Protocol of the Session on October 29, 2020

Das Letzte, was wir jetzt brauchen, ist eine herbeigeredete Spaltung der Gesellschaft,

(Beifall SPD und Dr. Marret Bohn [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN])

zum Beispiel, indem Generationenkonflikte beschworen werden: Es sind nicht die Alten, wegen derer das Leben stillsteht. Und es sind nicht die Jungen, deren Partys die Zahlen in die Höhe treiben. Der Ministerpräsident hat es gesagt: Bei 75 % aller Infektionen wissen wir inzwischen nicht mehr, woher sie genau kommen.

Ja, Generationen sind vielleicht unterschiedlich betroffen. Und so, wie die Jungen bei Fridays for Future das Engagement der Älteren einfordern, so ist es bei Corona vielleicht genau umgekehrt.

Aber jetzt geht es um gesellschaftliches Miteinander und um Solidarität, Solidarität gegenüber denen, für die das Virus besonders gefährlich ist, Solidarität aber auch gegenüber denen, die bisher den großen Teil der Last der Pandemiebekämpfung getragen haben.

Da geht es um die Menschen in besonders betroffenen Berufen, von der Pflege bis zum Einzelhandel, von den Rettungskräften bis zu den Erzieherinnen. Und es geht um die Menschen in den Heimen.

Aber machen wir uns nichts vor: Es bleibt eine ungeheuer schwierige Abwägung zwischen dem Gesundheitsschutz, was Bewohner, Besucher und Beschäftigte betrifft, und dem Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht unserer Eltern und Großeltern und deren berechtigter Angst vor Einsamkeit und Trennung von den Lieben.

Albert Schweitzer hat gesagt:

„Humanität bedeutet, dass niemals ein Mensch einem Zweck geopfert wird.“

(Dr. Ralf Stegner)

Auch die Pandemie rechtfertigt nicht - und das war das Schlimmste an den Verhältnissen im Frühjahr -, dass Menschen alleine sterben mussten. Das war grausam; das dürfen wir nie wieder zulassen, das widerspricht aller Humanität.

(Beifall SPD, CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und Dr. Frank Brodehl [fraktionslos])

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht aber auch um die Familien, in deren Interesse wir alles unternehmen müssen, damit Kitas und Schulen geöffnet bleiben können. Viele haben über ihre Kräfte und ohne Urlaub und Erholung enorm viel auf sich nehmen müssen. Das lässt sich nicht beliebig wiederholen. Die Pandemiefolgen betreffen ganz oft diejenigen, die es ohnehin schwer haben, deren Wohnsituation schon in normalen Zeiten alles andere als gut ist, die prekär beschäftigt sind und weder auf Ersparnisse noch Kurzarbeitsregelungen zurückgreifen können, oder deren Hartz-IV-Regelsatz weder den Pandemiefall noch die Kosten für Masken oder Desinfektionsmittel einschließt.

Das gilt aber auch für Alleinerziehende, die die gesamte Herausforderung der Betreuung stemmen müssen. - Sie alle müssen jetzt in der zweiten Welle viel stärker in den Blick genommen werden. Auch das ist unsere Verantwortung in diesem Parlament.

(Beifall SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN)

Die Regierungschefs von Bund und Ländern haben sich gestern einstimmig auf harte Einschnitte verständigt, die glücklicherweise Schulen und Kitas ausnehmen, aber für weite Teile der Gesellschaft einem Lockdown gleichkommen. Der Euphemismus mit dem Begriff „Lockdown light“ taugt dabei relativ wenig.

Die bundesweite Einigung ist begrüßenswert; denn es geht in der Tat um einen nationalen Kraftakt, den es zu bewältigen gilt und zu dem Kleinstaaterei auch dann nicht passt, wenn das Infektionsgeschehen regional unterschiedlich ist. Das trifft viele hart, gerade auch diejenigen, die einen hohen Aufwand betrieben haben, um mit Hygienekonzepten und viel Kreativität mit der Pandemie umzugehen. Ich will mich ausdrücklich bei ihnen für ihr Engagement bedanken.

