Protocol of the Session on January 27, 2020

Die Geschichte der verfolgten Homosexuellen, die Sie uns gerade vorgestellt haben, macht einmal mehr deutlich: 1945 gab es keine Stunde null.

Die strafrechtliche Verfolgung von Homosexuellen wurde auf unterschiedlicher rechtlicher Basis in Ost- und Westdeutschland fortgesetzt. Erlittenes Unrecht wurde weder anerkannt noch entschädigt. Statt einer Zäsur gab es erschreckende und zutiefst beschämende Kontinuitäten.

So standen in den 1950er-Jahren schwule Männer bisweilen vor denselben Richtern, die sie schon in der NS-Zeit zu Gefängnis oder KZ verurteilt hatten. Angst vor Entdeckung blieb auch in den 1950er- und 60er-Jahren ihre ständige Begleitung. Nicht wenige wurden erpresst, weil schon ein Verdacht zu beruflichen Nachteilen, zu Entlassungen, auch aus dem öffentlichen Dienst, und zur Vernichtung der persönlichen Existenz führen konnte.

Hier gibt es nichts zu beschönigen: Die fortgesetzte Kriminalisierung und strafrechtliche Verfolgung homosexueller Männer auch in Rheinland-Pfalz war bitteres Unrecht. Denn auch damals lautete der erste Satz unseres Grundgesetzes schon: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Als Parlamente, als Bundes- und Landesregierung hätten wir verhindern müssen, dass die Würde von Homosexuellen erneut missachtet und von Rechts wegen über zwei Jahrzehnte weiter mit Füßen getreten wird.

Stattdessen wurde in der Bundesrepublik bis in das Jahr 1969 zumeist unter Berufung auf ein natürliches,

ja göttliches Sittengesetz Homosexuellen ihr Recht auf selbstbestimmte Sexualität, auf Erfüllung und auf Glück verweigert.

Bis zur endgültigen Streichung des § 175 auch für das Gebiet der alten Bundesrepublik im Jahre 1994 verging dann noch einmal ein Vierteljahrhundert. Im Jahr 2002 hob der Deutsche Bundestag die während der Zeit des Nationalsozialismus ergangenen Unrechtsurteile wegen homosexuellen Verhaltens auf. Ein Gesetz zur strafrechtlichen Rehabilitierung und Entschädigung der nach dem 8. Mai 1945 wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen strafrechtlich verfolgten und verurteilten Personen folgte schließlich im Juli 2017 – wir haben das gehört, aber ich will es noch einmal eindringlich sagen: 68 Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik.

Das ist ein zutiefst beschämender und auch bedrückender Teil unserer deutschen und auch rheinland-pfälzischen Geschichte.

Die Unrechtsgeschichte gegenüber Homosexuellen ist auch heute noch nicht zu Ende. In vielen Ländern der Welt werden sie noch immer verfolgt, gedemütigt, auch ermordet.

Leider hat sich selbst in Deutschland in manchen Kreisen die Vorstellung von Homosexualität als Krankheit, vor der man sich und vor allem junge Leute schützen muss, bis heute gehalten. Ja, sie wird jetzt sogar von Rechten wieder befeuert.

Dagegen sage ich hier in aller Deutlichkeit: Es gehört zu unserer grundgesetzlich garantierten Freiheit, dass jeder Mensch über seine eigene sexuelle und geschlechtliche Identität bestimmen darf. Wer das bestreitet – aus welchen Gründen auch immer – stellt sich in Widerspruch zur Werteordnung unseres Grundgesetzes!

Verehrte Anwesende, das Land Rheinland-Pfalz stellt sich schon seit vielen Jahren der Verantwortung dafür, dass die strafrechtliche Verfolgung Homosexueller nach dem Krieg auch in unserem Bundesland seine Fortsetzung fand. Und wir sind uns natürlich bewusst, dass nicht nur Schwule und Lesben, sondern auch bisexuelle, transidente und intergeschlechtliche Menschen verfolgt und diskriminiert wurden.

Der rheinland-pfälzische Landtag hat sich 2012 für die strafrechtliche Verfolgung homosexueller Menschen entschuldigt, der Präsident hat das eben erwähnt. Als Ministerpräsidentin bekräftige ich heute diese Entschuldigung im Namen der Landesregierung von Rheinland-Pfalz noch einmal ausdrücklich.

Und ich richte die Entschuldigung heute an alle, die aufgrund ihrer sexuellen oder geschlechtlichen Identität in Rheinland-Pfalz durch staatliches Handeln Unrecht und Leid erfahren haben.

2012 hat der Landtag die Landesregierung auch aufgefordert, die lange systematisch ausgeblendete Verfolgungsgeschichte aufzuarbeiten.

Der schon mehrfach genannte Forschungsbericht des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin und der Bun

desstiftung Magnus Hirschfeld hat sie in zuvor nicht dagewesener Form nachgezeichnet.

Allen, die ihn noch nicht kennen, lege ich die Lektüre dieses Berichts wirklich sehr ans Herz und empfehle auch, sich die daraus entstandene Ausstellung „Verschweigen, Verurteilen“ anzuschauen, die diesen erschreckenden und beschämenden Teil unserer Geschichte in ein breites Bewusstsein bringt.

Die Landesregierung wird den Aufarbeitungsprozess weiter fortführen. Das Familienministerium hat bereits einen weiteren Forschungsauftrag an das Institut für Zeitgeschichte und die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld mit Blick auf lesbische Mütter vergeben. Die neuen Erkenntnisse wird Frau Staatsministerin Spiegel im September vorstellen, und ich bin froh, dass damit auch die blinden Flecken der Verfolgungsgeschichte von Frauen ausgeleuchtet werden. Der Landtagspräsident hat ein weiteres Projekt in Aussicht gestellt.

