Protocol of the Session on January 29, 2014

Konzerne die technologischen Entwicklungen zum Zwecke der Überwachung massiv missbrauchen.“

(Beifall von den PIRATEN)

Im Gegensatz zu der alten ebenso wie zu der neuen Bundesregierung haben die Unterzeichner dieses Aufrufes drei entscheidende Dinge verstanden.

Erstens. Die liberale Demokratie, in der wir leben und die uns so selbstverständlich erscheint, ist keinesfalls so stabil, wie wir uns das gerne glauben machen wollen. Demokratie kann nur so lange existieren, wie es Menschen gibt, die bereit sind, sich für Demokratie einzusetzen und sie aktiv mitzugestalten.

Das Prinzip des demokratischen Diskurses ist nach Jürgen Habermas der zwangslose Zwang des besseren Argumentes. Dieses Prinzip kann aber nur dann gelebt werden, wenn sich Menschen auch trauen, das zu sagen, was sie denken. In vollkommener Überwachung ist diese Freiheit des Denkens nicht mehr möglich.

Die massenhafte und anlasslose Überwachung unserer Kommunikation führt zu angepasstem Verhalten und zu Selbstzensur. Die Totalüberwachung der Gesellschaft beschneidet damit nicht nur unsere Freiheit, sondern unterhöhlt auch die Fundamente unserer Demokratie.

Die zweite Erkenntnis besteht darin, dass die totale Überwachung bereits Realität ist, und zwar mit verheerenden Folgen für demokratische Gesellschaften. Bereits im Juni letzten Jahres zog „SPIEGEL ONLINE“ in einem Artikel zur NSA-Affäre ein niederschmetterndes Fazit. Ich zitiere erneut:

„Nach dem derzeitigen Stand der Dinge sollte man sich bei allem, was man online – auch in vermeintlich privaten Bereichen – tut, fragen, ob es nicht eines Tages gegen einen verwendet werden könnte.“

Das ist kein Horrorszenario der Zukunft. Wir sind schon heute an diesem Punkt, an dem es nicht mehr ohne Weiteres möglich ist, zu sagen, was man denkt.

Umso wichtiger wäre es, würden unsere Regierungen endlich etwas unternehmen. Wir müssen die Kommunikation aller Menschen schützen. Wir müssen unsere eigene Sicherheitspolitik neu bewerten. Wer die NSA für diese Vorgänge kritisiert, aber Vorratsdatenspeicherung fordert, hat nicht verstanden, worum es im Kern geht.

(Beifall von den PIRATEN)

Die dritte Erkenntnis des Schriftstelleraufrufes ist die: Wir brauchen ein gemeinsames, ein internationales Vorgehen gegen die Überwachungsaffäre. Ich meine damit nicht ein bilaterales No-Spy

Abkommen. Im Ernst: Ein solches Abkommen unter den Geheimdiensten verhandeln zu lassen, ist doch

die hirnrissigste politische Idee zum Schutz unserer Privatsphäre, die man sich nur ausdenken kann.

(Beifall von den PIRATEN)

Wir wünschen uns, dass alle verantwortlichen Politiker diesen Aufruf der Schriftsteller lesen und verstehen. Er ist als Anleitung für eine politische Reaktion auf den größten Überwachungsskandal unserer Zeit wesentlich besser geeignet als vieles, was wir von Parteien auf Landes- und Bundesebene bisher gehört haben.

Der Entschließungsantrag der CDU ist so ein Beispiel. „Wir sind besorgt“ – das ist natürlich kein angemessener Ausdruck dafür, was wir derzeit empfinden. Und: Es wird die Verantwortung wieder vollständig auf EU-Ebene abgeschoben. Dabei geht uns das alle an: das Land und sogar jede einzelne Fraktion hier im Landtag.

Immerhin erkennen wir an, dass sich die CDU mit dem Aufruf auseinandergesetzt hat und sich grundsätzlich dem Aufruf anschließen kann. Es freut mich sehr, dass wir uns hier im Parlament mehrheitlich auf die Unterstützung dieses Aufrufes einigen konnten. Wenn jetzt SPD und CDU auch dafür sind, dann kann es ja wohl auch auf Bundesebene losgehen. Nicht wahr? – Vielen herzlichen Dank.

(Beifall von den PIRATEN)

Vielen Dank, Herr Kollege Schwerd. – Für die SPD-Fraktion spricht Herr Kollege Schneider.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der vorliegende Antrag der Piratenfraktion beschäftigt sich – wir haben es gerade gehört – mit dem Aufruf von über 1.000 Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die mit ihrem Appell eindrücklich darauf hinweisen, dass unsere Demokratie bedroht sei, weil Staaten und Konzerne die Menschen in einem ungeheuren Ausmaße überwachten.

Aus meiner Sicht ist diese Denkschrift auch in ihren drastischen Worten nachvollziehbar und richtig. Wir alle müssen uns mit ihr beschäftigen; denn wir alle sind angesprochen. Auch wenn der Piratenantrag darauf abzielt, die Landesregierung zu etwas aufzufordern, sind es zunächst einmal wir alle, die sich mit dem Problem befassen müssen. Wir, die Bürgerinnen und Bürger müssen das Problem und seine Ausmaße verstehen – davon war gerade schon die Rede –, bevor wir es lösen können.