(Beifall SPD, CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP)

Ich habe viel Verständnis für diejenigen gerade in der Gastronomie und bei den Sportvereinen, die das jetzt kritisch hinterfragen, zumal sich das Infekti

onsgeschehen mutmaßlich hauptsächlich woanders abgespielt hat. Deshalb sind die vorgesehenen Entschädigungsleistungen durch den Bund - 75 % der Erträge des Vorjahresmonats - gut, essenziell notwendig und die Grundvoraussetzung dafür, dass man dem überhaupt zustimmen kann, liebe Kolleginnen und Kollegen. Dennoch wird das viel Enttäuschung mit sich bringen, das kann ich gut verstehen. Wichtig ist, dass das Geld jetzt schnell, gut und unbürokratisch fließt, damit es auch wirklich allen hilft. Ob die geschätzten 10 Milliarden € ausreichen, darf man wirklich bezweifeln, wenn wirklich alle Betriebe und Einrichtungen, die behördlich geschlossen werden beziehungsweise indirekt betroffen sind, tatsächlich entschädigt werden. Darauf müssen wir bestehen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall SPD, CDU und FDP)

Gerade darum gilt, dass wir uns gemeinsam anstrengen müssen, um diesen Lockdown so kurz wie möglich zu halten. Dazu gehört, die ebenfalls vereinbarten Kontaktbeschränkungen konsequent einzuhalten. Im öffentlichen Raum wird man das kontrollieren können, und wir wollen auch, dass es keine privaten Feten gibt und die privaten Kontakte deutlich reduziert werden. Das erfordert die Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger. Was wir jedoch nicht wollen und keinesfalls dulden dürfen, ist eine grundgesetzwidrige polizeiliche Kontrolle in Privaträumen.

(Beifall SPD, CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP - Jörg Nobis [fraktions- los]: Herr Lauterbach sieht das aber anders!)

- Ich bin da aber anderer Meinung. Wir wollen auch nicht den Einsatz besonders „wachsamer Nachbarn“.

(Beifall SPD, CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP)

Der Appell gilt schon, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger: Halten Sie sich bitte an die Kontaktbeschränkungen! Das ist ein Akt der Solidarität mit den Mitmenschen. Auch wenn ich die Wendung „Social Distancing“ schrecklich finde, gilt doch: Distanz ist die neue Nähe.

Schleswig-Holstein hatte am Montag bereits eigene Verschärfungen beschlossen. Herr Ministerpräsident, wir haben die von Ihnen angekündigten Punkte nicht kritisiert, weil wir sie in der Sache moderat und richtig fanden, über den Zeitpunkt haben wir uns allerdings schon gewundert. Spätestens nach der Einigung gestern Abend muss man festhalten,

(Dr. Ralf Stegner)

dass dieser Sonderweg Schleswig-Holsteins nicht klug gewesen ist; denn die Absprachen im Bund gehen deutlich über die Ankündigungen hinaus. Damit war das sicherlich einmal mehr kein Beitrag zur Klarheit der Kommunikation gegenüber den Menschen im Land. Ihre Kehrtwende, Herr Ministerpräsident, war aus staatsmännischer Verantwortung zwingend notwendig, aber das macht Ihren Alleingang vom Montag nicht besser. Ich denke, er erschwert die Akzeptanz, und die Gastronomie oder die Amateursportler sind zu Recht sauer.

(Beifall SPD)

Wir dürfen, liebe Kolleginnen und Kollegen, bei der Fokussierung auf den Gesundheitsschutz in Anbetracht der neuen Regeln diejenigen nicht vergessen, die noch keine Antworten auf die vielen offenen Fragen der letzten Monate bekommen haben. Was ist mit der Absicherung der Soloselbstständigen, die ohne eigenes Verschulden noch immer kaum Umsätze haben? - Da gibt es viele Forderungen und Ankündigungen, aber es fehlen nach wie vor praktikable Lösungen. Und der Verweis auf Hartz IV taugt wenig, wie wir aus der Praxis wissen.

(Beifall FDP)

Wo ist die Hilfe für die besonders betroffenen Branchen wie den Veranstaltungsbereich? Welche Antworten geben wir denjenigen, die zu Recht kritisieren, wenn wir Schüler in der Schule fein säuberlich in Kohorten teilen, sie dann aber auf dem Schulweg wieder alle gemeinsam in überfüllte Busse stecken?

(Beifall SPD)

Ich muss Ihnen da ganz ehrlich sagen: Bei aller Gemeinsamkeit, aber mir fehlt jedes Verständnis, dass die Jamaika-Koalition unsere Initiativen für den Schulbusbereich unter Verweis auf die kommunale Zuständigkeit zurückgewiesen hat. Das Thema wird wiederkommen, und damit müssen wir uns beschäftigen. Wir sollten auch mit den Betroffenen, auch mit der Omnibusbranche, die durchaus etwas anzubieten hat, reden.

