Protocol of the Session on September 12, 2014

Kommen wir nun zur Finanzierung. Wir sprechen von einem jährlichen Versicherungsvolumen von rund 55 Milliarden €. Das entspricht nicht einmal 1 % der Wirtschaftsleistung der Eurozone. Dabei ist wichtig, dass diese sozialen Kosten des Euro nicht auf die Beschäftigten abgewälzt werden. Auch der Faktor Kapital als größter Profiteur der europäischen Freiheiten muss angemessen beteiligt werden.

(Beifall von den PIRATEN)

So würden beispielweise die Einnahmen aus einer richtigen Finanzmarkttransaktionssteuer zur Finanzierung fast ausreichen.

Im Übrigen: Selbst die USA, gemeinhin nicht bekannt als Hort des Sozialismus, kennen ein solches Ausgleichsmodell.

Ich komme zum Schluss. Es ist eine Perversion der EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit, wenn man durch Austeritätspolitik Wirtschaftsvertreibung befördert, jede Art von Ausgleichsmechanismus auf EUEbene ablehnt und dann noch Arbeitssuchenden Sozialtourismus vorwirft.

(Beifall von den PIRATEN)

Wer echte EU-Freizügigkeit will, muss auch für den solidarischen und sozialen Ausgleich innerhalb der EU sorgen. Das sehen die Sozialdemokraten und die Grünen im Europaparlament übrigens genauso. Hier in NRW prangern Ministerpräsidentin Kraft, die leider nicht anwesend ist, aber auch die Europaministerin Dr. Schwall-Düren öffentlich immer wieder fehlende Sozialkomponenten der EU an. Insofern möchte ich Sie, Frau Ministerin, an Ihre eigenen Worte erinnern – ich zitiere –:

„Aufgabe der europäischen Ebene sollte vielmehr sein, sozialpolitische Ziele und Grundrechte weiterzuentwickeln, rechtsverbindliche EUweite Mindeststandards einzuführen... Die Politik der EU sollte darauf ausgerichtet sein, die sozialen Folgen der ökonomischen Krise abzumildern …“

Und weiter:

„Wir brauchen einen sozialen Stabilitätspakt …“

Recht haben Sie. Nun müssen Sie auch zeigen, wie ernst es Ihnen damit ist. Senden Sie ein Signal an die EU-Kommission, endlich tätig zu werden!

Wir freuen uns auf die konstruktiven Beratungen im Ausschuss. – Vielen Dank.

(Beifall von den PIRATEN)

Vielen Dank, Herr Kern. – Für die SPD-Fraktion hat nun Herr Kollege Neumann das Wort.

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Benötigen wir ein soziales Europa? – Die klare Antwort lautet: Ja. Dieses Europa wird sozialer als das bisherige sein müssen. Das sind wir den Millionen von Arbeitslosen nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa schuldig.

Lassen Sie mich aber hinzufügen: Das Beste, was gegen Arbeitslosigkeit getan werden kann, ist eine gute Wachstumspolitik statt einer Restriktionspolitik. Denn Wachstum schafft Arbeitsplätze. In dieser Hinsicht ist vor allem ein Umdenken der Europäischen Kommission sehr notwendig.

Die Lage ist buchstäblich verrückt. Zum einen betonen wir immer Europas gemeinsamen kulturelle Kern, zum anderen leben wir die nüchterne Realität von Wettbewerb und Markt. Vielleicht bedeutet gerade das ein soziales Europa, und die soziale Dimension ist die Brücke dazwischen. Die europäische Identität ist mehr und etwas anders als das Bewusstsein einer Wirtschafts-, Währungs- und Krisenunion. Der soziale Gedanke hat seinen Niederschlag in den europäischen Prinzipien des Sozialstaates und der sozialen Marktwirtschaft. Dieser Gedanke liegt jenseits der allzu schlichten Alternative vom reinen Wettbewerbsstaat und ökonomisch schwachen Sozialstaat. Vielmehr reden wir vom wirtschaftlich leistungsfähigen Sozialstaat, für den Solidarität Grundvoraussetzung und nicht Feindbild ist.

