Protocol of the Session on May 4, 2022

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen!

(Zuruf von der AfD: Oh ja!)

Die Corona-Pandemie war und ist auch für den Strafvollzug sowohl für die Gefangenen, deren Angehörige als auch die Bediensteten eine große Belastungsprobe und wird es möglicherweise auch noch bleiben.

Eine gewisse Entspannung stellte dabei die Aussetzung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitstrafen dar. Somit konnte in den Justizvollzugsanstalten der Platz geschaffen werden, der es ermöglichte, Maßnahmen zum Gesundheitsschutz der Gefangenen und Bediensteten umzusetzen, und der es auch ermöglichte, einen Normalbetrieb zu fahren; denn wir wissen um die hohe Auslastung – die zu hohe Auslastung! – der Justizvollzugsanstalten in Sachsen.

Über 1 500 Ersatzfreiheitsstrafen sind im Jahr 2021 trotzdem vollstreckt worden. Mehrere Hundert Menschen kamen ins Gefängnis, um ihre Geldstrafe abzusitzen. Bundesweit lässt sich in den letzten Jahren eine Zunahme von Ersatzfreiheitsstrafen konstatieren. Es gibt auch hier wie bei anderen Themen ein Ost-West-Gefälle.

(Zuruf des Abg. Rico Gebhardt, DIE LINKE)

Im Osten sind es – –

(Unruhe im Saal)

Ein bisschen mehr Aufmerksamkeit! – Das ist nicht meine Aufgabe, ja?

(Heiterkeit des Abg. Rico Gebhardt, DIE LINKE – Zuruf von der AfD)

Ich wiederhole es: Man kann auch in diesem Kontext auf ein Ost-West-Gefälle verweisen. Im Osten machen laut Studien Ersatzfreiheitsstrafen 13 % der Gesamtfreiheitsstrafen aus, im Westen sind es lediglich 10 %.

Doch nicht allein, weil es den Strafvollzug entlastet, plädieren wir für die Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe. Sie ist auch im juristischen Diskurs hoch umstritten. Ohne dass ein Gericht erneut darüber entscheiden muss, verwandelt sich eine verhängte Strafe von zu zahlenden Tagessätzen automatisch in eine anzutretende Haftstrafe, besonders in Strafverfahren. Es ist davon auszugehen, dass viele Ersatzfreiheitsstrafen auf Strafbefehle zurückzuführen sind, also auf Verfahren, bei denen keine Anklage erhoben und keine Verhandlung durchgeführt wird. Solche Verfahren sind verfassungsrechtlich besonders bedenklich. Denn in einem Rechtsstaat obliegt es dem Richter oder der Richterin, sich ein persönliches Bild vom Angeklagten zu machen und darauf basierend eine Entscheidung über dessen Freiheitsentziehung zu treffen. Dies entfällt in dieser Konstellation von Strafbefehlsverfahren und Ersatzfreiheitsstrafe.

Das ist besonders erheblich, da von der Ersatzfreiheitsstrafe vor allem ökonomisch benachteiligte, einkommens- und vermögensarme Menschen betroffen sind. Armut wird hier faktisch mit Freiheitsentzug – und Sie wissen, das ist der härteste Eingriff in die grundgesetzlich verankerte persönliche Freiheit – bestraft. Der Jurist und Autor Ronen Steinke spricht in diesem Zusammenhang sehr pointiert von Klassenjustiz: Vor dem Gesetz seien eben nicht alle gleich.

Die Daten, die wir kennen, belegen das. So sind laut dem MDR 15 % der Ersatzfreiheitsstrafler in Sachsen wohnungslos; andere bundesweite Daten sprechen sogar von 40 %. Und es beginnt nicht erst bei dem puren Zahlen oder Nichtzahlen von Geldstrafen. Die Wahrnehmung von Verfahrensrechten ist in diesem Staat in sehr hohem Maße von der eigenen sozialen Situation abhängig.

