Protocol of the Session on January 27, 2017

......... 1166

Gedenkrede................. 1168

Lea Rosh, Vorsitzende des Förderkreises

Denkmal für die ermordeten Juden Europas e. V., Berlin:................ 1168

Ansprache.................. 1173

Dr. Volker Wissing, stellvertretender Ministerpräsident:................ 1173

Präsidium:

Präsident Hendrik Hering, Vizepräsident Hans-Josef Bracht, Vizepräsidentin Barbara Schleicher-Rothmund.

Anwesenheit Regierungstisch:

Dr. Volker Wissing, Minister für Wirtschaft, Verkehr, Landwirtschaft und Weinbau; Doris Ahnen, Ministerin der Finanzen, Sabine Bätzing-Lichtenthäler, Ministerin für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie, Ulrike Höfken, Ministerin für Umwelt, Energie, Ernährung und Forsten, Dr. Stefanie Hubig, Ministerin für Bildung, Roger Lewentz, Minister des Innern und für Sport, Herbert Mertin, Minister der Justiz, Anne Spiegel, Ministerin für Familie, Frauen, Jugend, Integration und Verbraucherschutz, Prof. Dr. Konrad Wolf, Minister für Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur; Clemens Hoch, Staatssekretär.

Entschuldigt:

Abg. Anke Beilstein, CDU, Abg. Guido Ernst, CDU, Abg. Heribert Friedmann, AfD, Abg. Dr. Susanne Ganster, CDU, Abg. Dr. Christoph Gensch, CDU, Abg. Simone Huth-Haage, CDU, Abg. Heiko Sippel, SPD, Abg. Hedi Thelen, CDU, Abg. Thomas Weiner, CDU, Abg. Fredi Winter, SPD; Malu Dreyer, Ministerpräsidentin.

22. Plenarsitzung des Landtags Rheinland-Pfalz am 27.01.2017

B e g i n n d e r S i t z u n g : 1 0 : 0 0 U h r

Musik

Viktor Ullmann (1898-1944): Drei jiddische Lieder op. 53 I. Berjoskele („Ruig, ruig, schokelt ihr geloktes grines Kepel“) Text: David Einhorn Melodie: Kipnis Collection

Begrüßungsansprache

Meine sehr geehrten Damen und Herren, sehr verehrte Frau Rosh, ich begrüße Sie zur Gedenksitzung am 27. Januar, dem Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus.

Ich begrüße die Abgeordneten des rheinland-pfälzischen Landtags, die Mitglieder der Regierung und freue mich, dass Sie, sehr geehrter Dr. Volker Wissing, als stellvertretender Ministerpräsident nachher das Wort an uns richten werden. Frau Ministerpräsidentin Malu Dreyer ist in ihrer Funktion als Präsidentin des Bundesrates heute bei der Gedenkveranstaltung in Berlin.

Ich freue mich, dass auch zahlreiche ehemalige Kolleginnen und Kollegen bei uns sind, darunter zwei ehemalige Ministerpräsidenten: Ich begrüße Rudolf Scharping – in seiner Amtszeit wurde in Rheinland-Pfalz das erste Konzept zur Gedenkarbeit entwickelt – und Kurt Beck. In seiner Regierungszeit wurde die KZ-Gedenkstätte Osthofen ausgebaut und die KZ-Gedenkstätte Hinzert neu errichtet. Seien Sie uns willkommen!

Mein besonderer Gruß gilt dem Vorsitzenden des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Rheinland-Pfalz, Avadislav Avadiev, dem Mainzer Rabbiner Ahron Ran Vernikovsky und Stella Schindler-Siegreich. Es freut mich außerordentlich, dass der Mainzer Ehrenbürger Monsignore Klaus Mayer bei uns ist. Er hat uns 2010 als Zeitzeuge am Gedenktag bewegend von seinem Schicksal berichtet. Außerdem begrüße ich den Beauftragten für die Belange behinderter Menschen, Matthias Rösch. Vom Landesverband der Sinti und Roma sind Jacques Delfeld und Django Reinhardt hier – willkommen! Es ist uns eine große Freude und Ehre, dass Sie alle, als Vertreter der Opfer, zu uns gekommen sind!

Ich begrüße die Vertreter der Kirchen: Herrn Dr. Thomas Posern und Herrn Oberkirchenrat Christoph Pistorius von der evangelischen Kirche und Ordinariatsdirektor Dieter Skala von der katholischen Kirche.

Außerdem ist der Präsident des Verfassungsgerichtshofs, Dr. Lars Brocker, bei uns – seien Sie uns willkommen!

