Ich will vorweg auch sagen: Ich werbe dafür, das nicht geringzuschätzen oder kleinzureden. Da wird in einer hohen Qualität Bildung angeboten.
Dabei findet auch die besondere Lebenssituation dieser Kinder und Jugendlichen Berücksichtigung. Der Kollege Bock hat das ausführlich dargestellt. Die Lernwerkstatt bietet allen Kindern und Jugendlichen pädagogischen Raum während des Aufenthalts, um die Kompetenzen zu vermitteln, die sie befähigen, in Deutschland - einem anderen Land - eine Schule zu besuchen.
Jetzt aber müssen wir feststellen - das ist auch unbestritten -, dass sich durch eine erheblich zunehmende Verweildauer in den Erstaufnahmeeinrichtungen der gesamte Rahmen verändert. Deshalb ist es auch richtig, die derzeitigen Bildungsangebote in den Erstaufnahmeeinrichtungen für alle dort untergebrachten Kinder und Jugendlichen weiterzuentwickeln. Dabei ist es auch notwendig, eine engere Anbindung an die örtlichen allgemeinbildenden Schulen vorzusehen.
Übrigens habe ich in der Rede von Frau Liebelt und der Rede von Herrn Bock keinen Widerspruch gesehen. In dem Ziel, in den Erstaufnahmeeinrichtungen schnellstmöglich einen Unterricht zu haben, der durch Schulen gewährleistet wird, sind wir uns doch einig. Schulpflicht oder nicht ist hier doch erst einmal nicht die Frage. Wir haben in den Erstaufnahmeeinrichtungen ein Angebot, und das geht zunächst auch ohne eine Schulgesetzänderung. Im Anschluss wird man dann sehen, ob auch eine Änderung der ergänzenden Bestimmungen des Schulgesetzes notwendig ist. Aber zunächst einmal gilt es, dieses Angebot zu schaffen.
Das hat nach meiner Einschätzung mehrere Vorteile. Die Lehrkräfte gehören künftig zur Regelschule. In der Schule eingesetzte Lehrmaterialien können auch für den Standort genutzt werden. Übrigens kann auch der Austausch zwischen den Lehrkräften der Schülerinnen und Schülern der Regelschule und den Lehrkräften der Kinder und Jugendlichen an den Standorten deutlich intensiviert werden.
Die Grünen fordern in ihrem Antrag Unterricht und Schule für die Kinder und Jugendlichen nach drei Monaten. Aber wir gewährleisten Unterricht und Schule für alle dort untergebrachten Kinder und Jugendlichen bereits vom ersten Tag an, für die Dauer des Aufenthalts in der Erstaufnahmeeinrichtung.
Mein Ziel und mein Wunsch ist, dass wir mit Beginn des nächsten Schuljahres mit einem angepassten Bildungskonzept in den Erstaufnahmeeinrichtungen starten, um für die Kinder und Jugendlichen eine Beschulung entsprechend den Standards in Regelschulen zu gewährleisten und damit eine weitere Verbesserung des Unterrichts in den Erstaufnahmeeinrichtungen umzusetzen.
Das gilt es auch unabhängig von dem Entschließungsantrag umzusetzen - der aber selbstverständlich gebührend diskutiert werden soll.
Meine Damen und Herren, die Kinder und Jugendlichen in der Landesaufnahmebehörde Niedersachsen werden eine bestmögliche Allgemeinbildung entsprechend ihres individuellen Lernstands durch sofortige Anbindung an das allgemeinbildende Schulsystem erhalten.
Wir setzen uns für Chancengleichheit und Bildungsteilhabe für jedes Kind und für jeden Jugendlichen ein, und zwar völlig unabhängig vom Aufenthaltsstatus. Ehrlich gesagt: Ich finde, das gebietet schon der Anstand.
Vorgesehen ist eine Überweisung an den Kultusausschuss. Wer dem so zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Antrag an den Kultusausschuss überwiesen.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wünschen Ihnen jetzt eine angenehme Mittagspause. Um 15 Uhr setzen wir die Sitzung mit dem Tagesordnungspunkt 21 fort.
Tagesordnungspunkt 21: Abschließende Beratung: Feierliche Gedenkstunde zum Jahrestag des 28. August 1941 - Antrag der Fraktion der AfD - Drs. 18/599 - Beschlussempfehlung des Ausschusses für Inneres und Sport - Drs. 18/3155
Wir treten in die Beratung ein. Als erster Redner möchte für die antragstellende AfD Herr Kollege Christopher Emden hier sprechen. Herr Emden, bitte sehr!