Nun kann ich mir Ihre Reaktion auf unsere Forderung nach Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe – diese Forderung erheben wir nicht zum ersten Mal – schon ausmalen: Geldstrafen lassen sich doch auch in gemeinnützige Arbeit umwandeln. Das stimmt nicht. Geldstrafen können nicht einfach durch Sozialstunden abgegolten werden. Das geht erst, wenn die Freiheitsstrafe schon verhängt wurde. Davon haben in Sachsen laut einer Kleinen Anfrage von mir im Jahr 2021 immerhin 1 800 Personen Gebrauch gemacht.

Doch für Menschen in prekären Lebenslagen ist dies häufig eine große Hürde. Wer Suchtprobleme, Schulden angehäuft oder keine Wohnung hat – ich habe die Zahlen genannt –, wird oft weder die Ressourcen noch die Kraft besitzen, auf entsprechende Gerichtsschreiben zu reagieren oder sie – mangels Postadresse – zu empfangen, mögliche Einsatzstellen abzutelefonieren oder es zu einem vereinbarten Arbeitsbeginn zu schaffen.

Weitere Fragen spielen eine Rolle: Gibt es genug Einsatzstellen, die adäquat die Ableistung von Arbeitsstunden betreuen können? Sind die Sozialdienste gut genug ausgestattet, dass sie die Betroffenen adäquat beraten und begleiten können? Das sind Fragen, die wir stellen und mit dem Antrag auch versuchen zu beantworten.

Ein anderer Aspekt: Welche konkreten Delikte sind es, die Menschen mit Geldstrafen belegen und in Fällen dann doch zu Haftstrafen führen? Die Liste ist lang, doch bestimmte Delikte stechen doch hervor. Es sind kleinere Eigentumsdelikte wie Ladendiebstahl; es geht weiter mit kleineren Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz und reicht bis hin zur Erschleichung von Leistungen. Es fällt ins Auge, dass es Delikte gibt, die aus unserer Sicht entkriminalisiert gehören, wie die kleineren Betäubungsmitteldelikte oder die Erschleichung von Leistungen.

(Zurufe der Abg. Sören Voigt und Geert Mackenroth, CDU, sowie Valentin Lippmann, BÜNDNISGRÜNE)

Und es gibt die Delikte, bei denen wir vermehrt darauf schauen müssen, wie wir auf Prävention setzen.

Zu den Delikten – ich habe es schon gesagt –, die in unseren Augen entkriminalisiert gehören – das heben wir auch im Antrag hervor –, gehört das Fahren ohne gültigen Fahrausweis. Es ist doch absurd, wenn klimafreundliche Mobilität landauf, landab als notwendiges Mittel angepriesen wird, ökonomisch benachteiligte Menschen jedoch wegen deren Nutzung, die sie sich vielleicht eigentlich nicht leisten können, es aber trotzdem tun, sanktioniert werden und sich bei mehrmaligem Verstoß strafbar machen. Hier müssen andere Instrumente her; zum Beispiel die entgeltfreie Nutzung des öffentlichen Verkehrs, wie wir sie als LINKE fordern.

Ich bitte um ein bisschen mehr Ruhe im Saal.

Wir fordern – um es noch einmal zu pointieren – mit unserem Antrag den Einsatz der

Staatsregierung für eine Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe – denn das muss auf Bundesebene entschieden werden – und ganz explizit die Streichung des Straftatbestandes der Erschleichung von Beförderungsleistungen aus dem Strafgesetzbuch.

Ersatzfreiheitsstrafen sind ungerecht, laufen dem Grundgesetz der Resozialisierung zuwider, belasten den Strafvollzug – da können Sie mal mit JVA-Direktorinnen und Direktoren sprechen – und belasten den Staatshaushalt. Im Jahr 2021 sind in Sachsen dafür 9,8 Millionen Euro aufgewendet – 1,2 Millionen Euro nur für das Beförderungserschleichen.

(Thomas Prantl, AfD: Genau, Schwarzfahrerei für alle! – Weiterer Zuruf von der AfD: Na klar!)

