Protocol of the Session on June 24, 2020

Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich heiße Sie herzlich zu unserer heutigen, 94. Sitzung des Landtags Nordrhein-Westfalen willkommen. Mein Gruß gilt auch den Vertreterinnen und Vertretern der Medien auf der Tribüne sowie den Zuschauerinnen und Zuschauern an den Bildschirmen.

Für die heutige Sitzung haben sich 13 Abgeordnete entschuldigt; ihre Namen werden in das Protokoll aufgenommen.

Ich rufe auf:

1 Verantwortungsvolle Normalität gestalten –

Nordrhein-Westfalen sozial und wirtschaftlich stärken

Unterrichtung durch die Landesregierung

In Verbindung mit:

Was folgt dem Applaus für die Leistungsträgerinnen und Leistungsträger? Nordrhein-Westfalen zieht Lehren aus der Corona-Krise und setzt jetzt auf einen sozialen Neustart für die Vielen.

Antrag der Fraktion der SPD Drucksache 17/9808

Der Chef der Staatskanzlei hat mit Schreiben vom 16. Juni 2020 mitgeteilt, dass die Landesregierung beabsichtigt, den Landtag zu dem Thema „Verantwortungsvolle Normalität gestalten – NordrheinWestfalen sozial und wirtschaftlich stärken“ zu unterrichten.

Die Unterrichtung der Landesregierung erfolgt durch Herrn Ministerpräsidenten Laschet. Ich erteile dem Ministerpräsidenten daher das Wort. Bitte schön.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Vor ziemlich genau drei Monaten stand ich hier an diesem Pult und habe den Landtag zum ersten Mal zur Coronapandemie unterrichtet. Ich habe damals von einem Gegner gesprochen, der so unheilvoll wie unsichtbar ist. Die Ausbreitung des Virus COVID-19 beschleunigte sich damals dramatisch, und die Auswirkungen für die Betroffenen waren ebenfalls schwerwiegend.

Wir alle waren uns damals in diesem Hause einig: Es geht in dieser Phase des exponentiellen Wachstums des Virus um die Frage von Leben und Tod. Wir alle

wollten alles tun, damit die Überforderung des Gesundheitssystems nicht eintritt und wir bei uns in Nordrhein-Westfalen keine Bilder wie in Bergamo sehen müssen.

Heute können wir feststellen, dass wir die drei wichtigsten Ziele, die wir uns Ende März gesetzt haben, auch erreicht haben.

Wir konnten zum Ersten, von lokalen Ausbruchsgeschehen wie in Coesfeld oder Gütersloh abgesehen, die landesweite Ausbreitung des Virus deutlich verlangsamen. In vielen Teilen des Landes werden die Krisenstäbe derzeit zurückgefahren und gibt es so gut wie keine Neuinfektionen mehr.

Wir konnten zum Zweiten unser Gesundheitssystem massiv ausbauen, und das binnen weniger Wochen.

Zum Dritten konnten wir auch die schlimmsten Folgen der Pandemie für unser Land, unsere Wirtschaft und jeden Einzelnen zumindest auffangen.

Dies beides immer im Blick zu haben, sowohl den Lockdown durchzusetzen als auch die Folgen und die Schäden der Pandemie mit im Auge zu haben, war der Maßstab für unsere Landesregierung.

Auf diese gemeinsame Kraftanstrengung und die große Solidarität der letzten Monate kann unser Land, können wir in Nordrhein-Westfalen miteinander stolz sein.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Klar ist aber auch: Diese Krise ist noch nicht zu Ende. Das Virus ist weiter unter uns. Wir werden auf absehbare Zeit mit ihm leben müssen. Und wir müssen einen Weg finden, wie wir mit dem Virus leben, ohne dass wir das ganze Land auf Monate oder vielleicht auf noch längere Zeit komplett herunterfahren.

Die Geschehnisse im Kreis Gütersloh führen uns diese Gefahr noch einmal vor Augen. Wir haben es mit dem bisher größten Infektionsgeschehen in Nordrhein-Westfalen und in Deutschland zu tun.

Durch die breite Streuung der Wohnorte – 1.300 Orte – der Tönnies-Belegschaft birgt dieser Ausbruch ein enormes Pandemierisiko. Deshalb haben wir gemeinsam mit den Behörden vor Ort in der letzten Woche mit wichtigen Sofortmaßnahmen reagiert.