Verehrte Anwesende, um die richtige Form des Erinnerns ist, unterschiedlich in Ost und West, in Deutschland immer gerungen worden. Leichtgefallen ist uns diese Erinnerung nie. Und wir haben in diesen Tagen wieder schmerzlich gesehen, wie sehr das Verbrechen des Nationalsozialismus ganz Europa prägt und wie schwierig ein gemeinsames Erinnern ist.

Die Überlebenden der Lager konnten sich anfangs nicht einmal sicher sein, Gehör zu finden. Zu viele Deutsche sahen sich selbst als Opfer. Noch 1985 fiel es vielen in der Bundesrepublik schwer, Bundespräsident Richard von Weizsäcker zu folgen und den 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung zu verstehen.

Derzeit erleben wir, wie rechte Kreise die NS-Zeit relativieren und kleinreden. Damit treten sie die Würde der Opfer erneut mit Füßen.

Denn diese Vergangenheit ist nicht vergangen. Weil jedes Opfer einen Anspruch hat auf Erinnerung und Anerkennung seines Leids. Die Verbrechen der Nationalsozialisten und das unfassbare Leid der Opfer dürfen niemals vergessen werden!

Es kann auch keinen Schlussstrich geben, weil wir von unserer einschneidenden, geschichtlichen Erfahrung nicht absehen können, dass ein Rechtsstaat binnen Kurzem in sein Gegenteil verkehrt und zum Terrorstaat werden kann, wenn diejenigen in der Minderheit sind, die für die gleiche Würde aller eintreten.

Die Erinnerung an die grauenvollen Verbrechen während der NS-Zeit lehrt uns, wachsam zu sein und mit aller Kraft jedweden Bestrebungen entgegenzutreten, die unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung gefährden.

Wir haben leider allen Grund zur Wachsamkeit; denn wir sehen gerade, wie schmal der Grat zwischen Rechtspopulismus und Rechtsextremismus verläuft.

Wie mörderisch rechte Verschwörungsfantasien sind, wonach Juden für alles Schlechte in der Welt verantwortlich

gemacht werden, haben wir am Yom-Kippur-Tag 2019 in Halle erfahren.

Wenn Vertreter der neuen Rechten lautstark den Verlust der Männlichkeit hierzulande beklagen und Björn Höcke ganz offen von einer „großen Verschwulung“ deutscher Männer fantasiert, so zeigt das, wes Geistes Kind diese Leute sind. Sie tragen das Gift des Hasses und der Verachtung weiter und bedienen sich der alten Muster der Judenfeindschaft und der Homophobie.

Hier gibt es nur eine Antwort: Null Toleranz! Wir müssen entschieden die Stimme gegen Rassismus, Antisemitismus und die Verachtung von Minderheiten erheben und uns für eine vielfältige und weltoffene Gesellschaft starkmachen.

Verehrte Anwesende, als Ministerpräsidentin versichere ich Ihnen, dass die Landesregierung auch in Zukunft mit aller Entschiedenheit für eine vollständige rechtliche Gleichstellung und gesellschaftliche Akzeptanz homosexueller, bi-, trans- und intersexueller Identitäten und queerer Lebensweisen eintreten wird.

Dass wir auch in Rheinland-Pfalz noch nicht ganz am Ziel sind, zeigt der traurige Fall einer transidenten Frau in Oppenheim, die Ende letzten Jahres an der Haustür offen mit Gewalt und Tod bedroht wurde.

Sie können sich darauf verlassen, dass wir uns weiter starkmachen für die Aufarbeitung nationalsozialistischer Verfolgung, für das Gedenken an die Opfer und für Bildungs- und Demokratiearbeit, und dass wir dafür auch die notwendigen Mittel bereitstellen.

Und wir werden noch konsequenter gegen Hass und Hetze vorgehen, sei es auf der Straße oder im Netz.

„Kultur allein ist nicht genug“, hat uns der Überlebende und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel immer wieder eingeschärft. Für eine humane Gesellschaft müssen die Menschen aufstehen gegen Gleichgültigkeit und gegen Verachtung.

Zeigen wir heute, 75 Jahre nach der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz, 25 Jahre nach Aufhebung des § 175, 18 Jahre nach Verabschiedung des Lebenspartnerschaftsgesetzes und gut zwei Jahre nach der Einführung der Ehe für alle, dass wir die Stimme der Opfer des NS-Terrors hören und aus der Verantwortung für unsere Geschichte heraus handeln.

Vielen Dank.

(Beifall der Anwesenden)

Musik Maroon 5 „Memories“

(Anhaltend Beifall der Anwesenden)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will mich be

danken zunächst bei dem sehr gelungenen musikalischen Beitrag des Leistungskurses der Jahrgangsstufe 11 des Gymnasiums am Römerkastell Alzey. Der Beifall hat gezeigt: Gelungen, nicht nur vom Vortrag, sondern Sie haben auch die Stücke sehr sensibel ausgewählt, gerade auch das letzte von der Gruppe Maroon 5, „Memories“. Vielen, vielen Dank für diesen Beitrag!

(Beifall der Anwesenden)

Ich bedanke mich bei Ihnen, Frau Ministerpräsidentin, für die guten, sensiblen Worte, und auch bei Ihnen, Herr Pro

fessor Schwarz für Ihre bemerkenswerte Gedenkrede, die Sie heute gehalten haben. Sie haben mit dieser tiefgreifenden Rede den Erkenntnishorizont von uns allen erweitert. Dafür vielen, vielen Dank.

(Beifall der Anwesenden)

Wir begeben uns jetzt in die Gefängnishalle. Wir werden dort Kränze niederlegen.

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