Damit hängt eng zusammen, dass wir konsequent in allen Schulen, wo es nötig ist, Luftreinigungsanlagen aufstellen werden. Das ist nach Meinung aller Fachleute technisch machbar, dauerhaft sinnvoll und muss auch finanzierbar sein. Wer Milliarden für die Lufthansa hat, muss auch dieses stemmen können, denn hier sind gute Lösungen für Kitas, Schulen, Restaurants und auch kleine Veranstaltungsräume erforderlich, erst recht, wenn die Nachverfolgung von Infektionsketten und die damit ver

bundenen Quarantäneschutzmaßnahmen kaum noch funktionieren.

(Beifall SPD)

Die heutige Redezeit reicht nicht aus, um alle Probleme anzusprechen, das ist ja klar. Wir müssen aber Verständnis für diejenigen haben, die stark unter den Einschränkungen leiden. Wir müssen uns der Diskussion mit allen stellen, die hinterfragen, ob nicht das eine oder andere über das Ziel hinausschießt. Aber Gewaltenteilung und Föderalismus funktionieren bei uns sehr wohl. Unser Staat ist handlungsfähig, wie wir gerade mit Blick auf die USA sehen können. Es braucht auch klare Kante gegenüber denjenigen, die sich selbst und andere wider besseres Wissen in Gefahr bringen, weil sie auch jetzt noch mit aller Kraft ihren Egoismus ausleben wollen. Damit meine ich selbsternannte Querdenker, die eigentlich Nichtdenker heißen müssten. Damit meine ich auch AfD-Abgeordnete, die per Unterlassungserklärung ihr Recht erstreiten wollen, andere anstecken zu dürfen. Damit meine ich sogenannte Promis, die ihre Reichweite in den sozialen Netzwerken missbrauchen, um abstruse Verschwörungstheorien zu verbreiten, die es eigentlich nur auf geschlossenen Abteilungen in der Psychiatrie geben sollte.

(Beifall SPD und FDP)

Das alles braucht es nicht, meine sehr verehrten Damen und Herren. Dafür habe ich null Verständnis. Lassen Sie mich in aller Klarheit auch sagen: Die Meinungsfreiheit ist in Weißrussland bedroht, aber gewiss nicht in der Bundesrepublik Deutschland, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall SPD, CDU und FDP)

Um den Blick auf unser Land zu richten: Mein Verständnis für diejenigen Maskengegner, die CyberGuerilla-Attacken gegen den Landeselternbeirat fahren und sogar vor persönlichen Beschimpfungen oder Bedrohungen nicht zurückschrecken, tendiert wirklich gegen Null. Das geht gar nicht.

(Beifall SPD, CDU, FDP und vereinzelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, gelegentlich habe ich in den letzten Monaten die verwunderte Frage gehört, wie denn Oppositionsrolle und Unterstützung der Regierung zusammengehen - gerade bei dem mir fälschlicherweise zugeschriebenen Naturell.

(Heiterkeit)

(Dr. Ralf Stegner)

Wie im Frühjahr gilt auch jetzt: Es ist wirklich nicht die Zeit für parteipolitische Profilierung. Meine Fraktion steht auch in der Opposition zu ihrer Verantwortung für Schleswig-Holstein und dafür, die Handlungsfähigkeit unseres Gemeinwesens in der Krise sicherzustellen. Das ist eine Bewährungsprobe für uns alle. Es war ein gutes Zeichen, dass wir als Demokratinnen und Demokraten in diesem Haus in einem Kraftakt diesen milliardenschweren Nachtragshaushalt auf den Weg bringen. Für die Fundamentalkritik des Landesrechnungshofs oder des selbsternannten Bundes der Steuerzahler habe ich in dieser außergewöhnlichen Situation keinerlei Verständnis.

(Beifall SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN)

Denn das, was wir hier alle miteinander tun, ist keineswegs, Geschenke zu verteilen, wie es heißt, sondern wir übernehmen Verantwortung dafür, dass unser Land wieder gut aus der Krise kommt. Das ist unsere Aufgabe, und die nehmen wir gemeinsam miteinander wahr. Herr Ministerpräsident, ich stimme Ihnen zu, darauf sollten wir auch gemeinsam stolz sein.

(Beifall SPD, CDU und FDP)