Meine Damen und Herren, liebe Gäste, mein besonderer Gruß und Dank gilt aber den zahlreichen Ehrengästen

auf der Tribüne. Sie alle sind auf vielfältige Weise in der Gedenkarbeit engagiert. Sie verlegen Stolpersteine, organisieren Ausstellungen, zeigen Filme, machen Stadtrundgänge oder programmieren Gedenk-Apps. Stellvertretend für die Ehrenamtlichen begrüße ich den Sprecher des Arbeitskreises der Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen in Rheinland-Pfalz, Dieter Burgard, der auch unser Bürgerbeauftragter ist. Für die Gedenkstätten des Landes begrüße ich Herrn Bernhard Kukatzki, den Direktor der Landeszentrale für politische Bildung. Sie alle packen an, damit die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus an die nächste Generation weitergetragen wird und nicht verblasst. Dafür möchte ich Ihnen im Namen des gesamten Parlaments recht herzlich danken!

Meine Damen und Herren, wir verdanken diesen Gedenktag Bundespräsident Roman Herzog, von dem wir am Dienstag in Berlin Abschied nehmen mussten. Im Eingangsbereich des Museums haben wir ein Kondolenzbuch ausgelegt, in das Sie sich gerne eintragen können. Roman Herzog hat damals, 1996, in seiner ersten Rede zum 27. Januar die Deutschen dazu aufgerufen – ich zitiere –, den Tag „als wirklichen Tag des Gedenkens, in einer nachdenklichen Stunde inmitten der Alltagsarbeit“ zu begehen, „auch der Alltagsarbeit eines Parlamentes“. Im rheinlandpfälzischen Landtag hat dieser Appell früh Widerhall gefunden. Seit 19 Jahren halten wir inne zur „nachdenklichen Stunde inmitten der Alltagsarbeit“.

In diesem Jahr ist der Landtag zum Gedenktag erstmals im Interimsquartier im Mainzer Landesmuseum zu Gast. Deshalb möchten wir mit unserem Gedenken und Nachdenken besonders an die Kunst- und Kulturschaffenden erinnern, die vom NS-Regime verfolgt wurden. Das kommt heute auch in der Musik zum Ausdruck: Wir hörten und hören Stücke von Paul Ben-Haim und Viktor Ullmann. Ben-Haim war Kapellmeister in Augsburg, er emigrierte 1933 nach Tel Aviv. Ullmann lebte in Prag, wurde ins Ghetto Theresienstadt verschleppt und 1944 in Auschwitz ermordet. Ich danke dem Pfälzer Duo Kuhn dafür, dass Sie für uns diese Musik zu Gehör bringen.

Meine Damen und Herren, im Gedenken an die Opfer wollen wir uns nun von den Plätzen erheben.

(Die Anwesenden erheben sich von ihren Plätzen)

Wir gedenken der Juden Europas, wir denken an Nachbarinnen und Nachbarn, Schulkameraden, Kollegen, an Frauen, Männer und Kinder, die damals in die Konzentrationslager verschleppt und ermordet wurden, weil ein pervertierter Staat beschlossen hatte, die Juden Europas zu vernichten.

Wir gedenken der Sinti und Roma, der Kranken und Behinderten, der homosexuellen Menschen und all derer, denen das Recht auf Leben abgesprochen wurde, die gequält und ermordet wurden.

Wir gedenken der Frauen und Männer, die widerstanden haben: an Menschen, die ihr Leben verloren, weil sie ihre politische Überzeugung, ihre Nächstenliebe oder ihren Glauben nicht aufgegeben haben.

Wir gedenken der Kriegsgefangenen und Deserteure, der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter und der ungezählten zivilen Opfer der nationalsozialistischen Diktatur in ganz Europa.

Ich danke Ihnen.

(Die Anwesenden nehmen wieder Platz)

Meine Damen und Herren, sich der Erinnerung an die schlimmste Zeit der deutschen Geschichte zu stellen, fällt nicht leicht. Die Erinnerung an die millionenfachen Morde und Verfolgungen – sie wühlt uns auf, sie erschüttert, sie schmerzt – und das, obwohl die Ereignisse von damals ein Menschenleben her sind.

In dieser „nachdenklichen Stunde inmitten der Alltagsarbeit“ werden wir uns auch bewusst, wie zerbrechlich die Ordnung unserer Zivilisation ist: Demokratie, Freiheit, Solidarität mit den Schwachen, Frieden, Vertrauen und Zusammenhalt – es ist eine Illusion, zu glauben, dieser Zivilisationsprozess sei unumkehrbar!

