Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind in der Union eine große, streitbare Volkspartei. Darum ist es gut, dass es Abgeordnete wie den Kollegen Kalinka gibt, der für die Arbeitnehmer streitet.
Vielleicht bin ich auch ein Relikt. Ich möchte daran erinnern, welche Philosophie Bundeskanzler Gerhard Schröder, Finanzminister Peer Steinbrück und der Vorsitzende der Grünen und Außenminister Joschka Fischer gehabt haben, als sie ihre Agenda 2010 mit den Regeln, die Sie jetzt als unsozial kritisieren, ins Leben gerufen haben. Man darf daran erinnern, dass die Rahmenbedingungen nicht die böse, unsoziale, kaltherzige CDU gemacht hat, sondern Ihr Bundeskanzler und Ihr Außenminister.
Das war in einer Zeit, als wir durch die Globalisierung im Niedriglohnbereich Hunderttausende von Arbeitsplätzen in Deutschland verloren haben. Wenn Sie heute in Deutschland in die Textilindustrie gehen, in die Metallindustrie, zu den Autozulieferern und fragen, wie viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die vor 15 oder 20 Jahren gehabt haben, und gucken, wie viele heute noch da sind, werden Sie merken, dass da eine Menge Arbeits
plätze verschwunden sind. Ich nenne einmal die Hamburger Drahtseilerei in Bad Oldesloe. Gehen Sie da einmal vorbei, und fragen Sie, wie viele handwerkliche Tätigkeiten dort heute noch erbracht werden.
- Richtig, es schwebte auch mehr so durch den Raum. - Eine ganze Menge von Unternehmen haben die Arbeitsplätze nach China, nach Asien insgesamt, nach Südamerika verloren. In dieser Zeit, als wir deutschlandweit Hunderttausende von Arbeitsplätzen verloren haben, kam Gerhard Schröder auf die Idee, Folgendes zu machen. Es war ein Angebot an die Unternehmerinnen und Unternehmer, Arbeitsplätze, die es bis dahin in Deutschland nicht gab, zu schaffen und am Ende den Lohn, den sie Arbeitnehmern aufgrund der Kostensituation nicht zahlen können, durch Aufstockung von staatlicher Seite zur Verfügung zu stellen. Das war die Logik, die dahintersteckte.
Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Wir haben damals auf Unionsseite gestaunt, und wir fanden das richtig, weil es die Tarifautonomie dort ließ, wohin sie gehört, nämlich bei den Tarifparteien. Wo das Ergebnis der Gesellschaft unsozial erscheint, wird von Staatsseite das Nötige getan, um durch Aufstockung auf ein vernünftiges, erträgliches Maß zu kommen. Das war die Philosophie von Rot-Grün.
Diese Philosophie, die Agenda 2010 hat dazu geführt, dass wir heute nicht 5 Millionen Arbeitslose haben, sondern nur noch 2,9 Millionen Arbeitslose. In jeder Rede sagt die Bundeskanzlerin: Ich bin stolz darauf. - In jeder Rede sagt sie aber auch, dass das auch an der Regierungszeit von Rot-Grün liegt. Das stimmt.
Wo sind denn die Jobs entstanden? - Sie sind nicht im akademischen Bereich entstanden, sie sind nicht im Bereich der Hochqualifizierten entstanden. Sie sind überwiegend im Niedriglohnbereich entstanden.
Jetzt können Sie sagen, das sei alles unsozial, das hätte gar nicht passieren dürfen, das sei eine Riesensauerei.
Und: Liebe Unternehmer, wir nehmen euch die Aufstockung vom Staat wieder weg, ihr müsst nun einen von uns festgelegten Mindestlohn zahlen. Zu glauben, dass die Arbeitsplätze dann alle dableiben, zu glauben, dass die alle bleiben und kein einziger weggeht,
weil ein Gutachten das ergibt - ich kann Ihnen zu fast jeder Frage in Deutschland ein Gutachten und ein Gegengutachten vorlegen -, das zu glauben, ist doch illusionär. Gehen Sie einmal an die deutschpolnische Grenze!
Ich darf vielleicht noch meine eineinhalb Sätze sagen. - Gehen Sie einmal an die Grenze, wo Sie extreme Niedriglöhne haben, die übrigens tarifär verhandelt worden sind und nicht von christlichen Gewerkschaften. Wenn die entsprechend Ihrer Vorstellung bezahlt werden, sind die Arbeitsplätze weg, weil die Deutschen über die Grenze fahren und dort die Leistungen in Anspruch nehmen. Das sollten Sie bei dieser Debatte bedenken.
