Protocol of the Session on August 26, 2011

Anfang August haben wir uns im Landtag alle mit dem Fall der Familie des 14-jährigen Tigran beschäftigt. Durch die Initiative aus der Landesregierung heraus, durch Herrn Justizminister Schmalfuß, aber auch durch den Ministerpräsidenten, wurde dieser Fall für Tigran zunächst befriedigend gelöst.

Unser Aufenthaltsgesetz greift in sehr vielen Fällen, aber - das hat der Fall deutlich gemacht - es gibt immer wieder Fälle, in denen es nicht ausreicht. Hier fallen die Betroffenen durch alle Raster. Das Problem der Kettenduldung ist seit Langem bekannt; Frau Amtsberg hat das hier eben deutlich gemacht. Bisher ist durch die Innenministerkonferenz leider noch keine abschließende Regelung gefunden worden.

Die CDU-Fraktion begrüßt deshalb ausdrücklich die Pläne der Landesregierung, hier Abhilfe zu

schaffen. Wir brauchen für die Zukunft gerade in Fällen wie Tigran mehr Rechtssicherheit. Wir möchten den geduldeten Menschen, die unverschuldet nicht ausreisen können, seit Langem hier leben und schon gut integriert sind, Perspektiven bieten.

(Beifall der Abgeordneten Katja Rathje- Hoffmann [CDU])

Allerdings - auch das gehört dazu - haben wir auch Erwartungen an diese Menschen. Der Justizminister hat davon bereits einige öffentlich genannt: Sprachkenntnisse, Jobs, soziale Integration und so weiter. Hier sind für meine Fraktion noch einige Fragen offen. Was heißt zum Beispiel „langjähriger Aufenthalt“? Was erwarten wir von den Betroffenen, die älter sind oder aus anderen Gründen nicht erwerbstätig sein können? Welche Folgen soll Straffälligkeit einzelner Familienmitglieder haben? Wie gehen wir mit denen um, die durch vorsätzlich falsche Angaben eine Verfahrensverschleppung erreichen wollen? Ganz wichtig im Zuge dieser Beratungen ist - auch das hat der Fall Anfang August gezeigt -, dass wir eine Verkürzung der Asylverfahrensdauer erreichen. Hier besteht durchaus Spielraum.

(Beifall der Abgeordneten Katja Rathje- Hoffmann [CDU])

Aus der gesamten Diskussion wird sich aber auch die Frage ergeben: Welche Abschiebungshindernisse müssen wir beseitigen, um konsequent eine Ausreise der Menschen zu erreichen, die die von uns vorgeschlagenen Kriterien nicht erfüllen? Auch das gehört zur Ehrlichkeit der Debatte hinzu.

(Vereinzelter Beifall bei der CDU und Bei- fall des Abgeordneten Gerrit Koch [FDP])

Wir möchten Menschen ohne gesichertes Bleiberecht, die die dann festgelegten Kriterien erfüllen, eine Perspektive bieten. Wir müssen aber auch sicherstellen, dass es nicht zu unkontrollierter Zuwanderung in unsere Sicherungssysteme kommt. Da wir wirklich noch nicht so weit sind, habe ich nur einige der Fragestellungen genannt.

Für meine Fraktion beantrage ich, die vorliegenden Anträge an den Innen- und Rechtssausschuss zu überweisen, damit wir uns dort mit den einzelnen Fragen sachlich auseinandersetzen können, um im Sinne der Betroffenen möglichst zügig zu einem Ergebnis zu kommen. In einer der nächsten Landtagsdebatten sollten wir das Thema abschließend behandeln.

(Beifall bei CDU und FDP)

(Luise Amtsberg)

Nun rufe ich Frau Kollegin Serpil Midyatli auf, die für die SPD-Fraktion spricht.

Frau Präsidentin! Ich lächele, weil ich immer noch versuche, die Aussage von soeben zu verdauen: Müssen wir tatsächlich immer noch Abschiebungshindernisse beseitigen, liebe Frau Damerow? Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Fall Tigran hat uns deutlich vor Augen geführt, dass das Aufenthaltsgesetz geändert werden muss. Schon mehrfach wurde angekündigt, dem Phänomen der Kettenduldung Abhilfe zu leisten; das ist bisher nur unzureichend geschehen. Die Unsicherheit bei Betroffenen, ob sie bleiben dürfen, führt dazu, dass sie jahrelang auf gepackten Koffern sitzen und sich nicht richtig in die Gesellschaft integrieren.

Eine weitere Folge des ungesicherten Aufenthaltsstatus besteht darin, dass diese Menschen keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu Integrationsmaßnahmen haben. Selbst wenn sie es aus eigener Kraft und mit eigenem Fleiß schaffen, Sprachkenntnisse zu erwerben, eine Ausbildung zu absolvieren, sich eine berufliche Existenz aufzubauen und sich in die Gesellschaft zu integrieren, bietet das alles keinen Schutz vor der Abschiebung in ein Land, dessen Staatsbürger sie nur noch formal sind. Viele dieser Menschen haben hervorragende Integrationsleistungen erbracht, ohne Aussicht darauf zu haben, dass dies von dieser Gesellschaft anerkannt wird. Bestenfalls können sie - wie im Fall Tigran auf ein positives Votum der Härtefallkommission hoffen. Das ist ungerecht und stellt keinen Anreiz dar, sich zu integrieren, wie wir es von allen Zuwanderern verlangen. Im Kopf ist immer der Gedanke, dass man schon bald abgeschoben werden könnte.

Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat uns einen Antrag vorgelegt, in dem deutlich wird, wie sie sich eine Gesetzesänderung vorstellen kann. Dann ereilte uns jedoch die Nachricht aus dem Integrationsministerium. Emil Schmalfuß schlug vor, einen eigenen Aufenthaltstitel für Ausländerinnen und Ausländer, die sich nachhaltig integriert haben, einzurichten. Das ist zwar nicht ganz neu, aber neu zumindest für ein schwarz-gelbes Kabinett.

Wir, die SPD-Fraktion, begrüßen diesen Vorschlag sehr. Aus der Sicht meiner Fraktion handelt es sich

um einen pragmatischen Ansatz, den wir unterstützen können. Wir sind auch bereit, einige unserer Forderungen zurückzustellen, um hier einen möglichst breiten Konsens zu ermöglichen. Es kann vermieden werden, dass ewig und drei Tage an einem Aufenthaltsgesetz herumgedoktert wird; ein eigener Aufenthaltstitel würde endlich auf gesetzlicher Ebene Klarheit schaffen.

Der Fall Tigran war und ist keine Ausnahme. Vor ähnlichen Schwierigkeiten stehen die Ausländerbehörden und die Härtefallkommission immer wieder. Die Entscheidung, ob jemand bleiben darf oder nicht, hängt gegenwärtig auch von der Gnade des Ministerpräsidenten ab. In diesem Falle zeigte der Daumen nach oben - danke, Herr Ministerpräsident Carstensen! Ihr Einsatz in allen Ehren, aber Gnadenentscheidungen dürfen in einem Rechtsstaat keine gesetzlichen Regelungen ersetzen.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und LINKEN)

Mit unserem Antrag möchten wir, die SPD-Fraktion, die Bemühungen des Herrn Minister Schmalfuß unterstützen. Auch wir sind der Auffassung, dass im Bundesrat eine entsprechende Initiative gestartet werden muss. Wenn Sie gestatten, Frau Präsidentin, würde ich gern aus der Presseerklärung des Herrn Ministers vom 22. August 2011 zitieren:

,,Ich bin davon überzeugt, dass wir eine dauerhafte Regelung im Gesetz brauchen, die diejenigen begünstigt, die sich langjährig hier aufhalten und sich integriert haben.“

Da zum Ende dieses Jahres die bereits verlängerte Altfallregelung ausläuft, muss die Initiative noch in diesem Jahr in den Bundesrat eingebracht werden, damit die Ausländerbehörden die Möglichkeit haben, Abschiebungen unter Hinweis auf die mögliche Rechtsänderung auszusetzen.

Dies sieht zu unserer Freude - zu meiner ganz besonders - auch die CDU-Fraktion so. Daher begrüßen wir den Antrag der Fraktionen von CDU und FDP außerordentlich. Was für ein Paradigmenwechsel!

Die CDU hat sich aber wohl gedacht: Wir wollen es nicht gleich übertreiben; denn da gibt es noch die Kriterien, die zu beachten sind. Zunächst einmal überweisen wir deshalb alle Anträge in den Ausschuss. - Das ist okay; Hauptsache, wir kommen in der Debatte weiter.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Wort für die FDP-Fraktion erhält Herr Kollege Gerrit Koch.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Fall des 14-jährigen Tigran S. hat uns allen einen breiten Strauß verbesserungswürdiger Umstände vor Augen geführt. Zunächst einmal gilt es, der interessierten Opposition noch einmal deutlich zu sagen, dass für Ausländerangelegenheiten seit Oktober 2009 nicht mehr der Innenminister, sondern der Integrationsminister Schmalfuß zuständig ist. Herr Kollege Dr. Habeck hat noch am 29. Juli 2011 den Innenminister zum persönlichen Einschalten aufgefordert; ich hätte bei Herrn Dr. Habeck mehr Sachkenntnis vermutet. Kollegin Amtsberg, Sie wissen es auf jeden Fall besser.

Die Linken wussten es zwar auch nicht richtig, korrigierten sich aber immerhin. Das soll hier schon der einzige Seitenhieb gewesen sein.

(Heiterkeit bei der LINKEN)

- Sie haben immerhin nur eine halbe Stunde gebraucht, um sich zu korrigieren.

