Protocol of the Session on May 20, 2015

Und es handelt sich nicht um ein NRW-Problem, auch die niedersächsische Metropolregion Hannover-Braunschweig-Göttingen-Wolfsburg oder Teile der hessischen Metropolregion Frankfurt/RheinMain sowie ostdeutsche Länder sind davon betroffen.

Ich möchte Ihnen gern in Erinnerung rufen, was eigentlich das Ziel des SGB II ist. § 1 SGB II führt aus,

„dass durch eine Erwerbstätigkeit Hilfebedürftigkeit vermieden oder beseitigt, die Dauer der Hilfebedürftigkeit verkürzt oder der Umfang der Hilfebedürftigkeit verringert wird.“

Zwei Faktoren für die hohe Arbeitslosigkeit in unserem Land sind ausschlaggebend: Zum einen liegen die Gründe in der Person, etwa in geringen Qualifikationen, fehlenden Schul- oder Berufsabschlüssen, Entwöhnung von Arbeit und daran gekoppelt unge

regelte Tagesabläufe, physischen und psychischen gesundheitlichen Einschränkungen.

Der zweite Grund sind strukturschwache Regionen, die eine sehr geringe Aufnahmefähigkeit für Leute, die Leistungen nach dem SGB II beziehen, haben. Hier gibt es eine sehr harte Konkurrenz für diejenigen, die oftmals qualifizierter als die Langzeitarbeitslosen sind.

Die strukturellen Arbeitsmarktprobleme wie auch die sozioökonomischen Armutsrisiken in der Bevölkerung sind im Vergleich zu anderen westdeutschen Flächenbundesländern für die vergleichsweise langen Verbleibzeiten in der Langzeitarbeitslosigkeit verantwortlich. Ich nenne nur eine Zahl: In NRW sind fast zwei Drittel aller Arbeitslosen länger als zwei Jahre arbeitslos.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, damit wollen wir uns nicht abfinden. Wir haben es im rotgrünen Koalitionsvertrag zu Beginn der Legislaturperiode bereits festgelegt und uns eindeutig für einen sozialen Arbeitsmarkt ausgesprochen. Natürlich ist unser vorrangiges Ziel, dass es für jeden Menschen einen Platz im ersten Arbeitsmarkt gibt. Aber wir müssen auch der Realität ins Auge sehen, dass das nach vielen Jahren des Versuchens von verschiedenen Initiativen und mit verschiedenen Instrumenten einfach nicht gelungen ist.

Mit Erlaubnis der Präsidentin zitiere ich Prof. Dr. Gerhard Bosch, der bei der Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales im Deutschen Bundestag in dieser Woche sagte:

„Angesichts der vielfältigen Probleme und unterschiedlicher Potenziale der Betroffenen kann Langzeitarbeitslosigkeit nur mit einem Bündel von Instrumenten bekämpft werden.“

Zu einem Bündel gehören natürlich auch Qualifizierungen für Langzeitarbeitslose – das ist ganz klar –, aber eben auch der soziale Arbeitsmarkt.

Wir in NRW waren auf diesem Weg schon einmal weit: Angefangen mit dem Kombilohn unter KarlJosef Laumann, weiterentwickelt unter anderem unter Beteiligung des SPD-Politikers Klaus Brandner als „JobPerspektive“ hatten wir ein gutes Instrument. Die Arbeitgeber aus der Privatwirtschaft, aus dem öffentlichen Sektor und von Trägern erhielten Lohnkostenzuschüsse und stellten ehemals langzeitarbeitslose Arbeitnehmer ein – unterstützt durch Jobakquisiteure. Zum ersten Mal hatten wir hiermit ein Programm, das eben nicht von einem Jahr zum anderen lief und das nicht immer wieder neu beantragt werden musste. Das bot vor allem eine große Sicherheit für die ehemaligen Langzeitarbeitslosen.

Dieser Lohnkostenzuschuss oder überhaupt eine Subventionierung für die geminderte Arbeitsleistung wurde zwar immer wieder überprüft, aber grundsätzlich galt eine unbefristete oder unbeschränkte Förderungsdauer eigentlich für alle auf diese Art

geschaffenen Arbeitsplätze. Dieses Programm hat sich auch gegen die anfängliche Skepsis von Gewerkschaftlern, Gewerkschaften und Arbeitgebervertretern etabliert.

Vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die ich in Aachen gemacht habe, sage ich Ihnen ganz klar: Mitnahmeeffekte vonseiten der Arbeitgeber wie auch Verdrängung von regulär Beschäftigten sind kaum zu befürchten. Wir hatten damals ein Steuergremium, zugegebenermaßen unkonventionell aus Arbeitgebervertretern, Kammern, Gewerkschaften, Jobcentern und Bundesagenturvertretern zusammengesetzt, die sozusagen im Umlaufverfahren jede Stelle, die eingerichtet werden sollte, neu überprüft und jedes Mal bekräftigt haben: Jawohl, es handelt sich nicht um die Verdrängung eines normalen Jobs; jawohl, es handelt sich um zusätzliche Arbeit, die sonst nicht in diesem Unternehmen, bei Kommunen oder anderweitig hätte erfüllt werden können.

Dann aber kam 2009 Schwarz-Gelb im Bund. Die Folge war eine Instrumentenreform mit, ehrlich gesagt, katastrophalen Auswirkungen für die Wiedereingliederung Langzeitarbeitsloser. Ich weiß nicht mehr genau, wie viele Träger von Maßnahmen, Jobcenter und Betroffene damals im wahrsten Sinne des Wortes Schwarz getragen haben, aber leider war das berechtigt. Aufgrund des rigide gekürzten Eingliederungstitels durch Arbeitsministerin von der Leyen kam es zur faktischen Einstellung der „JobPerspektive“.

Anschließend gab es ein Programm, das viele von Ihnen vielleicht kennen – es läuft jetzt aus – und das höchstens als „Placebo“ zu bezeichnen war: die „Bürgerarbeit“. Dahinter steckt noch immer die Philosophie, dass man Menschen nur lange genug irgendwie irgendwo beschäftigen muss, um ihre Chancen auf einen Wiedereinstieg in den normalen Arbeitsmarkt zu steigern.

Aber, meine Damen und Herren: Wir müssen uns, glaube ich, von dieser Lebenslüge langsam verabschieden.

Ein Mensch, der in einer Kommune in den Parks Aufräumarbeiten erledigt, der in einer Kitaküche Geschirr spült oder der in einer Schule Hausmeistertätigkeiten erledigt, wird niemals in eine sozialversicherungspflichte Arbeit kommen, weil natürlich die Kommunen, die diese Menschen beschäftigen, oftmals selbst vor dem finanziellen Kollaps stehen. Sie haben weder die Möglichkeit noch die Gelder, Menschen anzustellen, die das zu einem regulären Arbeitsentgelt tun würden. Denn sonst würden sie es ja nicht machen. Da findet keine Brückenfunktion in den ersten Arbeitsmarkt statt.

Deswegen sollten wir uns von der Vorstellung verabschieden, dass im öffentlich geförderten Beschäftigungssektor immer nur zusätzliche gemeinnützige wettbewerbsneutrale Jobs entstehen sollten.

Ich sage Ihnen auch ganz deutlich: Bei den Menschen, die von einem sozialen Arbeitsmarkt profitieren, sprechen wir nicht von Menschen, die auf einem anderen Wege eine Arbeit finden würden, sondern es handelt sich ganz klar um eine sehr arbeitsmarktferne Gruppe, die ich Ihnen gern charakterisieren würde.

Es gibt eine Untersuchung des IAB von Prof. Trappmann, der erforscht hat, was eigentlich Vermittlungshemmnisse sind und was passiert, wenn sie alle in einer Person zusammentreffen. Vermittlungshemmnisse sind etwa das Alter – ich spreche da von 50plus –, Migrationshintergrund – Sprache im Haushalt ist nicht Deutsch –, kein Schulabschluss, kein Ausbildungsabschluss, gesundheitliche Einschränkungen, egal ob psychischer oder physischer Art. Nach dieser zitierten Untersuchung sind bei etwa 70 % der Grundsicherungsempfänger mindestens zwei, eher drei bis fünf Vermittlungshemmnisse kumuliert.

Prof. Trappmann hat sich die Mühe gemacht und ausgerechnet, was das eigentlich bedeutet.

