Das ist ja auf den ersten Blick eigentlich absurd. Man könnte meinen, gerade wenn es mir schlecht geht, wenn ich in einer miserablen Situation lebe, dann ergreife ich das Wahlrecht, dann erhebe ich meine Stimme in der Hoffnung, etwas zu verändern. In der Realität sieht das allerdings ganz anders aus.
Und das ist auch nicht neu. Selbst Bertolt Brecht hat schon vor 100 Jahren in der Ballade „Wovon lebt der Mensch“ für die „Dreigroschenoper“ singen lassen: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“. – Daran hat sich offenkundig nichts geändert. Politisches Engagement, politisches Interesse und der Glaube daran, etwas bewirken zu können, sind anscheinend ein gewisser bürgerlicher Luxus.
Es wundert auch nicht, denn wer nach einem anstrengenden Arbeitstag – gegebenenfalls mit zwei oder drei Jobs – nach Hause kommt, der hat andere Sorgen und den Glauben daran verloren, dass er etwas bewirken kann. Die unmittelbaren Probleme müssen gelöst werden. Da ist das große politische Feld häufig weit weg.
Wer am öffentlichen Leben – anders als wir alle – überhaupt nicht mehr teilhat und vielleicht die Erfahrung der Selbstwirksamkeit noch gar nicht gemacht hat oder bei wem sie schon lange zurückliegt, hat offensichtlich den Glauben daran verloren, mit dem Gang zur Wahlurne etwas bewegen zu können.
Das wundert uns auch nicht. Als Beispiel nenne ich wieder „Fridays for Future“. Da sind vor allen Dingen Bildungsbürgerkinder auf den Straßen und eben nicht Kinder aus prekären Familien, die ausgerechnet gerade jetzt plötzlich die Idee haben, dass, wenn sie ihre Stimme erheben, sie etwas bewirken können. Nein, die haben ganz andere Sorgen; sie kümmern sich nicht um den potenziellen Weltuntergang übermorgen, sondern die machen sich Gedanken, ob sie einen Ausbildungsplatz bekommen.
Die jungen Menschen, die heute auf die Straße gehen und sich für den Klimawandel einsetzen, sind vermutlich die jungen Menschen, die ohnehin wählen gegangen wären, völlig unabhängig davon,
ob es diese Bewegung gäbe oder nicht – mal ganz abgesehen davon, dass konsequentes Schulschwänzen wohl kaum als Zeichen der Reife und gesteigerten Verantwortungsgefühls gewertet werden kann und deshalb ausgerechnet diese jungen Menschen jetzt unbedingt wählen gehen müssten.
Die Politikverdrossenheit hat in unserem Land viele Ursachen. Das Gefühl, die da oben machen eh was sie wollen, wird man wohl kaum mit der Absenkung des Wahlalters verändern können. Das Vertrauen in die Politik ist dramatisch gestört.
Die jüngsten Ereignisse rund um die Regierungsbildung in Thüringen tun ihr Übriges. Was sollen denn die Wähler darüber denken, wenn fast ein Viertel aller Wähler zwar erfolgreich ihre Stimme abgegeben
hat, aber die gewählten Volksvertreter dazu verdammt werden sollen, völlig ohne Einfluss auf eine Regierungsbildung zu bleiben?
Sie, liebe SPD, hatten vor, den Bürgern in NRW etwas Ähnliches anzutun. Sie wollten nicht nur an der Freiheit des Mandats kratzen, Sie wollen auch noch mit Ihrer Gesinnung dazu beitragen, dass letzten Endes der Wähler genau weiß, dass er mit der Abgabe seiner Stimme eben nichts verändern kann. Denn wenn er Veränderung wünscht und aus diesem Grund die einzige Oppositionspartei wählt und diese Partei von der Mitwirkung anschließend ausgeschlossen wird oder man sogar grundsätzlich verhindern will, dass die Opposition …
… auf Wahlen wichtiger Funktionsträger oder wichtige Gesetze hinwirken kann, dann müssen Sie sich auch nicht wundern, dass immer weniger Menschen glauben, mit der Ausübung ihres Wahlrechts etwas bewirken zu können.