Das Erste war, den betroffenen Betrieb sofort zu schließen und für die Mitarbeiter eine Pretest-Quarantäne anzuordnen. Es ist qualitativ etwas Neues, jemanden in Quarantäne zu nehmen, obwohl er gar nicht positiv getestet ist. Wir haben diesen Vorgang aus reiner Vorsorge unternommen. Was es für jemanden, der gar nicht positiv ist, persönlich bedeutet, wenn man ihm trotzdem eine Quarantäne auferlegt, kann sich jeder vorstellen.

Das Zweite war, dass wir die erste Stufe des Lockdowns eingeleitet haben und Schulen und Kitas, ähnlich wie im März, geschlossen haben. Auch das ist

eine für die Menschen schwierige Lage. Die Kinder hatten sich gefreut, dass sie wieder in die Kita konnten bzw. dass der Unterricht wieder begann. Die Eltern hatten es geschätzt, dass ihre Kinder wieder Bildung bekamen. Dann musste man diesen Kindern aber erklären: Nein, hier gibt es einen Vorfall, und wir müssen schnell reagieren. – Sie sind dann quasi unvorbereitet in die Sommerferien gegangen. Die Notlage hat das nötig gemacht. Menschlich ist es aber für viele Kinder ein großes Problem gewesen, diese schnelle Umstellung zu erleben.

Das Dritte war, dass wir neue Organisationsstrukturen brauchten. Deshalb haben wir zum ersten Mal einen Krisenausschuss eingerichtet, in dem die drei Bezirksregierungen Detmold, Arnsberg und Münster zeitgleich mitarbeiten, um das Problem auch grenzüberschreitend zu lösen.

Das Vierte war, dass wir die Testungen beschleunigt haben. Sie alle wissen, wie die ersten Planungen aussahen. Am Ende der letzten Woche hat man gesagt, dass die Testungen bis zum morgigen Donnerstag fertig sein sollten. Das hätte aber viel zu lange gedauert. Wir haben es in einem Kraftakt mit Unterstützung der Bundeswehr und vieler anderer geschafft, bereits am letzten Sonntag alle Testungen abschließend vorliegen zu haben.

Das Ganze war auch ein Kraftakt für jeden Mitarbeiter im Gesundheitsamt. Der Wert in Gütersloh war in den letzten Wochen sehr gering, und man hatte sich auch da darauf eingestellt, dass man vieles eigentlich schon hinter sich hatte. Plötzlich gab es aber wieder Kontaktverfolgungen für 1.500 Infektionen – in einer Situation, in der man mit den Menschen auch nicht in der deutschen Sprache kommunizieren kann.

Deshalb bin ich am Sonntag mit dem bulgarischen, dem rumänischen und dem polnischen Generalkonsul vor Ort präsent gewesen. Alle haben zugesagt, mit Dolmetschern zu helfen. Denn man muss den Menschen erklären, was da gerade passiert und warum sie jetzt erzählen müssen, mit wem sie vorher in Kontakt waren. – Alles das wurde in den letzten Tagen in großem Umfang aufgestockt.

Die Zahlen von gestern Abend lauten: Es gibt 6.139 stationär getestete Mitarbeiter. Davon sind 1.413 COVID-positiv. Im Umfeld der Beschäftigten sind es noch einmal 353. Es ist zwar nicht ganz klar, ob es Doppelzählungen oder anderes gibt. Aber die Größenordnung ist klar.

Bei Nicht-Tönnies-Beschäftigten liegt der Wert allerdings auch nach dem gestrigen Tag immer noch im niedrigen zweistelligen Bereich. Wir müssen aber wissen: Hat sich das Virus weiterverbreitet oder nicht?

Deshalb haben wir gesagt: Wir machen jetzt auch die zweite Stufe des Lockdowns. Wir führen das öffentliche Leben auf die Situation wie im März zurück und

haben jetzt die Gelegenheit, umfassend zu testen, um mit jedem weiteren Test eine Wahrscheinlichkeit messen zu können, wie weit sich das Virus in der Bevölkerung verbreitet hat oder nicht. Niemand kann das heute beantworten.

Bei allen anderen Ausbruchslagen in Deutschland hat man nach dem mit der Bundeskanzlerin getroffenen Beschluss, dass ab 50 Infizierten pro 100.000 Einwohnern die Lockerungen zurückgeführt werden sollen, überall lokal reagiert – bei den Altenheimen in Thüringen, bei den Fleischbetrieben in Norddeutschland, bei uns in Coesfeld, auf Spargelhöfen und an vielen anderen Orten. Wir sind jetzt das erste Land, das, obwohl die Ergebnisse es noch gar nicht hergeben, aus Vorsicht komplett zurückführt, um feststellen zu können, wie die Lage im Kreis Warendorf und im Kreis Gütersloh wirklich ist.