Der Aufruf an Herrn Obama, das mit dem Abhören doch bitte schön sein zu lassen, reicht nicht. Einzelne Boykottaufrufe gegen Datenkraken wie Google oder Amazon verfehlen am Ende leider ihre Wirkung; denn am Anfang war das Internet und mit ihm wuchs die Menge an Daten, die über den gesamten

Erdball hin und her geschoben wird. Das war zunächst noch eine unschuldige Sache.

Viele erinnern sich noch an die Webcam Bilder der Kaffeemaschine, deren Füllstand das Interesse der ersten Internetgemeinde – so will ich sie mal nennen – weckte. Doch mit jeder neuen praktischen Anwendung und Geschäftsidee wuchs auch der Teil, den ich von mir selbst preisgab. Heute sind diese Daten längst zur inoffiziellen Währung des Internets geworden.

Jeff Jarvis hat bereits 2009 in seinem Buch „Was würde Google tun?“ darauf hingewiesen, dass er selbst – das ist eine persönliche Entscheidung – ganz offen mit seinen Daten umgeht, nicht aus Exhibitionismus etwa, sondern weil ein Verstecken ohnehin sinnlos sei und sich die Nutzen der digitalen Welt nur durch diese Freizügigkeit eröffneten. Kein Mehrwert im Netz, ohne dass man selbst von sich etwas preisgibt. Ohne Cookies keine User

Experience.

Viele Angebote, die wir nutzen, sind nur vordergründig kostenlos. Die Suchmaschine Google und das soziale Netzwerk Facebook lassen sich auf andere Weise honorieren. Wer sie nutzt, bezahlt tagtäglich mit seinen Daten. Das ist leider Fakt. Das zu erkennen und es den Menschen zu erklären ist eine unserer wichtigsten Aufgaben.

Die informationelle Selbstbestimmung, wie sie die Autoren zu Recht fordern, kann nur Erfolg haben, wenn ein Wissen über die Gefahren und Möglichkeiten der digitalen Welt besteht. Hier sehe ich unter anderem die Bibliotheken willens und in der Lage, Schulen und Familien bei der Vermittlung der nötigen Medienkompetenz zu unterstützen. Denn so, wie ich heute meinem Sohn auf dem Weg zur Schule erkläre, wie er die Straße überqueren muss, werde ich meinen Kindern auch sagen müssen, wo die Gefahren der virtuellen Welt lauern. Diese virtuelle Welt ist ein Spiegelbild der realen. Deshalb müssen unsere demokratischen Grundrechte in der virtuellen Welt ebenso durchgesetzt werden wie in der realen.

Manche Menschen sagen mir, dass das alles doch arg übertrieben sei, wer nichts zu verbergen habe, müsse doch auch nichts befürchten. Wenn das so ist, antworte ich dann, könnten wir zuhause doch auch genauso gut auf die Gardinen oder etwa auf die Rollos verzichten. Die Haustüre könnten wir gleich offenstehen lassen; denn wir haben doch nichts zu verbergen. Falsch! Wir alle möchten selbst bestimmen, was von uns in die Öffentlichkeit gerät.

Deshalb ist es richtig, Staaten und Konzernen genau auf die Finger zu schauen und ihnen auch auf die selbigen zu hauen, wenn sie erhobene Daten missbräuchlich nutzen. Ich unterscheide dabei bewusst zwischen der Erhebung von Daten und ihrer Auswertung; denn es wird auch in Zukunft Bereiche geben müssen, in denen staatliche Stellen Daten

erheben, ohne uns um Erlaubnis zu fragen. Das geschieht zum Beispiel, wenn ich beim Zu-schnellFahren geblitzt werde oder mein Auto im Halteverbot fotografiert wird. Es wäre doch zu schön, aber am Ende doch ziemlich absurd, wenn ich die Politesse anweisen könnte, meine Daten schnell wieder zu löschen, weil ich mit der Speicherung nicht einverstanden bin.

Wichtig in der ganzen Debatte scheint mir Ende doch zweierlei zu sein:

Erstens. Bekomme ich auf Nachfrage alle Daten ausgehändigt, die Staaten und Konzerne von mir gespeichert haben? Darf ich sie mir anschauen und werden sie dann – auf Verlangen und wenn dem keine übergeordneten Interessen entgegenstehen – auch wieder gelöscht?

Zweitens. Wie verhält es sich mit der Auswertung dieser Daten? Sehr viel wichtiger: Wie werden sie in Beziehung zueinander gesetzt? Wenn ich bei einem Internetanbieter ein Buch über die Immunschwächekrankheit Aids gekauft habe und tags zuvor noch beim Hausarzt war – was sagt das meinem Arbeitgeber?

Fragen über Fragen, die der Aufruf der Schriftsteller nicht beantwortet. Und das muss er auch gar nicht. Im Gegenteil ist der Appell ein wichtiger Denkanstoß zur richtigen Zeit, übrigens von einer Berufsgruppe, der viele nicht zugetraut hätten, einen derart dezidierten Blick in die Netzpolitik zu haben.

