Protocol of the Session on October 19, 2011

Wir haben sehr viele Frauen, die, je länger sie aus dem Berufsleben ausgeschieden sind, den Wiedereinstieg nur sehr schwierig oder gar nicht schaffen. Wir haben sehr viele junge Frauen, die vielleicht auch aus diesen Gründen ihre Ausbildung, ihr Studium unterbrechen

müssen. Aber dies ist nicht zielführend, und das Betreuungsgeld ist grundlegend die falsche Lösung für diese Problematik.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Es stellt sich also die Frage: Wem nutzt das Betreuungsgeld?

Wir haben in Norwegen festgestellt, dass es überhaupt nichts genutzt hat, Frau Huth-Haage. Es ist definitiv nachgewiesen, dass dort bildungsferne Familien ebenso wie Familien mit Migrationshintergrund das Betreuungsgeld in Anspruch genommen haben, aber es sind genau die Kinder dieser Familien, die wir in den Einrichtungen sehen wollen. Sie brauchen diese Bildung und Förderung. Sie brauchen diese Institutionen. Das kann man einfach nicht wegdiskutieren.

Es gibt Studien, die ganz klar den folgenden Zusammenhang belegen: Je früher diese Kinder gefördert werden, umso besser sind ihre Bildungschancen, umso höher sind ihre Schulabschlüsse und umso sicherer sind sie später in der Lage, sich selbst zu ihrer Zufriedenheit zu finanzieren. Dafür brauchen sie diese Rahmenbedingungen, aber diese Bedingungen werden durch das Betreuungsgeld nicht geschaffen.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Es geht um soziale Kompetenzen, es geht um emotionale Kompetenzen, und es geht um motorische Fähigkeiten, die sich sicherlich sehr viel besser ausbilden, wenn diese Kinder die Möglichkeit haben – es soll nicht verpflichtend sein, aber sie sollen die Möglichkeit dazu haben –, die Einrichtungen zu besuchen.

Die Bertelsmann-Stiftung hat einen netten Begriff kreiert. Sie hat von einem „bildungspolitischen Schildbürgerstreich“ gesprochen. Dies war ihr Kommentar zu dem Programm, das immerhin zwei Milliarden Euro kostet. Wir sind ganz sicher, dass diese zwei Milliarden Euro besser in die Einrichtungen investiert werden müssen und nicht, gestückelt zu je 150 Euro monatlich, in Familien, bei denen das Geld nicht bei den Kindern ankommt.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Grundsätzlich bin ich gespannt auf die Diskussion, wenn es darum geht, die Probleme zu bezahlen, die daraus entstehen, dass Defizite vorhanden sind.

(Glocke des Präsidenten)

Man kann sich nicht über die Folgeprobleme im Bereich der Kosten im sozialen Bereich aufregen. Wir führen diese Diskussion in allen Kreisen, und wir führen sie im Land. Dies sind alles Folgekosten.

(Glocke des Präsidenten)

Durch die Investition in die Frühförderung können und müssen wir dem vorbauen.

Vielen Dank.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Für die Landesregierung spricht nun Frau Staatsministerin Alt.

(Pörksen, SPD: Jetzt sieht die CDU alt aus!)

Sehr geehrter Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben unsere Haltung zum Betreuungsgeld in der vergangenen Woche bereits öffentlich kommuniziert. Der finanzielle Anreiz für die Eltern, für ihre Kinder unter drei Jahren auf einen Platz im Kindergarten zu verzichten, ist und bleibt politisch ein völlig falsches Signal.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Dieses von der Bundesregierung geplante Betreuungsgeld wird auch dadurch nicht besser, dass Familienministerin Schröder diese Prämie von monatlich 150 Euro auf ein Jahr begrenzen will.

Was an dieser Stelle meine Kollegin Doris Ahnen in der vergangenen Legislaturperiode schon mehrfach ausführte, kann ich nur wiederholen: Diese von der CDU- und FDP-Koalition diskutierte Einführung eines Betreuungsgeldes setzt finanzielle Anreize zum Verzicht auf qualifizierte Bildungs- und Betreuungsangebote für Kinder. Dabei benötigen wir statt individueller zusätzlicher Taschengelder qualitativ abgesicherte und strukturell verankerte Angebote, um die Familien zu entlasten.

(Frau Kohnle-Gros, CDU: Wenn sie gar nicht entlastet werden wollen, was sagen Sie denn dann?)

Kommunen und Länder arbeiten mit finanzieller Unterstützung des Bundes auf Hochtouren, um den rechtlichen Betreuungsanspruch für Kinder unter drei Jahren ab 2013 in Kindertagesstätten oder in der Kindertagespflege umsetzen zu können. Das ist gut für die Kinder; denn sie erhalten qualitativ hochwertige Förderung und Unterstützung. Das ist auch gut für die Eltern; denn sie wissen ihre Kinder in fachlich guter Betreuung. Das ist auch gut für die Familien mit Migrationshintergrund; denn Kinder aus diesen Familien bekommen so früh wie möglich die Chance, an frühkindlicher Bildung teilzuhaben.

Man kann, unterstellt man Gutes, den Vorstoß von Frau Ministerin Schröder als Versuch deuten, aus der Misere von 2008 herauszukommen, um eine ideologisch besetzte Debatte zu beenden. Damals fügte der Gesetzgeber insbesondere auf Drängen der CSU in § 16 SGB VIII einen Absatz 4 als Absichtserklärung ein. Danach

soll – so heißt es im Gesetzestext – „ab 2013 für diejenigen Eltern, die ihre Kinder von ein bis drei Jahren nicht in Einrichtungen betreuen lassen wollen oder können, eine monatliche Zahlung, z.B. als Betreuungsgeld, eingeführt werden.“

Hier politische Anreize zu schaffen, Kinder aus der Kindertagesstättenbetreuung herauszunehmen, ist ein falsches Signal und unterstützt den Weg der ungleichen Chancen von Anfang an. Ich appelliere an die Bundesregierung, Vernunft einkehren zu lassen.

