Protocol of the Session on November 6, 2003

Bei der Diskussion habe ich durchaus auch den europäischen Vergleich im Blick. Es trifft zu, dass in einer ganzen Reihe europäischer Staaten die Dauer der Schulzeit bis zum Erreichen einer Hochschulreife formal zwölf Jahre beträgt. Aber damit ist in vielen Fällen nicht wie in Deutschland der Studienbeginn möglich. So müssen beispielsweise vor Aufnahme eines Studiums in Frankreich in vielen Fällen so genannte „classes préparatoires“ absolviert werden, die ein bis drei Jahre umfassen. In Spanien ist ein Vorbereitungsjahr, der „curso de órientation universitaria“ verpflichtend. In Finnland und in Dänemark beträgt die Schulzeit zwar formal zwölf Jahre, dennoch kann das Abitur erst mit 19 Jahren erreicht werden, da mit sechs Jahren fast alle Kinder eine einjährige Vorschule besuchen und danach erst mit sieben Jahren in die Pflichtschule eintreten. Auch hier gilt es also, genau hinzuschauen.

Der europäische und internationale Vergleich zeigt allerdings vor allen Dingen eines, nämlich, dass die Abiturientenquote wie auch die Akademikerquote in Deutschland nicht nur besonders niedrig ist, sondern dass sie sich im Gegensatz zu vielen anderen Staaten in den letzten zehn Jahren auch kaum erhöht hat. Ich sage

deutlich, wir brauchen mehr und nicht weniger Abiturientinnen und Abiturienten, und wir brauchen gute und möglichst noch bessere.

(Beifall der SPD und der FDP)

Deshalb verbietet sich ein Weg, der im Ergebnis die Gefahr hätte, zu weniger Abiturientinnen und Abiturienten zu führen.

Die Ergebnisse einer über zehn Jahre durchgeführten Studie in Rheinland-Pfalz haben eindeutig gezeigt, dass rund ein Viertel der Schülerschaft an den Gymnasien die allgemeine Hochschulreife ohne Qualitätsabstriche bereits nach acht Jahren erreichen kann. Dann ist es sinnvoll, denjenigen, die es können, eine Verkürzung zu ermöglichen, wie wir es zum Beispiel in den BEGYSKlassen, die aus meiner Sicht deutlich ausgebaut werden sollen, oder in den Hochbegabtenschulen tun. Das ist dann übrigens sogar eine Verkürzung auf elfeinhalb Jahre.

Bei allen Überlegungen zur Schulzeitdauer ist mir ein Punkt besonders wichtig: die Durchlässigkeit des Schulsystems.

(Beifall der SPD und der FDP)

Wenn Schülerinnen und Schüler anderer Schularten bei einem Wechsel zum Gymnasium eine Klassenstufe wiederholen müssen – ich benutze bewusst das Wort, wie es sich aus Schülersicht darstellen wird –, also faktisch automatisch zu Sitzenbleiberinnen und Sitzenbleibern werden, wie es in Ländern mit zwölfjährigem Abitur der Fall ist, oder der Weg zum Abitur in Schularten mit mehreren Bildungsgängen grundsätzlich ein Jahr länger dauert, wie beispielsweise an saarländischen Gesam tschulen, dann leidet nicht nur die Durchlässigkeit, sondern wir senden auch völlig falsche Signale an die Eltern, nämlich dass es nur den einen Königsweg gäbe.

(Beifall der SPD und der FDP)

Die Auswirkungen sind überdeutlich. Während in Rheinland-Pfalz rund 4,5 % der Schülerinnen und Schüler aus der zehnten Klasse der Hauptschulen und mehr als 9 % aus den zehnten Klassen der Realschulen in die gymnasiale Oberstufe übergehen, wir also ein relativ durchlässiges System haben, sind es beispielsweise nur zwischen 2 % und 2,5 % aus den zehnten Klassen der Regelschulen in Thüringen bzw. der Mittelschulen in Sachsen, wo das zwölfjährige Abitur eingeführt worden ist.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich weiß, differenzierte Lösungen sind immer schwieriger zu vermitteln. Aber sie sind das Gebot der Stunde, wenn es um die Zukunft des Bildungssystems im Interesse der jungen Menschen und der Gesellschaft insgesamt geht.

(Beifall der SPD und der FDP)

Wir legen mit diesem Gesetzentwurf, der die wichtigen Reformen der letzten Jahre aufgreift und neue anstößt, ein schlüssiges Gesamtkonzept zur Weiterentwicklung

des rheinland-pfälzischen Bildungssystems vor, für das ich um Ihre Unterstützung werbe.

(Anhaltend Beifall der SPD und der FDP)

Ich erteile Herrn Abgeordneten Keller das Wort.

Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren! Gestern vor zwei Jahren wurden die für das deutsche Schulwesen niederschmetternden PISA-IErgebnisse in der Presse veröffentlicht. Die für die meisten Bundesländer schlechten oder zumindest nicht zufrieden stellenden Ergebnisse führten zu intensiven Diskussionen, Reaktionen und auch Maßnahmen.

Zwei Jahre nach dem PISA-Schock legt die Landesregierung eine Schulgesetznovelle vor. Wer nun erwartet hat, dass in der Novelle entscheidende Schlussfolgerungen aus PISA gezogen würden, wird leider enttäuscht. Auch die Rede der Ministerin eben brachte nichts Neues. Sie war fast ausschließlich der x-te Aufguss von Reden der vergangenen Jahre.

(Beifall der CDU)

Vor allem kosmetische Änderungen, Aufnahme von bereits praktizierten Verordnungen und Regelungen, aber auch objektive Verschlechterungen werden vorgeschlagen. Weg- und zukunftsweisende Vorschläge fehlen fast gänzlich. So muss der Landtag, so müssen Sie alle eigentlich der CDU-Fraktion für ihren Antrag „Abitur nach zwölf Jahren“ dankbar sein.

(Beifall der CDU)

Unser Antrag ist nämlich der einzige von bildungspolitischem Gewicht in der heutigen Bildungsdebatte.

(Beifall bei der CDU und Heiterkeit im Hause)

Deutschland, und damit auch Rheinland-Pfalz, hat im europäischen und internationalen Vergleich die ältesten Erstklässler, die ältesten Abiturienten und die ältesten Hochschulabsolventen.

(Heiterkeit im Hause – Creutzmann, FDP: Jetzt muss er selbst lachen!)

Frau Thomas hat mich eben so nett angelacht. Das tut gut und motiviert. Danke schön.

(Heiterkeit im Hause)

Unsere Schülerinnen und Schüler gehen also sehr lange zur Schule und Hochschule.

(Lelle, CDU: Zu lang!)

Nur: Internationale Vergleiche haben gezeigt, dass dadurch der Bildungserfolg keineswegs wahrscheinlicher oder höher wird. Aus entwicklungs- und lernpsychologischen Gründen ist eine so lange Schulausbildungszeit nicht erforderlich und folglich nicht zu rechtfertigen. Unsere Jugendlichen gelangen zu spät auf den Arbeitsmarkt, was für sie ein enormer Wettbewerbsnachteil im europäischen und internationalen Vergleich darstellt.

Wer also unsere Abiturienten wettbewerbsfähiger machen will, muss einer Verkürzung der Gymnasialzeit zustimmen, die ohne Qualitätsverlust, wie die Ergebnisse aus anderen Bundesländern beweisen, möglich ist.

Das Abitur nach zwölf Jahren ist jedoch nur ein Schritt, um unsere Jugend früher ins Leben zu entlassen. Später dazu mehr.

Das in Rheinland-Pfalz praktizierte Abitur nach zwölfeinhalb Jahren hält leider nicht, was man von ihm erwartet hat. Nach wie vor können viele Abiturientinnen und Abiturienten ihr Studium nicht im Sommersemester antreten, weil eine Vielzahl von Studiengängen in RheinlandPfalz, aber vor allem in anderen Bundesländern, erst zum Wintersem ester angeboten wird.

Frau Ministerin, Ihre Aussagen, die Sie eben getan haben, sind völlig außerhalb der Realität. Das ist jetzt kein Vorwurf. Das ist eine sachliche Feststellung. Das wissen Sie eigentlich auch.

Mittlerweile haben sieben Bundesländer das Abitur nach zwölf Jahren eingeführt oder beschlossen.

(Frau Brede-Hoffmann, SPD: Probeweise!)

Das Saarland hat es bereits. Baden-Württemberg führt es ab dem Schuljahr 2004/05 ein, Hessen ab 2005/06. Andere Bundesländer, wie zum Beispiel NordrheinWestfalen, denken darüber nach. Rheinland-Pfalz ist also bald von Bundesländern mit dem Abitur nach zwölf Jahren umgeben. Die rheinland-pfälzischen Schülerinnen und Schüler erfahren dann auch noch einen innerdeutschen Wettbewerbsnachteil.

Die Erfahrungen aus den Bundesländern mit dem Abitur nach zwölf Jahren zeigen, dass die Schülerinnen und Schüler nicht überfordert sind – im Gegenteil. Frau Ministerin, da gibt es auch Untersuchungen. Sie sind oft motivierter und selbstständiger.

(Zuruf der Abg. Frau Brede-Hoffmann, SPD)

Wenn man hört, was Sie sagen, wie Sie den Schonraum aufbauen usw. – – – Eins möchte ich feststellen: Unsere Gymnasiasten sind nicht dümmer als die Gymnasiasten anderer Bundesländer, die bereits das Abitur nach zwölf Jahren eingeführt haben.

(Beifall der CDU)

So kann man Ihre Rede interpretieren.

(Zurufe von SPD und FDP)

In unserem Antrag fordern wir die Einführung ab dem Schuljahr 2004/05, das heißt, der erste Abiturjahrgang käme dann im Jahr 2012/13, nicht 2008, wie Sie das wieder gerechnet haben. Das war Mengenlehre oder irgendetwas.

(Heiterkeit bei der CDU)

Es bleibt also genügend Zeit zur Vorbereitung, zumal Rheinland-Pfalz auf Erfahrungen mit den BEGYSKlassen zurückgreifen kann.

(Creutzmann, FDP: Aha!)

Ja, gut, das hat die CDU eingeführt. Herr Creutzmann, jetzt tun Sie nicht so.

(Beifall der CDU)