Gut, dass wir uns heute mit der Frage der digitalen Rechte beschäftigen. Doch schon das kurze Eintauchen in die Materie zeigt, dass wir die Schutzpflichten noch viel intensiver inhaltlich, technisch und juristisch durchdringen müssen. Es gilt, Interessen abzuwägen – siehe mein Beispiel von der Politesse – und konkrete Vorstellungen zu erarbeiten. Wir in Nordrhein-Westfalen werden weiter am Thema arbeiten. Wie detailreich und kompliziert das ist, habe ich versucht, Ihnen heute zu skizzieren. Ich wünsche uns deshalb gemeinsam viel Erfolg sowie ein herzliches Glückauf! – Danke schön.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vielen Dank, Herr Kollege Schneider. – Für die CDU-Fraktion hat Herr Kollege Prof. Dr. Dr. Sternberg das Wort.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Nicht nur in Deutschland gab es früher einmal in den Telefonzellen die Parole „Achtung! Feind hört mit!“ Gemeint war damals das Abhören von Telefonen. Da sind wir heute viel weiter. Heute geht es nicht mehr nur um das Telefon, sondern um eine unvergleichlich viel breitere Form digitaler Informationen – im Internet, über soziale Netz

werke oder auf anderen Kommunikationswegen verbreitet.

Seit ein ehemaliger Mitarbeiter des amerikanischen Geheimdienstes seine Kenntnisse weitergegeben hat, wissen wir, dass auch der Freund mithört – ganz zu schweigen von anderen Staaten, mit denen wir weniger verbunden sind. Es sollte doch niemand glauben, dass nur die USA Daten sammelten.

Eines muss man natürlich festhalten: Auch geheimdienstliche Arbeit ist in demokratischen Staaten notwendig. Die Aufdeckung verbrecherischer Aktivitäten wird nie ohne verdeckte Ermittlungen möglich sein. Wir sind den Vereinigten Staaten dankbar dafür, dass die Sauerland-Attentäter ihren grausamen Plan nicht vollenden konnten, weil wir Informationen aus Amerika bekommen haben. Das gilt auch für andere Fälle.

Trotzdem ist die Vertraulichkeit des Privaten etwas sehr Wichtiges; denn es geht um eine der wesentlichen Grundlagen unserer freiheitlichen Demokratie. Deshalb muss eine Ermittlung immer in einem angemessenen, kontrollierten Verhältnis zu den wesentlichen Grundrechten stehen.

Meine Damen und Herren, der Philosoph Ernst Bloch, der 1961 aus der DDR geflohen ist – einstmals selber überzeugter Marxist –, gab drei Gründe an, warum er im Westen geblieben ist: das Briefgeheimnis, das Telefongeheimnis und das Wissen, dass, wenn es um morgens um 6 Uhr klingelt, es nur der Milchmann sein kann.

Diese Errungenschaften der freiheitlichen Demokratie gilt es zu verteidigen. Dazu gehören auch der Persönlichkeitsschutz und das Recht auf eine eigene Privatsphäre.

Nun liegt eine Resolution von Schriftstellern vom 9. Dezember letzten Jahres gegen die Verletzung des Persönlichkeitsrechts vor. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ hat sie abgedruckt. 31 weitere große Zeitungen haben sie am selben Tag veröffentlicht. Sehr schnell haben über 1.000 Schriftsteller diese Resolution unterzeichnet. Ursprünglich war sie von drei deutschsprachigen Schriftstellern – Ilija Trojanow, Juli Zeh und Eva Menasse – verfasst. Wenn man sich heute anschaut, wer sie alles unterschrieben hat, liest sich das wie ein Who’s who der internationalen Literaturszene. Auch große Organisationen haben sich angeschlossen – zum Beispiel die Deutsche Filmakademie, die ihre Mitglieder zur Unterzeichnung aufgerufen hat.

Was dort über eine massenhafte Überwachung steht, ist zum wesentlichen Teil sehr richtig.

Hier liegt nun ein Antrag der Piraten vor, mit der die Landesregierung aufgefordert werden soll, sich dieser Resolution anzuschließen. Ich bin nicht ganz sicher, ob es sinnvoll ist, das Parlament damit zu befassen. In der Sache geht es aber um etwas sehr

Wichtiges; denn es geht um die informationelle Selbstbestimmung.

Die informationelle Selbstbestimmung ist auch nicht alleine von der NSA bedroht. Es ist sogar ein Kennzeichen freier Gesellschaften, dass wir hier so offen darüber diskutieren können und entsprechend informiert werden. Es handelt sich um ein Problem weit über die geheimdienstlichen Aktivitäten eines befreundeten Landes hinaus. Hier geht es um die massenhafte Erfassung von Informationen und die Erstellung von Persönlichkeitsprofilen von Nutzern von Daten und Verbindungen, die zumeist unter einem wirtschaftlichen Gesichtspunkt erfasst und benutzt werden.