Deshalb gilt es, das zu beherzigen, was die Heimatvertriebenen vor 70 Jahren erkannten: Europa einen heißt, Frieden zu sichern.
Die Heimatvertriebenen haben die ersten Brücken zu den Nachbarn gebaut und damit Annäherung ermöglicht. Sie haben über Kontakte mit der heutigen Bevölkerung in ihrer Heimat die Grundlage für gegenseitiges Verständnis gelegt. Aus diesen Kontakten sind viele Städtepartnerschaften entstanden.
Auch meine Heimatstadt Leverkusen hat mit dem früheren Ratibor und heutigen Racibórz in Oberschlesien seit 2002 eine Partnerschaft. Als Vorsitzender des Partnerschaftsvereins weiß ich, wie wichtig die Kontakte und Begegnungen von Schülern, Feuerwehr oder Geschichtsvereinen sind.
Aber leider sind auch heute noch Flucht und Vertreibung Realität in unserer Welt. Am Ende des Zweiten Weltkrieges sind etwa 60 Millionen Menschen in Europa Opfer von Flucht, Vertreibung und Zwangsumsiedlung geworden.
In der Europäischen Union leben heute etwa 10 % der Bürgerinnen und Bürger aufgrund des Kriegsfolgenschicksals als nationale Minderheit in ihrer angestammten Heimat. Dazu gehören einige Hunderttausend Deutsche in den ehemaligen Ostgebieten, aber auch Millionen anderer Bürgerinnen und Bürger in vielen Staaten unseres Kontinents.
Sichtbar werden diese Minderheiten insbesondere dadurch, dass sie – wegen des Erfolgs der Europäischen Bürgerinitiative Minority SafePack – bei der Europäischen Kommission ihre Rechte einfordern. Diese Initiative verdient unsere Unterstützung; denn das Friedensprojekt Europa wird ohne diese Minderheiten nicht gelingen.
Im Hinblick auf Flucht, Vertreibung und Zwangsumsiedlung brauchen wir eine gesamteuropäische Erinnerungskultur. Die NRW-Koalition steht zu dem gesellschaftlichen Auftrag, die Erinnerung an Flucht und Vertreibung im gesamtgeschichtlichen Kontext wachzuhalten und im Hinblick auf die heutigen Herausforderungen weiterzuentwickeln. Daher wollen wir die Landsmannschaften und Vertriebenenverbände bei ihren notwendigen Transformationsprozessen unterstützen. Die Arbeit des Landesbeauftragten Heiko Hendriks ist hierbei von sehr großem Wert und verdient die volle Unterstützung.
Die Zahl derjenigen, die noch persönliche Erinnerungen an Flucht und Vertreibung haben, wird immer geringer. In wenigen Jahren wird es niemanden mehr geben, der als Zeitzeuge davon berichten kann. Deshalb ist es wichtig, Kultur und Schicksal der Heimatvertriebenen an die folgenden Generationen weiterzugeben.
Eine zentrale Rolle muss dabei auch die Erinnerungsstätte in Unna-Massen spielen. Sie verbindet die Schicksale vieler Menschen, die nach NordrheinWestfalen gekommen sind – Vertriebene, Aussiedler und Spätaussiedler, aber in jüngster Zeit eben auch Menschen nichtdeutscher Abstammung, die bei uns Zuflucht suchen, weil sie ein ähnliches Schicksal wie die Vertriebenen in ihrer Heimat erlebt haben. Das ist eine große Chance, die Erinnerungskultur zukunftsfähig aufzustellen.
Sehr geehrte Damen und Herren, die Charta der deutschen Heimatvertriebenen ist ein Gründungsdokument unseres Landes. Sie ist die Grundlage einer Erfolgsgeschichte der Eingliederung von Millionen Menschen, des Wiederaufbaus unseres Landes und der Aussöhnung mit den ehemaligen Gegnern.
Der Auftrag der Charta ist auch nach 70 Jahren noch aktuell. Anlässlich ihres Jubiläums ist es der beste Dank an die Menschen, wenn sich die Politik einvernehmlich weiterhin zu dem darin formulierten Auftrag bekennt.
Vielen Dank, Herr Kollege Scholz. – Als nächster Redner hat für die FDP Herr Abgeordneter Kollege Deutsch das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Flucht und Vertreibung sind schreckliche Erfahrungen. Hunger, Gewalt, Elend und für viele auch der Tod sind die Erfahrungen von Millionen Menschen am Ende des Zweiten Weltkriegs gewesen, die als Flüchtlinge ihre Heimat verloren hatten und in einem völlig neuen Umfeld und oft mittellos vor der Aufgabe standen, einen völlig neuen Anfang zu machen.
