Protocol of the Session on September 21, 2023

Herr Kollege Ulbrich, vielen Dank für die Kurzintervention. Sie wissen selbst als Jurist, dass man

Ermessen nur unter ganz engen Maßgaben einschränken kann. So, wie Sie es vorschlagen, müsste aber das Gesetz geändert werden; das kann nur der Bundesgesetzgeber. Die ermessensleitenden Vorschriften sind vorhanden. Sie wollen daraus Muss-Vorschriften machen. Da sagen Ihnen das Bundesverfassungsgericht und das Bundesverwaltungsgericht, dass das rechts- und verfassungswidrig ist. – Vielen Dank.

(Vereinzelt Beifall bei der CDU)

Das war von Herrn Unger die Reaktion auf die Kurzintervention. Wir machen weiter in der Reihenfolge der Fraktionen. Für die Fraktion DIE LINKE ist Jule Nagel an der Reihe.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Ich wollte eigentlich mit dem Satz beginnen, dass die AfD mit ihrem Antrag zu dessen Hauptthema ziemlich tief in die Mottenkiste gegriffen hat, aber jetzt kann ich das auch auf den CDU-Vorredner, den Kollegen Unger, beziehen. Grenzkontrollen, sichere Herkunftsländer – das ist ein tiefer Griff in die Mottenkiste.

(Sören Voigt, CDU: Die Realität!)

Der Blick auf die Anwendung dieser Instrumente zeigt, dass das Ziel, das Sie als Rechte oder Mitte-Rechts im Schilde führen, damit nicht erreicht werden kann.

Ich will mich auf die AfD und den eigentlichen Antrag beziehen. Sachleistungen statt Bargeld und mehr Sanktionen sollen es aus Ihrer Sicht also richten, sollen die Herausforderungen der steigenden Zahl Geflüchteter lösen. Wenn das nicht so bitterböse in seinem Gehalt wäre, könnte man über solch eine billige Rechnung fast nur lachen.

(Jörg Urban, AfD: Dänemark!)

Das Sachleistungsprinzip ist fester Bestandteil des diskriminierenden Sondergesetzes namens Asylbewerberleistungsgesetz, das im Schlepptau – daran möchte ich explizit erinnern – der rassistischen Pogromstimmung Anfang der 1990er-Jahre mit der faktischen Abschaffung des Grundrechts auf Asyl eingeführt wurde.

Die Annahme, dass die Zahl derer, die in Europa oder in Deutschland Asyl suchen, mit einer massiven Schlechterstellung bei Grundleistungen zum Leben und bei der Gesundheitsversorgung sinken würde, war damals so falsch wie heute.

(Beifall bei den LINKEN)

Das Märchen von Pull-Faktoren, die Menschen aus ihren Herkunftsländern weggehen lassen, ist vielfach widerlegt. Menschen gingen wegen Verfolgung, wegen Krieg, wegen Notlagen, an denen der globale Norden oder auch der Westen durchaus Verantwortung trägt, und nicht wegen vermeintlicher Annehmlichkeiten in Europa.

(Oh-Rufe von der AfD)

Die AfD ist sich aber nicht blöd genug, um die alte Kamelle der Pull-Faktoren wieder in die Manage zu ziehen – und das auf der Basis selektiver Zahlen.

Wir als LINKE sind wirklich weit davon entfernt, Menschen nach ihrer Nützlichkeit für den kapitalistischen Betrieb zu bewerten. Aber wer verschweigt – wie Sie in Ihrem Antrag –, dass migrierte und geflüchtete Menschen erheblich zum Funktionieren dieser Gesellschaft beitragen, dass sie Wohlstand erwirtschaften und Steuern zahlen, der spielt mit falschen Karten.

(Beifall des Abg. Mirko Schultze, DIE LINKE)

Derzeit haben bundesweit 625 000 Menschen aus Asylherkunftsländern eine Beschäftigung. In Sachsen waren es Mitte vergangenen Jahres 16 000.

(Zuruf von der AfD: Asylindustrie!)