Das ist eine stattliche Summe. Nun proklamieren die Koalitionsverträge des Landes hier in Sachsen und auch der Ampel auf Bundesebene, dass Ersatzfreiheitsstrafen vermieden bzw. überarbeitet werden sollen. Das ist gut, doch es ist eine relativ lang ventilierte Linie, die gefahren wird. Es gab in der letzten Legislaturperiode auf Bundesebene eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die sich mit der Vermeidung und Alternativen zu Ersatzfreiheitsstrafen befasste. Nur, Ergebnisse und andere Weichenstellungen sind hier nicht bekannt.

Wir müssen bei diesem drängenden Thema endlich einen Schritt vorankommen und die vielen Argumente und empirischen Belege für die Untauglichkeit von Ersatzfreiheitsstrafen ernst nehmen. Alle Bemühungen der letzten Jahre – ich habe es schon eingangs erwähnt – haben nicht zur Vermeidung der Ersatzfreiheitsstrafen geführt; im Gegenteil, es ist vielmehr ein Anstieg zu verzeichnen. Wir plädieren dafür: Lassen wir uns von anderen europäischen Ländern inspirieren! In Dänemark und Schweden etwa darf im Falle von Zahlungsunfähigkeit von straffällig gewordenen Personen keine Haftstrafe angeordnet werden.

(Zuruf des Abg. Martin Modschiedler, CDU)

Die Ersatzfreiheitsstrafe ist dort seit fast 40 Jahren faktisch abgeschafft.

(Marco Böhme, DIE LINKE: Hört, hört!)

Ich bitte um die Zustimmung zu unserem Antrag, dem auch die Staatsregierung mit der Stellungnahme relativ wohlwollend begegnet, und will noch einmal unterstreichen: Mit einer reinen Abschaffung des Instrumentes ist es nicht getan. Sozialdienste und soziale Träger, die Straffällige begleiten, müssen gestärkt und Bagatelldelikte entkriminalisiert werden.

Last, but not least – das ist uns als LINKE besonders wichtig zu betonen – muss es in diesem Land eine sozial gerechte Politik geben, die Armut und Wohnungslosigkeit verhindert und damit Maßnahmen in den Vordergrund stellt, die Menschen in die Lage versetzen, die Spirale von Schulden, Sucht und wiederkehrender Straffälligkeit zu durchbrechen. Ersatzfreiheitsstrafen sind dafür ein gänzlich untaugliches Instrument.

Vielen Dank!

(Beifall bei den LINKEN)

Das war Kollegin Nagel für die einreichende Fraktion DIE LINKE. Jetzt spricht für die CDU-Fraktion Herr Modschiedler, bitte.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es gehört: Mit diesem Antrag soll die Ersatzfreiheitsstrafe also abgeschafft werden. Juristisch betrachtet: Das Argument ist doch, dass damit den einkommens- und vermögensschwachen Menschen geholfen werden soll.

(Zuruf des Abg. Valentin Lippmann, BÜNDNISGRÜNE)

Ich versuche, es ein wenig zu abstrahieren. Außerdem würden dadurch die JVAs und auch unser Staatshaushalt entlastet.

Kommen wir mal zur Sache. Worum geht es uns eigentlich? Was wollen wir mit der Ersatzfreiheitsstrafe? Sie ist – jetzt benutze ich einmal das Wort – die Ultima Ratio, also das letzte Mittel, um den Zahlungsunwilligen vor Augen zu führen, dass Geldstrafen im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten abzuzahlen sind. Das steht im Vordergrund. Doch bis es zu solch einer Ersatzfreiheitsstrafe kommt, vergeht eine sehr lange Zeit mit vielen Angeboten und Individuallösungen, die der mit einer Geldstrafe belegte Bürger beantragen kann: Er kann Ratenzahlung verlangen. Er kann die Aussetzung der Zahlung beantragen oder – und das ist nicht richtig, Frau Nagel – er kann auch gemeinnützige Arbeit beantragen und diese kann dann umgewandelt werden.