Ihre Bestrebungen lassen diesen Slogan traurige Realität werden. Sie sollten allesamt Ihr Verständnis …
… gegenüber der Demokratie überdenken. Das würde sehr viel mehr als die Absenkung des Wahlalters auf das 16. Lebensjahr dazu beitragen, dass die Menschen nicht mehr so politikverdrossen sind. – Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Dworeck-Danielowski. – Für die Landesregierung spricht jetzt Herr Minister Reul.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Im Landtag von Nordrhein-Westfalen ist in der Vergangenheit schon oft über das Thema „Absenkung des Wahlalters bei Landtagswahlen von 18 auf 16 Jahre“ diskutiert worden. Jetzt gab es eine erneute intensive Beratung, auch mit Anhörung. Bei der Anhörung hat sich das wiederholt, was sich immer wiederholt, nämlich die Darstellung unterschiedlicher Positionen, die uns, glaube ich, in der Sache aber nicht viel vorangebracht haben.
Meine Sorge ist, dass diese Debatte sehr leicht dazu verkommen kann, für taktische Spiele benutzt zu werden.
Ich finde zum Beispiel den eben vorgetragenen Hinweis, dass diejenigen, die gegen die Absenkung sind, misstrauisch gegenüber jungen Leuten sind, starken Tobak.
Das bestätigt mich in der Annahme, dass es nicht darum geht, die Frage sachgerecht zu diskutieren – das ist übrigens auch nicht ganz einfach –, sondern dass es darum geht, mit Vorwürfen zu arbeiten,
vielleicht auch darum, aus der tagesaktuellen Befindlichkeit heraus zu hoffen, dass man damit die Wahlchancen erhöhen kann. Das ist aber das falsche Thema, um bei dieser Frage weiterzukommen.
Die Grundfrage lautet – und die ist berechtigt –, was man tun kann, was man tun muss, damit sich Jugendliche stärker an Politik beteiligen, stärker für Politik interessieren. Das ist eine ganz zentrale Frage. Ich bin mir nur nicht sicher, ob das eine Frage des Wahlalters ist.
Sie wissen, dass man hier in Nordrhein-Westfalen und gerade in diesem Landtag schon seit geraumer Zeit sehr viele Bemühungen unternimmt, um Kinder und Jugendliche für Politik zu interessieren, an politische Prozesse heranzuführen. Das, glaube ich, ist der vernünftige Weg.
Der Gesetzentwurf, in dem die Absenkung des Wahlalters vorgeschlagen wird, wird vonseiten der Landesregierung nicht unterstützt. Ich kann einige Begründungen wiederholen.
Erstens. Ich glaube, es ist nicht klug, das aktive und passive Wahlrecht bei der Landtagswahl auseinanderfallen zu lassen. Ich halte unterschiedliche Rechtslagen bei überregionalen Wahlen – also Bundestags-, Landtags-, Europawahlen – nicht für besonders intelligent und hilfreich. Es ist, glaube ich, schon ein kluger Hinweis, dass man bei Parlamentswahlen in Bund und Land ein übereinstimmendes Wahlrecht haben sollte. Der Unterschied zu Kommunalwahlen liegt auf der Hand.
Im Übrigen ist das 18. Lebensjahr als Grenze auch auf anderen Feldern anzutreffen – darauf haben bereits einige Kollegen hingewiesen –, etwa beim Jugendstrafrecht und der Volljährigkeit.
Ich erinnere an den Kommentar von Maunz/Dürig zum Grundgesetz, der davon spricht, dass ein Grad an Verstandesreife – in Anführungsstrichen – bei den über 18-Jährigen vorausgesetzt werden könne, bei denen darunter wohl nicht.
Eine solche Wahlrechtsreform würde übrigens auch keine riesige Akzeptanz in der Bevölkerung finden. Ich meine, das ist kein Argument, aber ein Kriterium vielleicht.
Professor Decker hat in seiner schriftlichen Stellungnahme aus einer Umfrage von 2011 zitiert. Danach würden unter den über 16-jährigen Bürgern in Nordrhein-Westfalen nur 37 % der 16- bis 24-Jährigen einer solchen Reform zustimmen, während 63 % sie ablehnen würden. Bei der Gesamtbevölkerung ist die Ablehnung mit 78 % noch deutlicher.
Das ist kein entscheidendes Kriterium, aber doch ein Hinweis, den man berücksichtigen kann, wenn man abwägt, und abwägen muss man, denn es gibt ja für beide Positionen sicherlich auch ernsthafte Argumente.
Übrigens zeigt auch der Ländervergleich, dass nur ein kleinerer Teil der Länder diesen Weg wählt; das muss nicht richtig sein, aber es ist auch ein Indiz.
Bei der Gesamtabwägung kommt die Landesregierung zur Auffassung, dass der Gesetzentwurf nicht unsere Zustimmung findet.