Mich persönlich macht es immer wieder fassungslos, mit welcher Geschwindigkeit das verbrecherische NS-Regime den Staat und das öffentliche Leben 1933 in seine Gewalt bringen konnte – auch das gesamte kulturelle Leben: Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Musikerinnen und Musiker, Presse- und Theaterleute und Intellektuelle standen von heute auf morgen vor dem beruflichen Aus. Die Nazis warfen ihnen „Frechheit“ und „Dekadenz“ vor, sogenannten „undeutschen Geist“, ihr Judentum, Modernität oder alles zusammen.

Da ist in Mainz der Direktor des Konservatoriums, Hans Gal, ein ungarischer Komponist. Einen Monat nach der Machtübertragung an die Nazis beginnt in der gleichgeschalteten „Mainzer Tageszeitung“ die Hetze gegen ihn – sie schreibt in dicken Lettern: „Weg mit dem Juden Gal, die Mainzer Musikhochschule der Deutschen Kunst!“ Schon im April 1933 verliert er seinen Posten.

Da ist der Nackenheimer Carl Zuckmayer, ein gefeierter Film- und Theaterautor. Im Frühjahr 1933 verschwinden seine Stücke von den Bühnen. Er muss ins Exil gehen; erst nach Österreich, schließlich in die USA.

Da ist in Trier der Direktor der „Trierer Handwerker- und Kunstgewerbeschule für christliche Kunst“, Heinrich Dieckmann. 1934 wird er beurlaubt. Die Begründung: sogenannte „jüdisch-marxistisch inspirierte geistige Zersetzung“ und „Verwässerung des deutschen Kulturlebens“. Er hatte mit seiner Schule an der Weltausstellung in Chicago teilgenommen.

Da malt noch 1932 in Speyer der Expressionist Hans Purrmann den Ratssaal mit einem großen Wandgemälde aus. Das Motiv: Die Allegorie der Kunst und Wissenschaft – ausgerechnet! Das Bild übersteht die NS-Zeit nur mit einer List: zugenagelt und abgedeckt mit Hakenkreuzfahnen. Purrmanns Bilder gelten ab 1937 als „entartet“. Sie werden aus den Museen entfernt wie Zehntausende andere.

Da ist der Koblenzer Junge Daweli Reinhardt. 1938 wird

er mit seiner Familie aus rassistischen Gründen zum ersten Mal deportiert. 1943 kommt er in das KZ AuschwitzBirkenau. Der Elfjährige entwickelt Mut und Pfiffigkeit. Er organisiert Essen aus der Küche, besorgt Milch für die Kinder. Wendig wie er ist, wird er „Lagerläufer“, der sich fast überall Zutritt verschafft. Nur einmal erwischen ihn die Schergen. Die Prügel dafür steckt er ebenso ein wie Entwürdigungen.

Meine Damen und Herren, die Manipulation der Köpfe der Menschen, das Beschneiden der Kreativität, das Monopol über die öffentliche Meinung, sie wurden zu Pfeilern der nationalsozialistischen Macht ausgebaut – aber aus all dem hatten die Nazis auch schon vor 1933 keinen Hehl gemacht! Auch Begriffe wie „undeutsch“, „entartet“ und „Zersetzung“ verwendeten sie schon vor 1933 – es sind Begriffe, die zeigen, dass die verbale Gewalt am Anfang der physischen Gewalt stand, am Anfang von Völkermord und Vernichtungskrieg.

Meine Damen und Herren, unser Alltag heute ist davon geprägt, dass wir in Rheinland-Pfalz auf 70 Jahre Demokratie, Freiheit, Solidarität mit den Schwachen, Frieden, Vertrauen und Zusammenhalt zurückblicken können. Darauf dürfen wir stolz sein! Es darf nicht sein, dass heute diese Demokratie in sozialen Netzwerken und anderswo geschichtsvergessen kaputt geredet wird!

Die Schicksale von Gal, Zuckmayer, Dieckmann, Purrmann und Reinhardt mahnen uns in dieser „nachdenklichen Stunde inmitten der Alltagsarbeit“: Passen wir auf! Greifen wir ein, und halten wir dagegen, sei es im Freundeskreis, auf der Arbeit oder in der Freizeit,

wenn die Freiheit des Wortes, der Kreativität oder die Freiheit der Medien angegriffen oder eingeschränkt werden,

wenn mit Worten gehetzt wird,

wenn Minderheiten mit Worten zu Sündenböcken gestempelt werden, um sie für gesellschaftliche Entwicklungen in Haftung zu nehmen,

wenn einfache Heilsversprechen vorgeben, die Welt zu erklären,