Die Übergangswahrscheinlichkeit in den ersten Arbeitsmarkt nimmt bereits mit zwei Hemmnissen auf 6,2 % ab, bei drei Hemmnissen liegt sie bereits bei 4,3 % Chance auf Übergang in den ersten Arbeitsmarkt. Das heißt also – wenn wir das noch einmal zusammenfassen –, die Chancen, als Langzeitarbeitslose auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Anstellung zu finden, sinken rapide, wenn sie Migrationshintergrund haben, älter als 50 Jahre sind oder keinen Schul- oder Berufsabschluss haben.

Jetzt frage ich Sie ganz ehrlich: Sind das Menschen, die Sie als Arbeitgeber ohne Förderung, ohne zusätzliche Begleitung, ohne Ausgleich für eine Minderleistung einstellen würden? – Ich glaube nicht. Deswegen glaube ich auch, dass die Befürchtung, dass hier Steuergelder oder Subventionen fließen, um Arbeitgebern billige Arbeitskräfte zu ermöglichen, unbegründet ist.

(Zuruf von Ulrich Alda [FDP])

Zudem kann natürlich jeder, der es möchte und der einen langzeitarbeitslosen Menschen einstellt, eine Förderung, einen Lohnkostenzuschuss beantragen. Es entsteht also keine Wettbewerbsverzerrung.

Natürlich wird es auch bei einem dauerhaft öffentlich geförderten Beschäftigungssektor wahrscheinlich hauptsächlich um Arbeitsplätze bei öffentlichen Arbeitgebern oder Trägern gehen. Das Land NRW hat mit seinen bescheidenen Mitteln aus dem ESF das Programm „ÖgB“ aufgelegt, mit guten Ansätzen und mit erfreulichen Ergebnissen. Daran gilt es anzuknüpfen.

Natürlich bedeutet der soziale Arbeitsmarkt auch keine Sackgasse. Es muss und soll immer wieder überprüft werden, ob es tatsächlich noch Vermitt

lungshemmnisse gibt, die einen Lohnkostenzuschuss oder andere Hilfen wirklich nötig machen.

Wir, die regierungstragenden Fraktionen von SPD und Grünen, fordern, dass der soziale Arbeitsmarkt Langzeitarbeitslosen mit mehrfachen Vermittlungshemmnissen eine neue Perspektive auf Beschäftigung bieten soll, die sie ohne Förderung bzw. im Rahmen der bisher bestehenden oder in Vorbereitung befindlichen Programme des Bundes und des Landes nicht erhalten hätten.

Wenn wir schon dabei sind. Sie haben alle die Schlagzeilen gelesen, dass durch das Bundes-ESFProgramm den Jobcentern Mittel in erheblichem Umfang gekürzt werden sollen. Das erfüllt gerade uns in NRW natürlich mit Sorge.

Und genau deshalb fordern wir in unserem Antrag, dass sich auf Bundesebene endlich dafür eingesetzt wird, eine nachhaltige Finanzierung eines sozialen Arbeitsmarkts auch wirklich durch die gesonderte Ausweisung und durch zusätzlich Mittel im Eingliederungstitel sicherzustellen. Das ist die Lösung. Denn es kann doch nicht die Lösung sein, dass das eine Programm gegen das andere ausgespielt wird. Vielmehr muss es insgesamt gerade für diese besondere Gruppe von langzeitarbeitslosen Menschen mehr Geld im System geben, meine Damen und Herren.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Wir fordern diese Bereitschaft natürlich nicht nur auf Bundesebene ein. Ergänzende Maßnahmen sollen mit eigenen Mitteln in bisherigem Umfang finanziert werden. Auf Bundesebene und bei den Kommunen muss zur Finanzierung eines solchen Arbeitsmarkts für einen Passiv-aktiv-Transfer geworben werden. Mit diesem Engagement ist nicht automatisch eine Bundesratsinitiative gemeint.

Die wie auch immer öffentlich geförderte Beschäftigung ist nicht allein ein Instrument der Arbeitsmarktpolitik, sondern eine gesellschaftspolitische Notwendigkeit. Sie bedeutet Teilhabe, Teilhabe an der Gesellschaft durch Arbeit und daher einen Ausweg aus Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit.

