist, hierbei ein ausgewogenes Verhältnis zu finden. Aber ich denke, mit dem Vertrag von Nizza sind wir ein kleines Stück vorangekommen. Wir sollten uns als Landtag eindeutig hinter die Landesregierung stellen, damit die positiven Ergebnisse von Nizza wenigstens wirksam werden und nicht die - zum Teil berechtigte - Kritik die Ober

hand gewinnt. Deshalb bitte ich Sie, unserem Antrag zuzustimmen. - Ich bedanke mich.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung bei der PDS)

Herr Abgeordneter Tögel, hier besteht der Wunsch nach Beantwortung einer Frage. Herr Gürth, stellen Sie bitte Ihre Frage.

Herr Tögel, ich habe zwei Fragen an Sie, weil der Antrag, den Sie zu der Konferenz von Nizza eingebracht haben, sehr einseitig die vermeintlich erfolgreichen Ergebnisse darstellt. Wenn ich auch mit Ihnen darin übereinstimme, dass die Kritik nicht überwiegen darf, darf man doch das, was nicht erreicht wurde und was für uns wichtig ist, nicht verschweigen.

Sie brachten Ihr Bedauern darüber zum Ausdruck - dieses teile ich -, dass wir im Landtag keinen Europaausschuss haben. Ich frage Sie: Wieso haben die Sozialdemokraten nicht für die Einsetzung eines Europaausschusses in diesem Parlament gestimmt? Es gab zu Beginn der Legislaturperiode entsprechende Anträge. Das ist leider nicht zustande gekommen, was ich sehr bedauere.

Zweite Frage: Wie beurteilen Sie die Tatsache, dass bei einer Reihe von sehr wichtigen Themen, die auch die Bundesregierung vor Nizza angesprochen hat, überhaupt keine Fortschritte erreicht wurden und wir von den Zielen weiter denn je entfernt sind, obwohl zum Beispiel Bundesaußenminister Fischer noch im Dezember vor dem Gipfel in Nizza die Auffassung der Bundesregierung zum Ausdruck gebracht hat, dass es dieses Mal keine Left-overs geben dürfe; alles Wichtige müsse entschieden sein, wenn Nizza vorbei sei. Wir wissen, dass eine Reihe von Dingen nicht entschieden worden ist.

Wie beurteilen Sie die Stärkung des Europäischen Parlaments im Zuge von mehr Demokratisierung des europäischen Prozesses? Die Zahl der Sitze im Europaparlament wird - entgegen allen Zusagen - auf 734 ansteigen, teilweise sogar bis auf 900.

(Zurufe von der PDS und von der SPD: Frage!)

Glauben Sie, dass dies angesichts der Tatsache, dass die Rechte des Parlaments nicht in ausreichendem Umfang erweitert wurden, ein Erfolg ist?