Der Antrag geht von dem durchaus richtigen Gedanken aus, dass automatische Ausgleichsmechanismen und Stabilisatoren Ungleichgewichten entgegenzuwirken haben. EU-Kommissar Andor erwähnt im Kontext seiner Werbung für eine solche Versicherung eine Aufgabe, die mutmaßlich die noch bedeutsamere ist. Ich zitiere:

„Eine gemeinsame Versicherung würde dem Währungsraum endlich ein menschliches Gesicht verleihen.“

Wenn wir diesen Wunsch bejahen, müssen wir das Missverständnis Europa in Form von Lohn-, Steuer- und Sozialdumping verneinen. Einen europäischen

Wettbewerb als Wettbewerb um niedrigste soziale Standards können wir doch gar nicht ernstlich wollen.

Im Antrag erscheint ein spannender Wink. Es ist von der positiven Assoziation der Bevölkerung mit einem Mechanismus der EU die Rede. Wir praktizieren die Währungsunion mit dem Euro als gemeinsame Währung. Vielleicht ist es so, dass die eigentliche, sogar noch wichtigere Währung letzten Ende eine andere ist, nämlich Identifikation oder auch das Konglomerat aus Identifikation, Zutrauen und Verlässlichkeit.

Erfolgsgeheimnis des deutschen Sozialstaatmodells ist die Identifikation nicht nur der Menschen am sozialen Rand, sondern auch der Mittelschichten insgesamt mit der sozialen Marktwirtschaft, die von der Absicherung durch bestimmte Instrumente gespeist wird.

Eine Reihe von Punkten in Bezug auf die Realisierbarkeit einer europäischen Arbeitslosenversicherung ist unbedingt zu klären: diverse technische Details, Schnittstellen zwischen nationalen und supranationalen Systemen, sekundär und primär rechtliche Fragen, Standards der Arbeitsvermittlung oder auch die Frage der Souveränität.

Im reinen vehementen Verteidigen nationaler Souveränität begegnen sich sowohl Marktradikale und Marktliberale, die Regulierung und Vereinheitlichungen strikt ablehnen, als auch diejenigen, die Absenkungen nationaler Standards und Deregulierung fordern.

Gebot der Stunde ist es daher, sich bewusst zu machen und eine ausführliche ernsthafte Befassung anzugehen. Das heißt: sorgsame Prüfung etwaiger positiver und negativer Effekte, der Komplexität entsprechend Modelle zur Umsetzung eines sozial gedachten Europas erwägen und auswerten, eines sozial gedachten Europas, das dem Ökonomischen mitnichten automatisch widerspricht – nein, im Gegenteil.

Wir werden Ihren Antrag im Ausschuss selbstverständlich als eine gute Diskussionsgrundlage gemeinsam besprechen und versuchen, das Beste für die Arbeitslosen in Europa zu tun. Aber ich wiederhole: Der beste Schutz vor Arbeitslosigkeit ist eine europäische Politik, die zum Wachstum von Arbeitsplätzen beiträgt. – Vielen Dank.

(Beifall von der SPD)

Vielen Dank, Herr Kollege Neumann. – Für die CDU-Fraktion ergreift nun Herr Kollege Kerkhoff das Wort.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Piratenfraktion spricht sich in ihrem Antrag gegen Denkverbote aus. Nun ist ja Denken nie verboten. Aber wer ge

nau das an dieser Stellte tut, kommt, meine ich, zu dem Ergebnis, dass man das Projekt einer europäischen Arbeitslosenversicherung wohl besser nicht weiter verfolgen sollte.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Der Weg zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in Europa führt nicht über mehr Transfers, sondern führt über Strukturreformen, über Wachstum. Und das sind in erster Linie die Aufgaben der einzelnen Länder. Europäisch kann dies durch Programme flankiert werden, aber letztendlich bleibt es eine Aufgabe der nationalen Politik, Reformen politisch durchzusetzen. Erste Erfolge beispielsweise in Irland und in Portugal zeigen, dass dies gelingen kann.

Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat durchgerechnet, wie ein solcher europäischer Mechanismus auf Basis der diskutierten Modelle wirken würde. Die Simulation – bei all den Schwächen, die Simulationsberechnungen immer haben – ist hochinteressant mit Blick darauf, wer in welchem Umfang profitiert. Diese Berechnungen kommen zu dem Ergebnis, dass Deutschland für das Beispieljahr 2011 einen negativen Saldo von 5,4 Milliarden € zu verzeichnen gehabt hätte.

Setzt man die Berechnungen fort, blickt auf den gesamten Zeitraum von 2006 an, dann würde dieser negative Saldo bei knapp 20 Milliarden € liegen. Damit hätte Deutschland 30 % der gesamten Leistungen einer hypothetischen europäischen Arbeitslosenversicherung gezahlt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wäre geradezu ein AfD-Förderprogramm und Wasser auf die Mühlen aller Euroskeptiker, wenn wir ein System implementieren würden, das die Kosten der Arbeitslosigkeit auf diese Art und Weise umverteilt.