Darum war und bin ich immer gegen Mindestlöhne. Natürlich trage ich die Meinung meiner Fraktion mit, aber auch nur, weil es sozusagen der kleinste Nenner und das geringste Übel von all den Anträgen ist, die auf dem Tisch liegen. Zum Glück stimmen wir ja heute nicht ab, sondern debattieren im Ausschuss weiter.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es schon ziemlich gewagt, die Agenda 2010 auf die Frage der Schaffung des Niedriglohns und der Diskussion eines Mindestlohns zu reduzieren.
- Ich werde gleich etwas dazu sagen, aber ich will erst den eigentlichen Ansatz machen. Anfang dieses Jahrtausends haben wir auch mit der Regierung Schröder in Berlin diskutiert, was man am Arbeitsmarkt und in den Sozialgesetzen verändern muss, Herr von Boetticher. Da ging es darum, die vielen Millionen Menschen, die in der Sozialhilfe waren, die komplett aus jedem Leistungsbezug, aus jedem Anspruch auf Arbeitsförderung herausgedrängt waren, hineinzuholen. Das ist die große Leistung der Agenda 2010, dafür zu sorgen, dass das gelungen ist, die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe.
Der zweite Punkt hängt damit zusammen. Nicht nur Menschen, die in der Sozialhilfe waren, haben Ansprüche auf Unterstützung von Leistungen und wurden am Arbeitsmarkt wieder ernst genommen. Das hat dazu geführt, dass wir 5 Millionen Arbeitslose hatten, deren Zahl bis heute reduziert werden konnte. Wie gesagt, es geht nicht darum, einfach die Arbeitslosenstatistik heranzuziehen, sondern deutlich zu machen, dass das über das System der Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe gelaufen ist.
Wenn hier vom Niedriglohn gesprochen wird - der Niedriglohn existiert nicht nur an der polnischen Grenze. Gehen Sie einmal in die Filiale einer großen Friseurkette in Kiel und fragen, was die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dort verdienen! Da haben Sie den Niedriglohn, den Sie angeblich an der polnischen Grenze vermuten. Er ist hier, er ist in vielen Dienstleistungen vorhanden. Es ist unmenschlich, und es ist nicht in Ordnung, dass Menschen so wenig Geld für ihre Arbeit bekommen. Das muss aufhören.
Mit dem Mindestlohn unterbinden wir Lohndumping. Dass Unternehmen darauf bauen, dass ihre Mitarbeiter und deren Familien vom Staat Unterstützung erhalten, kann wohl niemand ernsthaft wollen. Es darf auch nicht sein, dass Menschen, die von ihrer Arbeit leben müssen, dies nur dann können, wenn sie zusätzlich staatliche Transferleistungen beziehen. Wenn wir wenigstens in diesem Punkt Gemeinsamkeit herstellen können, Herr Kollege Kalinka, werden wir auch in den anderen Fragen Einigkeit hinbekommen. Dann ist nämlich klar, dass ein Mindestlohn bei circa 8,50 € liegen muss.
Wer das nicht akzeptieren will, läuft mit Scheuklappen durch die Welt, und das finde ich bedauerlich.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe mich zu Wort gemeldet, weil mir die Debatte zu sehr in eine Richtung geht. Ich will jetzt nicht eine Gegenrede gegen Lohnuntergrenzen halten, sondern die Situation eines Unternehmers schildern, der seit 22 Jahren selbstständig ist und jeden Tag Geld verdienen muss, damit er seine 16 Mitarbeiter - übrigens über Tarif! - bezahlen kann.
Mir kommt es so vor, als ob die Unternehmer hier im Land Schleswig-Holstein und im gesamten Bundesgebiet generell als Abzocker dargestellt werden. Ich habe damit ein massives Problem, werter Herr Kollege Baasch.
Sie haben von Lohnuntergrenzen im Zusammenhang mit Dienstleistungen gesprochen. Im Umkehrschluss bedeutet das eine Erhöhung der Kosten. Für den Friseur reicht es dann nicht mehr, 12,50 € für einen Haarschnitt zu verlangen, sondern er muss von Ihnen 25 € verlangen.
- Bei Ihnen mehr, weil Sie eine Dauerwelle haben und vielleicht noch Lockenwickler eingelegt bekommen. Das Problem ist doch, dass die Kosten generell umgelegt werden und deshalb Arbeitsplätze in Gefahr sind. Das folgt im Umkehrschluss aus dieser Forderung.
Ich habe hier einige Diskussionen mitverfolgt und mich bisher zurückgehalten. Aber da Sie doch so einen guten Zugang zu den Gewerkschaften haben, bitte ich Sie, im Interesse unserer Unternehmen, unserer Handwerksbetriebe in Schleswig-Holstein darauf hinzuwirken, dass die Lohngruppen in den neuen und den alten Bundesländern auf ein einheit
liches Niveau gehoben werden. Wissen Sie eigentlich, was im Handwerksbereich tagtäglich an Wettbewerbsungleichheit zuungunsten unserer Betriebe zu beobachten ist?