(Ministerpräsident Beck: Die nehmen nichts an, nicht einmal Vernunft!)

Die dafür vorgesehenen Mittel von rund zwei Milliarden Euro jährlich – das hat Frau Bröskamp schon ausgeführt – sind weit besser für einen qualitativ hochwertigen Ausbau der Kindertagesstätten einzusetzen.

Vielleicht hilft es auch, in der Debatte noch einmal an die Veröffentlichung der Expertise der Rechtswissenschaftlerin Margarethe Schuler-Harms im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung vom September 2010 zu erinnern.

Diese Expertise hat rechtssystematische Aspekte des Betreuungsgeldes in den Blick genommen. Die kritische Haltung der Landesregierung dem Betreuungsgeld gegenüber findet dort auch in rechtssystematischer Hinsicht ihre Begründung. Die Expertise kommt insbesondere zu folgenden Erkenntnissen und Schlussfolgerungen:

1. Das Betreuungsmodell bedeutet die Rückkehr zu einem überholten Modell der Familienförderung.

2. Das Betreuungsgeld verfestigt die traditionelle Rollenverteilung zwischen Frauen und Männern.

3. Die Differenzierung bei der Auszahlung des Betreuungsgeldes nach der Art der Betreuung (zu Hause oder in öffentlicher Betreuung) ist in den Augen der Autorin der Studie verfassungsrechtlich prekär; denn ein Betreuungsgeld zur Anerkennung der Leistung, ein Kind nicht in eine öffentlich geförderte Betreuungseinrichtung zu bringen, verstärkt bereits bestehende Ungleichgewichte.

4. Die bestehende Gesetzgebung kann als paradox bezeichnet werden, da sie Entscheidungen fördert, die das Potenzial haben, sich im Lebenslauf insbesondere von Frauen negativ auszuwirken.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Insofern sieht sich die Landesregierung bestätigt, wenn sie sich weiterhin für folgende Punkte einsetzt:

Wir brauchen weiterhin einen Ausbau qualifizierter Kinderbetreuung, um echte Wahlfreiheit in der Gestaltung der Lebensbezüge zu eröffnen, insbesondere für Frauen. Alle, neben den Betrieben vor allem die Eltern, sind doch froh, dass die Zahl der Betreuungsplätze für die Kleinsten in den Kindertagesstätten steigt.

So hat sich das Platzangebot in Rheinland-Pfalz 2005 mehr als vervierfacht und reicht jetzt bereits für mehr als 29 % der Kinder in dieser Altersgruppe, und der Ausbau schreitet noch voran.

Ich möchte noch einmal in den Blick nehmen, das Betreuungsgeld berücksichtigt zu wenig die Perspektive der Kinder. Öffentliche Kinderbetreuung dient eben nicht nur der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sondern sie ist auch ein Angebot für die Kinder.

Noch so engagierte Eltern können die Chancen gut professioneller Kinderbetreuung und auch die Erfahrungen der Kinder untereinander nicht ausgleichen.

(Frau Kohnle-Gros, CDU: Das ist einfach unglaublich!)

Blickt man letztlich noch auf den Kinderschutz, so ist zu diskutieren, Eltern mit Kindern aus schwierigen sozialen Milieus sind heute in Rheinland-Pfalz durch den Anspruch auf einen beitragsfreien Platz wesentlich leichter davon zu überzeugen, die Unterstützung einer Kindertagesstätte auch in Anspruch zu nehmen.

Wichtige Erkenntnisse zeigt auch die Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung vom Dezember 2009 zu den fiskalischen Auswirkungen bei Einführung des Betreuungsgeldes. Sie führt unter anderem aus: Die Erfahrungen in Thüringen, wo Betreuungsgeld bezahlt wird, geben Hinweise darauf, dass Kinder aus bildungsfernen Familien und Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund die Verlierer sind. Ihre Perspektiven auf ein gerechtes Aufwachsen und einen guten Start ins Kinderleben haben sich nicht verbessert, sondern sie sind rückläufig. –

In dieser Studie heißt es auch – ich zitiere –: „Bei den Familien, die sich ohnehin für familiäre Betreuung durch die Mutter entscheiden, entstehen reine Mitnahmeeffekte. Mitnahmeeffekte zeigen sich beispielsweise bei den Familien mit Migrationshintergrund. Bei dieser Bevölkerungsgruppe sind Frauen mit Kleinkindern kaum erwerbstätig, sodass das Betreuungsgeld keine Verhaltensänderung auslösen kann.“

Wir wollen nicht vergessen, auch Eltern, die Betreuung in Anspruch nehmen, leisten ihren Erziehungsauftrag und ihren Beitrag für die Gesellschaft. Nach dem Familienreport 2009 des BMFSJ sehen 86 % der Frauen eine Berufstätigkeit heute als wichtig an. Die Mehrheit von ihnen möchte die Berufstätigkeit mit der Mutterrolle verbinden.

Wir wissen auch, Erwerbstätigkeit beider Eltern und Zuwendung sind kein Widerspruch. Im Gegenteil, eine geregelte Erwerbsbeteiligung beider Eltern stabilisiert die häuslichen Verhältnisse und hilft, die gemeinsame Zeit mit den Kindern in der Familie intensiver zu nutzen.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Wir fordern deshalb Frau Schröder auf, die Idee des Betreuungsgeldes zugunsten einer zukunftsorientierten Kinder- und Familienpolitik fallen zu lassen.

Ich danke Ihnen.