Meine Damen und Herren, der Fall des armenischen Jungen hat uns vor allem die Grenzen der geltenden Gesetze aufgezeigt, wenn es darum geht, tatsächlich jedem Einzelfall gerecht zu werden. Die Integrationsleistung eines jungen Menschen unter 15 Jahren ist bislang eben nicht dazu geeignet, immer einen Härtefall zu begründen, der einer Aufenthaltsbeendigung entgegensteht. Dem Aufenthaltsgesetz fehlt es diesbezüglich an Flexibilität, die Stichtagen naturgemäß auch nicht innewohnen kann.

Herr Minister Schmalfuß hat mit seiner Entscheidung Anfang August 2011 in diesem Einzelfall für einen Ausgleich zwischen fehlendem Rechtsanspruch und Gerechtigkeitssinn gesorgt. Das war richtig. Auf Dauer kann das aber nicht der Weg sein, für Rechtssicherheit zu sorgen.

(Beifall des Abgeordneten Dr. Kai Dolgner [SPD])

- Danke, Herr Dr. Dolgner. - Rechtssicherheit gründet sich nämlich nicht auf ständige Ausnahmeentscheidungen, sondern immer noch auf eine klare Gesetzgebung mit eindeutigen Rechtsfolgen. Es ist keiner Seite geholfen, wenn staatliche Entscheidungen der - wenn auch gut gemeinten - Willkür ein

zelner Entscheidungsträger überlassen werden. Deutschland ist und bleibt ein Rechtsstaat. Das ist unsere Stärke und zugleich Grundlage unserer Demokratie.

(Beifall bei FDP, SPD und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Der aktuelle Vorstoß des Integrationsministers Schmalfuß folgt dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit. Er folgt der richtigen Erkenntnis, dass immer neue Altfallregelungen letztlich zu immer neuen Neufällen führen. Eine verlässliche, dauerhafte Lösung ist so nicht in Sicht. Der richtige Weg führt über eine Gesetzesänderung, und zwar auf Bundesebene, nicht über eine Landesverordnung. Die betroffenen Menschen sollten überall gleich und nicht in jedem Bundesland anders behandelt werden.

Allerorten wird gefordert, Migranten, egal mit welchem Aufenthaltsstatus, in unsere Gesellschaft zu integrieren und am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu lassen. Genauso wichtig ist es für einen weiteren erfolgreichen Aufenthalt in Deutschland, die Integrationsleistung des betroffenen Migranten an bestimmten Faktoren zu messen. Ganz sicher sind dies hinreichende Kenntnisse der deutschen Sprache. Wer sich sprachlich nicht verständigen kann, kann sich nicht integrieren und wird eher auf skeptische Ablehnung als auf freundliches Entgegenkommen stoßen. Logischerweise können nur diejenigen integriert sein, die sich schon länger in Deutschland aufhalten; das liegt in der Natur der Sache.

Abhängig vom Alter sollte sich jeder Immigrant generell seinen eigenen Lebensunterhalt verdienen können. Integration funktioniert zudem nicht abgeschirmt vor dem heimischen Fernseher, sondern dadurch, dass man sich mit seinem Wissen und seinen Erfahrungen in die Gesellschaft einbringt. Unabdingbar ist außerdem, dass jeder Mensch, der sich für Deutschland als Aufenthaltsort entscheidet, unsere demokratischen Spielregeln mitträgt.

(Zuruf der Abgeordneten Serpil Midyatli [SPD])

- Ich habe „können“ gesagt. Natürlich muss das dem Alter angemessen sein; Kinderarbeit wollen wir wohl nicht fordern.

(Beifall bei der FDP - Zurufe von der SPD)

- Heute sind Sie da drüben ganz außer Rand und Band. Das ist ja toll.

Das ist nicht zu viel verlangt, sondern selbstverständlich. Die Zugangshürden quasi auf null zu sen

ken, würde große Probleme mit sich bringen. Ich bin mir aber sicher, dass der überwiegende Teil der hier lebenden Migranten sehr gern die vom Integrationsminister vorgeschlagenen Hürden überspringen wird.

Ich halte die Idee, individuell erbrachte Integrationsleistungen zu einer Voraussetzung für langfristige Aufenthaltstitel zu machen, nicht nur für folgerichtig, sondern auch für äußerst human. Damit wird der richtige Anreiz gesetzt, sich tatsächlich zu integrieren. Wie heißt es manchmal - wenn auch abgedroschen -: Leistung soll sich lohnen.

Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir zum Schluss noch eine Anmerkung zu einer Pressemitteilung der Sozialdemokraten vom Montag. Es mag sein, dass sich die SPD-Fraktion in den vergangenen Jahren stets für wirkungsvolle Bleiberechtsregelungen ausgesprochen hat. Umgesetzt hat sie dieses Ansinnen nach eigenem Bekunden trotz Regierungsbeteiligung nicht. Wenn Sie aber uns, der FDP, vorwerfen, an uns würde eine Lösung scheitern, dann geht das wirklich nach hinten los. Wir haben nicht nur zu Oppositionszeiten eine grundlegende Integrationspolitik eingefordert; gemeinsam mit der CDU machen wir uns in unserer Regierungsverantwortung sogar an die wohlüberlegte Umsetzung.

(Beifall bei FDP und CDU)