Die Arbeitslosenquote für diese heterogene Gruppe ist seit dem Jahr 2016 von circa 65 % – es ist klar, wenn man ankommt, arbeitet man nicht gleich oder darf es nicht – auf 30 % gesunken, Tendenz weiter sinkend. Die Zahl der beschäftigten Menschen mit Fluchthintergrund steigt, nicht zu vergessen die Zehntausenden Azubis mit Fluchthintergrund bundesweit, die Berufe erlernen und damit an der Schwelle zur Beschäftigung stehen.

Die Investitionen in Spracherwerb und Bildung sowie in die Berufsausbildung zahlen sich folglich aus. Das muss fokussiert werden. Wer Zugang zu Wohnraum, zu Bildung und zu Beschäftigung hat, ist nicht nur individuell zufriedener, sondern wird auch schneller Teil der hiesigen Gesellschaft. So sieht es aus. Dafür sprechen die Zahlen. Darüber müssen wir reden, um Barrieren ab- und nicht aufzubauen. Es wurde bereits gesagt: Was sonst ist die Einführung von Sachleistungen für Geflüchtete auf der kommunalen Ebene als ein massiver Bürokratieaufbau?

Aber schauen wir auf das Konkrete – auch das wurde ausgeführt –: In Erstaufnahmeeinrichtungen wird das Sachleistungsprinzip angewendet. Für die auf die Kommunen verteilten Menschen ist diese entwürdigende Form der Versorgung in den letzten zehn Jahren sukzessive abgeschafft worden, auch in Sachsen.

Ermächtigungen zur Leistungskürzung hält das Asylbewerberleistungsgesetz, das wir grundsätzlich kritisieren, nichtsdestotrotz bereit: Kürzungen, die auch vor Familien mit Kindern nicht haltmachen, die in Sachsen doch zahlreich angewendet werden und die wir für verfassungsrechtlich bedenklich halten.

Ich möchte in diesem Zusammenhang an das wegweisende Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2012 erinnern, mit dem die Grundleistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes als unzureichend erklärt wurden. Der Schlüsselsatz dieses Urteils lautete: „Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.“

(Zuruf des Abg. Dr. Joachim Keiler, AfD)

Umso bedenklicher ist es – damit nehme ich Bezug auf Herrn Unger –, dass Teile der CDU, die CSU oder der

CSU-Spitzenkandidat und auch die FDP lauthals in diesen aufwiegelnden, asylfeindlichen Ton einstimmen und gezielt die grundgesetzlich verbriefte Menschenwürde relativieren.

Wir lehnen sowohl die soziale Entrechtung als auch das Sanktionsregime ab, von dem die AfD in ihrem Antrag träumt. Ich möchte zum Schluss unterstreichen, dass diese menschenverachtende Denkweise vielleicht bei Geflüchteten beginnt. Sie wird aber vor denen, die zwar als „deutsch“ markiert sind, aber auch in den Fokus der Rechten fallen, sicher ebenfalls keinen Halt machen.

Vielen Dank.

(Beifall bei den LINKEN)

Als Nächste kommt Frau Kollegin Čagalj Sejdi für die BÜNDNISGRÜNEN zu Wort.

Petra Čagalj Sejdi, BÜNDNISGRÜNE: Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die im Antrag der AfD und auch von anderen Parteien geforderten Sachleistungen gingen – wir haben es einige Male gehört – durch die Medien und kamen in der öffentlichen Debatte der letzten Tage sehr häufig vor. Dennoch muss man sagen: Diese Forderung ist reiner Populismus.

(Einzelbeifall bei den LINKEN)

Natürlich kann man Menschen auch mit Sachleistungen versorgen. Man muss sich aber fragen, was das überhaupt kostet. Wer – so wie Sie in Ihrem Antrag – behauptet, damit würden einerseits Kosten eingespart und werde andererseits die Zahl der Flüchtenden nach Deutschland verringert, dem muss ich sagen: Das wird so nicht funktionieren. Niemand wird nicht nach Deutschland flüchten, weil es hier Sachleistungen statt Geld gibt. Das ist einfach eine hirnrissige Idee, die da produziert wird.