Deshalb müssen wir den Bewohnern dort aber auch sagen: Ja, wir muten Ihnen viel zu; die Sicherheit macht das allerdings erforderlich.

Ich danke allen vor Ort, die jetzt mit Hochdruck arbeiten. Sie haben es gelesen: Der Leiter des Krisenstabs hatte in der letzten Nacht gesundheitliche Probleme und ist zusammengebrochen. – Ich wünsche ihm von hier aus beste Genesung. Die Menschen arbeiten bis an den Rand der Erschöpfung, um dieser Pandemie Herr zu werden. Danke für dieses Engagement!

(Beifall von allen Fraktionen)

Das Schutzkonzept beinhaltet wieder Kontaktbeschränkungen auf Hausstände oder zwei Personen, die sich in der Öffentlichkeit treffen wollen, sowie viele einzelne Schließungen; Sie alle haben in den letzten Tagen gelesen, was das Ganze umfasst. Gleichzeitig ist die Bitte an die Bevölkerung, den Kreis nur in besonderen Fällen zu verlassen.

Jetzt kann man fragen: Was sind besondere Fälle? – Daran erkennt man auch die Schwierigkeit, wie man einen isolierten Kreis betrachten muss. Ich habe heute noch einmal mit Karl-Josef Laumann gesprochen. Das Krankenhaus Bielefeld lebt ganz entscheidend davon, dass ca. 400 Mitarbeiter aus dem Kreis Gütersloh in diesem Krankenhaus arbeiten. Wenn morgen verfügt wird, dass keiner mehr den Kreis Gütersloh verlassen darf, bricht daher die Gesundheitsversorgung in Bielefeld zusammen. Wir haben deshalb angeordnet, jetzt alle Mitarbeiter, die dort arbeiten, zu testen.

Man erkennt an dem Phänomen: Es gibt Wanderungsbewegungen. Denn es gibt natürlich Menschen, die außerhalb des Kreises Gütersloh leben, aber bei Bertelsmann, Miele und anderen großen Unternehmen arbeiten; dort ist unsere starke mittelständische Wirtschaft. Diesen Menschen müssten Sie dann ja auch verbieten, zu ihrem Arbeitsplatz zu

fahren. Deshalb müssen wir das so zielgerichtet und so klug wie möglich machen.

Den Menschen, die jetzt einen Urlaub geplant haben, empfehlen wir, sich testen zu lassen. Die Testkapazitäten werden auch am heutigen Tag noch einmal gewaltig ausgedehnt. Aber eines geht nicht: dass man öffentlich Menschen aus dem Kreis Gütersloh stigmatisiert.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Ich stelle mich vor die Menschen in Gütersloh.

Ich bin froh, dass der bayerische Ministerpräsident mit seiner Maßnahme – ich habe gestern mehrmals mit ihm telefoniert – klargemacht hat: Menschen aus Gütersloh sind willkommen, wenn sie mit einem Test nachweisen, dass sie keine COVID-19-Infektion haben. Ich erwarte auch von den anderen Bundesländern, auch in Norddeutschland, dass wir zu solchen Regelungen kommen und dass wir in dieser Weise diese Krise gemeinsam bewältigen.

Das Zweite ist, jetzt die Quarantäne zu forcieren. Auch hier muss man sich einfach einmal in die Lage hineinversetzen, in der Menschen sind, wenn in Verl plötzlich ein Zaun um eine große Liegenschaft gezogen wird. Da wird mehr nötig sein, als nur Essenspakete abzugeben. Da wird eine menschliche Betreuung nötig sein. Es gibt derzeit schon ein großes ehrenamtliches Engagement. Man muss auch mehrmals am Tag hingehen und den Menschen erklären, warum das nötig ist.

Diese Quarantäne durchzuhalten, ist wichtig für die Sicherheit, die wir jetzt gewährleisten wollen. Sie muss aber menschlich, anständig und in Respekt vor den Menschen erfolgen.

Wir haben ihnen zugesichert: Bleiben Sie lieber hier; fahren Sie nicht zurück in Ihre Heimatländer; wir sichern hier die beste medizinische Betreuung zu. Egal, wie Sie versichert sind: Sie werden in Deutschland behandelt, wenn Sie krank werden. – Auch diese Zusage unseres Landes gegenüber den Menschen, die zum Teil unter ausbeuterischen Bedingungen dort arbeiten müssen, ist ein wichtiger Punkt.

(Beifall von der CDU und der FDP)