(Rico Gebhardt, DIE LINKE: Uh!)

Das geht sogar bis zur Erteilung der Ersatzfreiheitsstrafen.

Es gibt also entsprechend sehr viele Möglichkeiten, eine Geldstrafe, zu der der Bürger nun einmal auch verurteilt worden ist, abzuzahlen. Und glauben Sie mir, da wird viel Energie, Geduld und Feingefühl aufgebracht. Ich halte diesen Weg bis zu der Ersatzfreiheitsstrafe, den Weg der Geduld, des Feingefühls und der Diskussion mit demjenigen, für den richtigeren Weg.

(Beifall des Abg. Tom Unger, CDU)

Hinzu kommt: Bereits bei der Bemessung der Tagessatzhöhe – und das ist auch wichtig – durch den Tatrichter werden die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters berücksichtigt. Auch der Tatrichter sieht sich den Einzelfall und die finanziellen Verhältnisse desjenigen an. Hier wird nicht über den Kopf hinweg entschieden, und so steht es auch im Strafgesetzbuch.

Führen wir uns außerdem einmal vor Augen: 84 % aller Verurteilungen bei uns sind Geldstrafen. 84 %. Dass nirgends sonst in Europa so viele Geldstrafen ausgesprochen werden, hat damit zu tun – und da liegen auch Sie wieder falsch, Frau Nagel –, dass der Rest direkt verurteilt. Die

machen keine Geldstrafen; denn die haben dieses Instrument der Ersatzfreiheitsstrafe nicht. Die gehen den direkten Weg und sagen: Gut, dann wird die Person verurteilt. Das halten wir nicht für den richtigen Weg. Ohne Ersatzfreiheitsstrafe bliebe unser Strafrecht jedoch ein klassischer zahnloser Tiger.

Ehrliche Frage: Warum soll ich denn eine Geldstrafe – sei es in Raten oder unter großen finanziellen Aufwendungen und Anstrengungen, die ich dann habe – an den Staat zahlen, wenn mir überhaupt keine finalen Konsequenzen drohen? Oder noch plakativer ausgeführt: Ein bekennender Reichsbürger akzeptiert weder die Behörden noch die Gerichte. Er akzeptiert keine Entscheidungen und er akzeptiert auch die Geldstrafe nicht. Das tut er einfach nicht; das kennen wir ja.

(Rico Gebhardt, DIE LINKE: Er akzeptiert auch das Gericht nicht!)

Er geht auf keine Ratenzahlung ein, und er geht auch auf keine Angebote ein. Er sitzt das aus, im wahrsten Sinne des Wortes. Nun kann und muss das Gericht kraft Gesetzes die Geldstrafe in eine Ersatzfreiheitsstrafe umwandeln und umwandeln können. Das muss das Gericht auch tun. Meiner Ansicht nach lässt sich eine Ersatzfreiheitsstrafe bei dieser Klientel als Rechtsmittel nur noch so effektiv durchsetzen. Das lehrt auch die Erfahrung. Jetzt beraubt man aber den Staat dieser Sanktionsmöglichkeiten, sein Recht durchzusetzen. Damit höhle ich – das merkt man doch – den Rechtsstaat aus, und das tue ich ohne jeden Grund.

Es wird immer wieder von Ihnen gefordert, dass die gemeinnützige Arbeit zu stärken und auszubauen sei. Ja, das teile ich durchaus. Sie ist wirklich auszubauen und zu stärken, und sie wird auch gestärkt. Aber das ist doch längst gängige Praxis, und das sollte gern noch verstärkt werden. Schon jetzt aber ist – im Gegensatz zu der Aussage von Frau Nagel – die gemeinnützige Arbeit jederzeit möglich. Das wird weiterhin unterstützt. Wir haben das Projekt „Schwitzen statt Sitzen“. Das ist jedem bekannt und kann aufgegriffen werden. Das ist ein Mittel.