Wir sind es diesen Menschen schuldig, dass wir die Erinnerung aufrechterhalten, auch wenn wir sie natürlich immer in den Kontext von Geschichte einbetten. Ich finde es sehr richtig, dass wir das in dem Antrag tun, hier in den Kontext des Zweiten Weltkriegs.
Aber Not und Elend sind immer individuelle menschliche Erfahrungen, die wir auch so würdigen sollten. Das ist aus zwei Gründen notwendig: zum einen aus Respekt gegenüber den betroffenen Menschen, zum anderen aufgrund unserer Verantwortung für die Zukunft.
Wir haben diesen Antrag aus Anlass der Unterzeichnung der Charta vor 70 Jahren gestellt. Löst man dieses Dokument aus seiner zeitgebundenen Rhetorik, kann es einen heute noch berühren, und zwar einerseits durch den vom Klang her fast etwas martialischen Verzicht auf Vergeltung und Rache.
Mich beeindruckt aber noch viel mehr der zweite Absatz, der sich sofort nach vorne wendet und ein vereinigtes Europa in den Blick nimmt – im klaren Bewusstsein, dass das die beste Versicherung für Frieden in Europa ist. Es verdient großen Respekt, diese Perspektive so früh eröffnet zu haben. Entsprechend ist die Leistung zu würdigen, die die Vertriebenen und ihre Organisationen zur Versöhnung, zur Integration, aber auch zum Wiederaufbau beigetragen haben.
Heute geht es auch um die Verantwortung für die Zukunft. Wir leben wieder in Zeiten, in denen Flucht und Vertreibung eine große Rolle spielen. Meine Mitarbeit im Vorstand des Gerhart-Hauptmann-Hauses zeigt, dass es dafür ein sehr großes Bewusstsein und ein großes Engagement im Kreis der Heimatvertriebenen gibt, die, wie ich eben sagte, diese individuelle Erfahrung des Heimatverlustes, von Not und Elend sehr gut nachvollziehen können und entsprechend darauf reagieren. Das ist vielleicht auch für uns alle beispielgebend, wenn wir uns diesen Themen zuwenden.
Verantwortung für die Zukunft bedeutet aber auch, zu fragen: Wie kann man das sicherstellen? Wir haben es hier – die Erinnerungskultur zeigt das – mit einem Zeitraum zu tun, über den die individuelle Erinnerung langsam mit den Zeitzeugen zu verschwinden droht. Entsprechend wichtig ist es, dass wir diese Erinnerung auf anderen Wegen – möglichst direkt, durch Zeitzeugenprojekte und Ähnliches – erhalten, aber natürlich auch institutionell, mit den vielen Einrichtungen und historischen Instituten, die das leisten können.
Aber natürlich muss es auch darum gehen, den Verbänden dabei zu helfen, sich für die Zukunft aufzustellen. Da geht es auch um Generationenwechsel und Ähnliches. Die Herausforderungen sind groß. Wir sollten sie unterstützen.
Noch einmal: Unser Respekt gilt denen, die hier einen neuen Anfang gewagt haben, die einen Anfang gewagt haben, der seine Betonung auf Versöhnung und Integration gelegt hat. Das sollten wir unbedingt würdigen. Die Inspiration, die das geben kann, sollten wir nutzen, um die Herausforderungen, die wir heute haben, zu bewältigen. – Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Abgeordneter Deutsch. – Als nächster Redner hat für die Fraktion der SPD Herr Abgeordneter Kollege Bialas das Wort.
Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen und Kollegen! Vorab: Der hier vorliegende Antrag schließt auf treffende und angenehme Weise die auch besonders in unserer heutigen Zeit kontroverse Rückfragen erzeugenden Lücken der Charta. Wir stimmen ihm gerne zu.
Eigentlich muss man über die Charta eine Stunde reden, nicht nur fünf Minuten. Das ist ein wichtiges Dokument. Lassen Sie mich zumindest zwei Gedanken kurz anreißen.
Erster Gedanke. Über Vergangenes kann man mit einer zeitlichen Distanz immer sehr klug, abgewogen und differenziert reden. Man muss aufpassen, dass man dabei nicht vergisst, damaliges Denken, damalige Rahmenbedingungen als Maßstab anzusetzen.
Wer mit unserer heutigen sozialen und liberalen Denkhaltung die Charta betrachtet, der stutzt zunächst einmal. Da verzichten die Heimatvertriebenen auf Rache und Vergeltung. Das mutet erst einmal seltsam an. Denn wieso sollte hier ein Recht auf Rache bestehen, auf welches man dann wiederum verzichten kann?