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Am 28. August 1941 erließ der damalige sowjetische Diktator Josef Stalin den Befehl, wonach die Menschen, die in der Sowjetunion gelebt haben
und deutscher Herkunft waren, umgesiedelt wurden. Dies war jedoch keine Umsiedlung im klassischen Sinne, sondern es war eine Deportation. Die Deutschen, die damals in der Sowjetunion lebten, wurden zusammengetrieben, in Viehwaggons untergebracht und nach Sibirien und Zentralasien verbracht. Dort wurden sie in Lagern untergebracht, hatten teilweise noch nicht einmal eine Behausung und mussten in Erdlöchern leben und arbeiten. Familien sind auseinandergerissen worden, eine nicht bekannte Anzahl dieser ungefähr 850 000 betroffenen Deutschen aus Russland sind dem Martyrium, das auf diesen Stalin-Befehl hin folgte, zum Opfer gefallen. Die Menschen konnten erst Ende des letzten Jahrhunderts diese Gebiete wieder verlassen. Sie sind dann als Spätaussiedler nach Deutschland gekommen und haben hier eine neue, alte Heimat gefunden, traumatisiert von den schrecklichen Erlebnissen, die sie in den Jahren und Jahrzehnten zuvor erleiden mussten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch diese Menschen sind Kriegsopfer. Sie sind auch Opfer des Angriffskriegs Nazideutschlands gegen die Sowjetunion. Sie sind also auch ein Bestandteil jener, an die wir erinnern sollten.
Diese Menschen haben aber nicht nur ein Trauma. Die Deutschen aus Russland haben im Endeffekt zwei Traumata, mit denen sie sich haben auseinandersetzen müssen. Denn als sie hierher kamen, wurden sie nicht selten als Fremde betrachtet, häufig waren sie noch nicht einmal mehr des Deutschen mächtig, weil man sich in den Jahrzehnten davor bemühte, sie das Deutsche vergessen zu machen. Sie mussten vielfach die Sprache neu lernen, sind in ein für sie inzwischen fremdes Land gekommen und haben hier vielfach nicht die Willkommenskultur erfahren, die sie eigentlich hätten erfahren müssen. Insofern gab es ein weiteres Trauma.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Schicksal der Deutschen aus Russland gehört zur jüngeren deutschen Geschichte unabdingbar dazu. Es spielt aufgrund dieser beiden Aspekte - zunächst das Martyrium der Vertreibung, dann die Umsiedlung, die Rückkehr nach Deutschland - sogar eine ganz gewichtige Rolle. Insofern, meinen wir von der AfD-Fraktion, gebührt diesen Menschen auch eine entsprechende Bedeutung in unserer Erinnerungskultur. Die vermissen wir bisher.
In der Diskussion wurde damals eingewandt, es gebe ja in Friedland immer Anfang September Feierlichkeiten. Meine Damen und Herren, es ist aber ein Unterschied, ob wir im Landtag eine feierliche Gedenkstunde durchführen oder ob es ein feierliches Zusammentreffen in Friedland gibt. Wie Sie wissen, gibt es regelmäßig Gedenkstunden und Veranstaltungen im Landtag, um Bevölkerungsgruppen oder auch einzelne Menschen besonders zu würdigen und ihrer zu gedenken.
Das, meine Damen und Herren, sollte es auch für die Deutschen aus Russland geben, zumal Friedland - bei allem Respekt und aller Anerkennung für das, was dort geleistet wird - in der Wahrnehmung der Bevölkerung nicht den Stellenwert hat, den es eigentlich haben sollte. Insofern hat es eben doch eine ganz andere Bedeutung, wenn hier eine Gedenkstunde durchgeführt wird.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Schicksal der Deutschen aus Russland hat für uns hohe Priorität. Wir haben - das ergab die Ausschussberatung - diesen Gedenktag bisher nicht durchbekommen. Sie haben unseren Antrag abgelehnt und wollen ihn auch heute ablehnen. Das ist uns bekannt. Wir nehmen das zur Kenntnis.
Wir haben im September letzten Jahres unseren eigenen Gedenktag durchgeführt, und ich habe von vielen, im Übrigen auch von nicht AfD-nahen Deutschen aus Russland, sehr viel Anerkennung und Zuspruch dafür erfahren. Daher darf ich noch einmal appellieren - auch wenn Sie unseren Antrag heute ablehnen -: Lassen Sie uns gemeinsam dafür eintreten, dass die Erinnerung an das schwere Schicksal der Deutschen aus Russland in der deutschen Erinnerungskultur eine größere Rolle spielt, als das bisher der Fall war!
Vielen Dank, Herr Kollege Emden. - Jetzt hat sich für die SPD-Fraktion die Abgeordnete Doris Schröder-Köpf gemeldet. Frau Schröder-Köpf, ich erteile Ihnen das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das historische Erinnern ist bekanntlich die Kehrseite des Vergessens. Das Erinnern stärkt das geistige Fundament unserer freiheitlichen und wehrhaften
Demokratie für die Völkerverständigung in Europa. Denken wir nur an die bekannten Worte, mit denen Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner historischen Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes im Jahr 1985 eine neue Erinnerungskultur einforderte! Ich zitiere: „Wer... vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart.“ Der historische Rückbezug auf erlittenes Schicksal spielt aber auch für bestimmte gesellschaftliche Gruppen eine entscheidende, eine oft identitätsstiftende Rolle für Gegenwart und Zukunft, so auch für die Deutschen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, blicken wir zurück! Am 22. Juni 1941 überfiel die Wehrmacht die Sowjetunion. Die Deutschstämmigen in der Sowjetunion gerieten daraufhin bei den stalinistischen Machthabern noch stärker unter Generalverdacht und wurden innerhalb weniger Wochen aus ihren angestammten Siedlungsgebieten nach Osten verbracht. Infolge des berüchtigten Erlasses des Obersten Sowjets vom 28. August 1941 wurden Familien auseinandergerissen, Menschen systematisch entrechtet, deportiert, unterdrückt und getötet. Mit dem sogenannten Stalin-Erlass endete die fast 200-jährige Ansiedlungsgeschichte der Wolgadeutschen und anderer deutscher Gemeinschaften, die einst in Russland eine neue Heimat gefunden hatten. Ihr Weg wurde damit schicksalhaft bereitet für Zwangsumsiedlungen aus den Wolgagebieten in die Verbannung nach Sibirien, Kasachstan, Kirgistan oder Tadschikistan. Mehr als 850 000 Menschen waren von den Zwangsmaßnahmen betroffen, erlebten Schreckliches in Lagern, viele fanden einen grausamen Tod.
Die Folgen der Deportation wirken bis heute. Deshalb ist der 28. August 1941 ein Tag des kollektiven Traumas, auch für die Nachfahren. Aus der Forschung zu Holocaust-Überlebenden weiß man, dass kollektive Traumata durch Verfolgung, Vertreibung, Krieg und Heimatverlust an die folgenden Generationen weitergegeben werden. Diese Weitergabe, so die Soziologin Uta Rüchel, geschehe vor allem dann, wenn die Erlebnisse beschwiegen würden und nicht Thema einer etablierten Erinnerungskultur seien.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, genau deshalb ist das kollektive Erinnern im Sinne der gemeinschaftlichen Selbstvergewisserung so wichtig, und genau deshalb nehmen wir uns in Niedersachsen das Gedenken an die hunderttausendfach erlittenen Schicksale so zu Herzen. Mehr noch: Wir
erkennen diese Geschichte als einen wichtigen Teil der niedersächsischen Geschichte an. Mit den Menschen kommt eben auch ihre Geschichte - untrennbar!
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die demokratischen Fraktionen in diesem Haus stehen zu dieser Geschichte und stehen zu dieser Verantwortung. Ich weise hier nur auf den Antrag „Vertreibung und Gewalt nicht vergessen - Leistungen der deutschen und jüdischen Zugewanderten aus Russland anerkennen“ hin, den wir, die Fraktionen von SPD, CDU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, im Oktober vergangenen Jahres gemeinsam beschlossen haben.
Seit vielen Jahren machen sich sämtliche niedersächsische Landesregierungen für die Belange der Deutschen aus Russland bzw. aus den ehemaligen Sowjetrepubliken stark. In Niedersachsen unterstützen wir die Deutschen aus Russland dabei, ihre kulturelle Identität zu wahren. Durch ihre beispielhafte Integrationsgeschichte sind sie Vorbilder für unsere ganze Gesellschaft und leisten seit vielen Jahren nicht nur einen wichtigen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung unserer Heimat, sondern auch für den Zusammenhalt und das Miteinander.
Sehr geehrte Damen und Herren, ganz konkret unterstützt die Landesregierung mit jährlich 16 000 Euro Projekte im Bereich der Aussiedler- und Spätaussiedlerarbeit. Zudem - und das freut mich für die Landsmannschaft und ihre Vorsitzende, Frau Lilli Bischoff, ganz besonders - sind im neuesten Haushalt des Innenministeriums jährlich 30 000 Euro veranschlagt, um die wertvolle Arbeit der Landsmannschaft durch eine hauptamtliche Geschäftsführungsstelle zu unterstützen. Frau Viktoria Kohan hat ihre Arbeit am 1. März 2019 aufgenommen. Ich durfte sie bereits kennenlernen. Ich bin sicher, wir alle werden zusammen hier in diesem Hause viel Gutes auf den Weg bringen.
Sehr geehrte Damen und Herren, kein Ort in Niedersachsen ist mit der Geschichte von Flucht, Vertreibung, Heimatverlust und Neuanfang so symbolträchtig verbunden wie Friedland. Denn dort begann für Millionen von Menschen ein neues Leben - für Hundertausende Russlanddeutsche das Tor zur Freiheit. Deshalb befindet sich dort auch der am besten geeignete Ort, um dem historischen Schicksal dieser heute größten Zuwanderergruppe in Niedersachsen zu gedenken.