(Beifall von der CDU)

Zu Recht hätten viele Menschen in Deutschland kein Verständnis dafür, dass sie für falsche Arbeits- und Wirtschaftspolitik in anderen Ländern zur Kasse gebeten würden.

(Beifall von Dr. Stefan Berger [CDU])

Kollege Kern, als Sie am vergangenen Freitag im Europaausschuss den Gesandten des Botschafters Italiens zu dieser Idee gefragt haben, hat er Ihnen sehr zurückhaltend darauf geantwortet. In der Sprache der Diplomatie heißt das, dass auch er davon nicht sonderlich viel hält. Und dass sich auch die deutsche Bundesregierung ablehnend äußert, mag den Antragsteller nicht zurückhalten. Er sollte aber sehr wohl die Auffassung der Sozialpartner zu dieser Frage beachten, die sich in ihrer Ablehnung ebenfalls einig sind.

Die Europäische Union hat in Fragen der Sozialversicherung keine Kompetenz. Zunächst müssten die Verträge entsprechend geändert werden, und zwar einstimmig. Auch organisatorisch wäre dieses Vorhaben ein Riesenprojekt.

Aber völlig losgelöst von rechtlichen oder organisationspolitischen Fragestellungen halte ich ein europäisches System der Arbeitslosenversicherung auch politisch für fragwürdig. Denn, meine Damen und Herren, es setzt die falschen Anreize. Wenn Länder die Kosten der Arbeitslosigkeit nicht mehr alleine tragen müssen, sinkt doch auch der Druck zu Reformen. Und wenn es Länder gibt, die beispielsweise durch einen zu hohen Mindestlohn den Einstieg in den Arbeitsmarkt erschweren und die Arbeitslosigkeit der Geringqualifizierten steigt, dann darf es keinen europäischen Ausgleichsmechanismus geben, sondern dann muss der Druck steigen, etwas zu verändern.

(Beifall von der CDU und Dirk Wedel [FDP])

Meine Damen und Herren, mein Wunsch wäre, dass wir uns genauso intensiv und beharrlich mit Lösungen für die strukturellen Probleme in Europa beschäftigen würden. Umverteilungen und Transfers sind Scheinlösungen. Der Schlüssel für mehr Wachstum und Arbeit in Europa liegt in Strukturreformen. Viele Länder sind hier auf einem guten Weg, aber noch lange nicht am Ziel. Deshalb ist es auch unsere Aufgabe aus Deutschland heraus, die zu unterstützen, die diesen harten Weg gehen. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Danke schön, Herr Kerkhoff. – Für die grüne Fraktion hat das Wort nun Frau Maaßen.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Piratenfraktion hat mit ihrem Antrag gute Anregungen zu fiskalischen Ausgleichsmechanismen in Europa gegeben. Auch wir Grünen wollen den makroökonomischen Dialog in der EU weiterentwickeln.

In diesem Rahmen wollen wir ein Ausgleichsinstrument prüfen, um den wirtschaftlichen Abschwung in einem Mitgliedstaat abzufedern und zu verhindern, dass eine lokale Krise die gesamte Eurozone mitzieht. Hierbei ist auch für uns eine europäische Arbeitslosenversicherung denkbar, zum Beispiel als Basissicherung, die durch die weiter bestehenden nationalen Sicherungssysteme ergänzt wird.

Der Schwerpunkt bei uns liegt jedoch derzeit auf Prüfen und Diskutieren. Für uns ist es nicht so sonnenklar, wie im Piratenantrag behauptet, dass ein europäischer Ausgleichsmechanismus die nationalen Sicherungssysteme problemlos ergänzt.

(Beifall von Sigrid Beer [GRÜNE])

Ich verweise hier auf die Veröffentlichung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, die Herr Kerkhoff in seinem Redebeitrag schon zitiert hat.

Auf der Grundlage einer Simulationsrechnung zu den Verteilungswirkungen einer europäischen Arbeitslosenversicherung kommt das IAB zu dem Schluss, dass es zu nennenswerten Umverteilungswirkungen innerhalb Europas kommen würde, Deutschland zum größten Nettozahler würde und komplizierte Probleme bei der Verzahnung mit den bestehenden Sicherungssystemen der Mitgliedsländer entstehen würden.