Aber es war die Denkhaltung der davor liegenden Zeit. Aus einer Niederlage erwuchs bis dato häufig genug die geistige Haltung, die auf Vergeltung, Rache und Wiederholen der Verluste setzte. „Das holen wir uns zurück!“, war der Schlachtruf. Mit dem Verzicht auf Rache, dem Verzicht auf Rückeroberung, dem Verzicht auf Vergeltung – das sind alles sehr beliebte Worte von Chauvinisten – wurde diesem todbringenden Gedanken der vergiftete Stachel gezogen. Es folgte eben kein Anbeten eines Rachegottes mehr.
Der Verzicht auf Rückholung der Vergangenheit, und das gerade seitens der Betroffenen – es waren nicht die Menschen in der Bundesrepublik, die im Rheinland gelebt haben und hätten verzichten können; nein, es waren die Betroffenen, die diesen Verzicht formuliert haben –, eröffnete in einem ganz anderen und friedlicheren Ausmaß die beginnende Zukunft der Bundesrepublik.
Zweiter Gedanke. Wir sehen auch in dem Aufruf der Charta: Die Türen für die Flüchtlinge öffneten sich nicht ohne Weiteres. Es ist eben eine falsche, in den Jahren verklärte Vorstellung, Flüchtlinge seien vor der Roten Armee geflüchtet oder vertrieben worden. Und wenn man dann nur auf deutschem Boden war, ging es einem wieder halbwegs gut. Beileibe nicht! Denn egal, ob es sich um deutsche oder nichtdeutsche Flüchtlinge handelte und handelt: Beim Teilen wird es dann häufig schwierig.
Die Geflüchteten und Vertriebenen wurden nicht mit offenen Armen empfangen. Die Charta ist ja gerade ein beredtes Zeugnis dafür, dass sie ihre Rechte als neue Bürger der neuen Republik nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Wirklichkeit einforderten.
Sie verstanden „heimisch sein“ und „heimisch werden“ – viele verstehen das so – losgelöst von der Scholle als das Recht auf die gleichen Chancen zur Teilhabe an öffentlichen Gütern, an Arbeit, Wohnraum, Sicherheit für Leib und Leben, sozialer Sicherheit, schließlich Demokratie.
Geflüchtete und Vertriebene hatten also nicht nur alles Bisherige verloren; sie wurden auch am neuen Ort oftmals alleine gelassen. So ihrer Werte doppelt verlustig, haben sie ihre enorme spezifische Leistung vollbracht – nicht nur alleine durch diese Charta, sondern als hart Getroffene, die sich und ihren Familien ein neues Leben aus dem Nichts und häufig ohne Hilfe aufbauen mussten und nebenbei einen neuen Staat mit friedlicher Gesinnung mitgeprägt haben.
Wir gedenken – ich glaube, das mache ich im Namen aller – heute nicht nur dieser Charta, sondern vielmehr der Menschen. Wir müssen sie feiern, uns vor der Leistung der Millionen Menschen – oftmals waren es übrigens alleinerziehende Mütter und ihre Kinder – verneigen und dieser Leistung höchsten Respekt und Dankbarkeit zollen.
Zu den Aufträgen, die der Landesregierung in dem Antrag mitgegeben werden, darf ich Ihnen als stellvertretender Vorsitzender der Stiftung GerhardHauptmann-Haus, also quasi der anderen, der entgegennehmenden Seite, sagen, dass wir diese Punkte in unserer Zeit seit jeher jederzeit mit Leben zu füllen bereit sind und daran auch schon lange arbeiten. Denn Flucht und Vertreibung sowie die Erfahrungen als Opfer von Flucht und Vertreibung gehören in das kollektive Gedächtnis unserer Gesellschaft, umso mehr – es wurde angesprochen –, wenn es die Erlebensgeneration eben nicht mehr gibt.
Die Lehren aus der Vergangenheit sind für uns die Verantwortung für die Zukunft. In dieser Tradition sieht sich das Gerhard-Hauptmann-Haus seit Jahren. Dort werden wir selbstverständlich gerne weiterarbeiten. – Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Abgeordneter Bialas. – Als nächster Redner hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Herr Abgeordneter Keymis das Wort. Bitte sehr, Herr Kollege.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es mit einem Dokument zu tun, von dem schon seit vielen Jahrzehnten die Rede ist. Herr Deutsch, ich erinnere mich daran, dass Innenminister Maihofer, ein FDP-Innenminister, 1975 vorgeschlagen hatte, den 5. August zu einem nationalen Feiertag zu erklären, auf der Basis dieser Charta.