Ich darf mit Erlaubnis der Präsidentin noch ein – wie ich fand – sehr schönes Zitat bringen. Es vereinigt evangelische und katholische Kirche zumindest in dieser Anschauung. Es handelt sich um ein Wort des Rates der Evangelischen Kirche und der Katholischen Bischofskonferenz aus dem Jahr 1997:

„In dem Begriff der sozialen Gerechtigkeit drückt sich aus, dass soziale Ordnungen wandelbar und in die gemeinsame moralische Verantwortung der Menschen gelegt sind. (…) Suche nach Gerechtigkeit ist eine Bewegung zu denjenigen, die als Arme und Machtlose am Rande des sozialen und wirtschaftlichen Lebens existieren und ihre Teilhabe und Teilnahme an der Gesellschaft nicht aus eigener Kraft verbessern können.“

Die Erfahrungen der Teilnehmer, die bis jetzt an Projekten der öffentlich geförderten Beschäftigung teilgenommen haben, zeigen ganz deutlich, dass sie selbst eine grundlegende Verbesserung ihrer Situation wahrnehmen, dass sie ihre materielle sowie auch soziale Teilhabe erfahren. Dieser Unterschied liegt natürlich im Wesentlichen darin, dass sie nicht das Gefühl haben, Transferleistungsempfänger zu sein, sondern sie bekommen einen Lohn für die von ihnen geleistete Arbeit.

Ich komme zum Schluss. Die Notwendigkeit eines sozialen Arbeitsmarkts wird eigentlich von niemandem mehr ernsthaft bestritten. Ich bin auch unserer Ministerpräsidentin außerordentlich dankbar, dass sie mich in meinem Wahlkreis in ein Sozialkaufhaus begleitet und sich selbst ein Bild von der Situation der Menschen gemacht hat, die dort arbeiten.

Meine Damen und Herren, ich weiß, dass es für einen Politiker nicht besonders sexy ist, sich mit dem Thema „Langzeitarbeitslose Menschen“ zu befassen. Anders als bei Brücken, Straßen, Schulen und Kitas können wir als Politiker hier weder blaue Bänder durchschneiden noch uns auf Fotos mit zufriedenen Bürgermeisterinnen, Bürgern und Kindern zeigen. Aber die Menschen, um die es hier geht, sind es wert, dass man sich ernsthaft mit dem Thema beschäftigt. Sie sind die heutigen Verlierer der Gesellschaft, die es verdient haben, wieder durch Arbeit an der Gesellschaft teilzuhaben. – Ich danke Ihnen.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin Jansen. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht Frau Kollegin Maaßen.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die allgemeine Entwicklung am Arbeitsmarkt ist erfreulich. Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Arbeitsmarktpolitik ein Paradigmenwechsel notwendig ist. Der Arbeitsmarkt bleibt gespalten, die Verlierer sind die Langzeitarbeitslosen.

Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat in ihrer Regierungszeit rund 40 % bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik gekürzt. Dadurch sind ausgerechnet diejenigen durch den Rost gefallen, die besonderer Unterstützung bedürfen. Bundesweit gelten mehr als 430.000 Personen als arbeitsmarktfern. Sie sind in den vergangenen Jahren von der regierenden Bundespolitik schlichtweg – ich sage: bewusst – vergessen worden. Eine dauerhafte Exklusion dieser Menschen aus dem Erwerbsleben und letztendlich aus unserer Gesellschaft wurde hier bewusst in Kauf genommen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Die Folge ist eine massive Verhärtung der Langzeitarbeitslosigkeit im Grundsicherungssystem.

Meine Damen und Herren, der arbeitsmarktpolitische Aufbruch für die Abgehängten muss endlich kommen,

(Beifall von den GRÜNEN)

und das geht nur mit einem verlässlichen sozialen Arbeitsmarkt. Hierdurch können Arbeitslose mit besonders schweren Problemen wieder Zugang zum Arbeitsmarkt finden, und zwar schrittweise, individuell und nachhaltig. Wir brauchen „normale“ Beschäftigung, die nicht zusätzlich ist, die allen offensteht und mit der die Menschen gefördert werden können, die geringe Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Es darf nicht weiter an den Lebenslügen der öffentlichen Beschäftigung, der Zusätzlichkeit des öffentlichen Interesses und der Wettbewerbsneutralität festgehalten werden.

Dies müssen wir aufbrechen. Wir brauchen letztendlich einen inklusiven Arbeitsmarkt, keine Versäulung und keine ausgeprägte Trennung zwischen behinderten Menschen und nichtbehinderten langzeitarbeitslosen Menschen.