(Beifall bei den BÜNDNISGRÜNEN sowie vereinzelt bei den LINKEN und der SPD)

Sie schlagen in Ihrem Antrag vor, man könne sich ein System von Prepaidkarten oder Chipkarten überlegen. Ja, das kann man machen. Ich möchte Ihnen aber sagen: Das wird sehr teuer, wenn man das einmal durchspielt. Sie brauchen überhaupt erst einmal jemanden, der ein solches System entwickelt. Sie brauchen einen Partner, eine Organisation, eine Bank, die die Zahlung dieser Gelder, die Durchreichung übernimmt. Sie brauchen jemanden, der in der Lage ist, 1,39 Euro für H-Milch 20 000-mal in der Woche auszuzahlen, dann vielleicht noch 3,50 Euro für Käse und Wurst 30 000-mal usw.

Wir hatten Anträge zu einer elektronischen Gesundheitskarte, die abgelehnt wurden, weil das zu teuer ist. Überlegen Sie sich einmal, wie teuer eine Sachleistungskarte wäre! Die Kosten würden ins Enorme gehen.

Aber davon ganz abgesehen – Kollegin Nagel hat es schon angesprochen –: Ihre Forderung ist nicht einfach nur übermäßig teuer, sie spricht auch gegen das Grundgesetz. Ich

habe in einer meiner vergangenen Reden schon einmal das Bundesverfassungsgericht zitiert, welches bereits 2012 in seinem Urteil gesagt hat: „Auch migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerberinnen und Asylbewerber sowie Flüchtlinge niedrig halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen. Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren“ – Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2012.

(Beifall bei den BÜNDNISGRÜNEN und der SPD)

Das heißt: Wer Zuwanderung steuern will, indem er das Existenzminimum von Menschen minimiert, steht eindeutig neben unserer Verfassung und nicht dahinter.

(Beifall bei den BÜNDNISGRÜNEN und vereinzelt bei der SPD – Beifall der Staatsministerin Petra Köpping)

Aber Sie wollen nicht nur vermeintlich Geld sparen, Sie behaupten auch, dass Sie mit Ihren Butterbroten Menschen von der Flucht abhalten könnten. Auch diesen Zahn müssen wir Ihnen hier leider ziehen.

(Jan-Oliver Zwerg, AfD: Dänemark!)

Menschen kommen nämlich nicht, wie Sie das behaupten, wegen des Geldes zu uns. Menschen kommen zu uns, weil in ihrem Land Krieg herrscht, weil sie nicht mehr sicher sind, weil sie dort vertrieben wurden. Sie möchten vor allem deshalb gern nach Deutschland kommen, weil Deutschland als sicheres Land gilt, als ein Land, in dem man Wohnraum bekommen darf, ein Land, in dem man Arbeit bekommen kann, ein Land, in dem man Bildung bekommen kann – weil wir eben einen hohen Standard haben, weil Menschenrechte bei uns hochgehalten und großgeschrieben werden. Deswegen möchten Leute gerne nach Deutschland flüchten.

Menschen, die zu uns flüchten, suchen hier Schutz; sie möchten hier arbeiten und etwas zur Gesellschaft beitragen.

(Unruhe bei der AfD – Zuruf des Abg. Norbert Mayer, AfD)

Ein Beispiel: In der Zeit, als ich als Deutschlehrerin für zugewanderte Jugendliche gearbeitet habe, war eine der häufigsten Fragen, die mir gestellt wurde: „Frau Sejdi, wann darf ich denn hier arbeiten?“ Die wenigen Schüler, die arbeiten durften, haben das vor der Schule, nach der Schule, abends getan.

Ich hatte einen Schüler, der morgens vor dem Unterricht Zeitungen ausgetragen hat, nach dem Unterricht ging er mit seinem Vater Pakete ausfahren und am Abend hat er Flaschen gesammelt. Er hat unzählige Bewerbungen für Ausbildungsplätze geschrieben und wurde nie zum Ge

spräch eingeladen. Er ist noch heute Zeitungsausträger, Paketfahrer und sammelt am Wochenende Flaschen. So sieht die Realität von Menschen aus, die Sie als „Einwanderer in unser Sozialsystem“ bezeichnen.

(Beifall bei den BÜNDNISGRÜNEN sowie vereinzelt bei den LINKEN und der SPD – Zuruf von der AfD)