Ich habe mit großem Interesse noch einmal nachgelesen, dass wir in den Jahren 2010 und 2011 – interessanterweise 61 Jahre nach der Niederlegung der Charta – einen historischen Streit darüber hatten. Sechs Wissenschaftler, Historiker aus dem Arbeitskreis der Stiftung des Bundes zum Thema „Vertreibung und Erinnerung“, haben sich damals kritisch mit der Charta auseinandergesetzt, weil immer wieder der Vorwurf historisch formuliert wurde, dass bestimmte Zusammenhänge nicht genügend mit in die Einsichtnahme eingeflossen sind, die am 5. August 1950 in Stuttgart-Cannstadt von den Vertriebenen gemeinsam organisiert wurde.
Gleichwohl teilen wir, glaube ich, heute im Rückblick alle die Einschätzung, dass es unter den gegebenen Umständen in der historischen Situation, in der sich die Menschen befanden, eine sehr interessante und auch eindrucksvolle Dokumentation ist, zu sagen: Wir haben Schlimmes erfahren; aber wir wollen nach vorne gucken und damit umgehen. – Das ist in jedem Falle zu würdigen und gerade auch mit Blick auf die Friedensaussage und das geeinte Europa von besonderer Bedeutung.
Es steht in einem Zusammenhang, in dem sich fünf Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg eine Menge Menschen in diese Richtung geäußert haben. Ich erinnere an Robert Schuman, der ein paar Monate vorher, am 9. Mai 1950, eine wegweisende Rede zur europäischen Zukunft gehalten hat und der auch in eine Richtung formuliert hat, die uns heute gerne an diese Phase erinnern lässt.
Natürlich müssen wir – ich habe das eben auch so wahrgenommen, Kollege Bialas – die rhetorischen Formeln, die da zum Teil drin sind, entsprechend betrachten.
Sie sind zwar schwierig; denn das Thema „Rache und Vergeltung“ spricht sich für uns heute noch schwerer aus, als es vielleicht damals schon der Fall war. Aber vor dem Hintergrund der Gesamtzusammenhänge, vor dem Hintergrund der 12 Millionen Vertriebenen und der 2 Millionen Opfer, also der Leute, die auf der Flucht gestorben sind, ist das natürlich ein verständliches Moment menschlicher Regung auch in diesem historischen Zusammenhang.
Gleichwohl muss man wiederum sagen, dass es ja auch in der seinerzeit bestehenden sozialen Spannungslage der Bundesrepublik zu sehen ist: Es waren die Deutschen, die hier im Westen nach dem Krieg vor den Trümmern standen. Dann kamen noch 12 Millionen dazu, die in irgendwelchen Baracken wohnten und gucken mussten, wie sie klarkamen. Man schaute sehr misstrauisch auf diese Menschen, die dazukamen: Was sind das für welche? Was wollen die jetzt auf einmal noch hier? Wir haben es doch selber gerade nicht leicht.
Man muss also diesen ganzen Bogen sehen, wenn man sich mit diesen Fragen befasst. Das ist der entscheidende Punkt.
Der Antrag enthält aus Sicht meiner Fraktion – wir werden uns enthalten – viel Richtiges. Daran ist nichts Falsches. Aber er unternimmt nicht den Versuch, den man sich vielleicht, wenn man das, was ich zu beschreiben versucht habe, einmal zusammenfasst, noch hätte erlauben können, doch zu sagen: Es ist ein ganz großer auch historischer Bogen, der da zu schlagen ist, bei dem man letztlich das eine vom anderen nicht wirklich trennen kann.
Ein Stück weit war natürlich ein Teil der Selbstvergewisserung von Stuttgart-Cannstatt am 5. August, dass man sich von einem bestimmten Teil in dem Moment, in dem man das niederschrieb, einmal nicht betroffen fühlen wollte. Ich verstehe das im Grunde auch, weil man es menschlich verstehen kann.
Historisch gesehen – deshalb hat das Dokument an der Stelle meiner Ansicht nach eine gewisse Tücke; sie ist nicht bewusst herbeigeführt, steckt aber da einfach drin, aus der Historie heraus begründbar – kann man es, glaube ich, schon so halten, wie es Ralph Giordano am 5. August 2011 in der „WELT“ formuliert hat. Er hat gesagt, dass die Vertreibung vom Holocaust nicht zu trennen ist. Ich zitiere, Frau Präsidentin: