Insgesamt gesehen, handelt es sich um ein kraftvolles Paket, das die Sprachförderung bei uns im Land in den Mittelpunkt stellt und vielen Tausend Flüchtlingen - Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen - die Möglichkeit geben soll, sich schnell in unsere Gesellschaft hineinzufinden und sich hier persönlich zu entwickeln. Niedersachsen wird mit diesem Sprachförderpaket, das vielen, vielen Menschen helfen wird, seiner Verantwortung gerecht, meine Damen und Herren.
Ich finde es ausgesprochen positiv, dass die Bundesregierung jetzt, so ihre Beschlüsse, ebenfalls diese Arbeit mit hohen Beträgen unterstützen und die Bundesagentur für Arbeit damit in den Stand der Handlungsfähigkeit versetzen wird. Die Landesregierung unterstützt die Integration in den Arbeitsmarkt tatkräftig. Seit zwei Monaten gibt es ein gemeinsames Projekt mit der Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit. In den Landesaufnahmeeinrichtungen wird auf freiwilliger Basis eine Kompetenzerfassung der Asylsuchenden vorgenommen und damit von Anfang an ein Kontakt zwischen ihnen und der Agentur für Arbeit bzw. den Jobcentern hergestellt. Bei einem Erfolg dieses Modellversuches, auf den ich hoffe, wird dieses Beispiel ganz sicher Schule machen. Wir werden das jedenfalls in Niedersachsen sehr energisch weiterverfolgen.
Oder lassen Sie mich ein anderes Beispiel nennen: Viele Handwerksunternehmen klagen über Schwierigkeiten, Lehrstellen zu besetzen. Derzeit reden wir gemeinsam mit den Handwerkskammern darüber, wie wir junge Flüchtlinge gerade für solche Ausbildungen qualifizieren und ihnen damit den Eintritt in den Arbeitsmarkt verschaffen können.
Eines muss uns klar sein. Die hohe Zuwanderung ist auch eine Chance für Niedersachsen. Sie ist eine gute Gelegenheit für unsere Wirtschaft, den Fachkräftebedarf durch junge, gut qualifizierte Arbeitskräfte zu decken. Um es ganz deutlich zu sagen: Niedersachsen braucht auch in Zukunft eine arbeitsmarktorientierte Zuwanderung. Das ist die Grundlage für den Erfolg vieler unserer Unternehmen. Insofern, meine sehr verehrten Damen und Herren, müssen wir die jetzt bestehenden Chancen beherzt nutzen. Das ist gut für die Zukunft unserer Unternehmen.
Ich habe jetzt einiges über die Menschen gesagt, die zu uns kommen, und darüber, wie wir staatlicherseits mit ihnen umgehen sollten und umgehen werden. Das ist gewiss wichtig.
Ich erinnere mich an einen Besuch im hannoverschen Oststadt-Krankenhaus vor etwa zwei Wochen. Es handelt sich dabei wohl um die größte kommunale Flüchtlingsunterkunft in Niedersachsen mit etwa 750 Bewohnerinnen und Bewohnern. Diese Flüchtlinge werden durch sage und schreibe 250 ehrenamtlich tätige Bürgerinnen und Bürger unterstützt,
die sich in ganz kurzer Zeit gemeldet haben, die Sprachunterricht geben, die bei Behördengängen unterstützen, die Kinder betreuen und die Fahrräder reparieren. In der Kleiderkammer wurde mir davon berichtet, man werde der vielen Kleiderspenden aus der Bevölkerung kaum Herr. Ein Hinweis war übrigens auch: Wir kriegen sehr viel Damenbekleidung, aber bei der Struktur der Bewohner bräuchten wir mehr Männerbekleidung. - Auch das ist ein Hinweis, den man vielleicht weiterverfolgen sollte.
Dieser überwältigenden Hilfsbereitschaft, die wir in Niedersachsen an allen Ecken und Enden finden, steht aber der Brandanschlag in Salzhemmendorf gegenüber. Dass ein Molotowcocktail in ein Zimmer geworfen wird, das von einer Frau mit drei kleinen Kindern bewohnt wird, hat bei vielen von uns - auch bei mir - tiefes Erschrecken ausgelöst. Ich hatte Gelegenheit, mit der Frau zu sprechen. Ihre Familie hat in ihrem Heimatland, in Simbabwe, schlimmste Gewalterfahrungen machen müssen. Dass diese Frau und ihre Kinder bei uns wiederum solche Erfahrungen machen müssen, finde ich, meine sehr verehrten Damen und Herren, unerträglich!
Für Niedersachsen ist dieses Verbrechen ein Rückschlag - keine Frage! -, aber es ist nicht typisch für die Gesellschaft in Niedersachsen. Bezeichnend für die Aufnahmebereitschaft, die in unserem Land überall spürbar ist, sind Tausende von Menschen, die noch am selben Abend in Salzhemmendorf demonstriert haben. Kennzeichnend für unser Land sind nicht gewaltbereite Rechtsextremisten, sondern Bürgerinnen und Bürger, die ohne jedes Aufheben Tag für Tag in allen Teilen unseres Landes helfen und unterstützen. Salzhemmendorf ist nicht Heidenau, Niedersach
Ich bin stolz darauf, dass in unserem Land die Bevölkerung Gesicht zeigt, Rückgrat beweist und keinen Zweifel aufkommen lässt: Ausländerfeindlichkeit, Fremdenhass, Rechtextremismus haben in Niedersachsen nichts zu suchen, meine sehr verehrten Damen und Herren!
(Lebhafter Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN Dennoch: Wir werden wachsam bleiben müssen. Rechtsextremes Denken ist und bleibt eine Her- ausforderung für uns, und es sind viele rechte Agitateure und Provokateure unterwegs. Dagegen hilft zweierlei: ein handlungsfähiger Staat und eine wache Zivilgesellschaft. - Auch insofern war Salz- hemmendorf für mich ein Lehrstück. Noch an dem- selben Tag ist es der Polizei gelungen, die Täter zu packen. Ich habe mich über diesen Fahn- dungserfolg sehr gefreut, weil er die Leistungsfä- higkeit unserer Polizei und die Handlungsfähigkeit unseres Staates unter Beweis gestellt hat. (Starker Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Und wir brauchen eine aktive Zivilgesellschaft. Auch dafür war Salzhemmendorf ein Beispiel. Ohne einen Nachbarn, der sofort nach dem Brandanschlag, Sekunden danach, Polizei und Feuerwehr verständigt hat, ohne Hinweise aus der Bevölkerung wären die Täter wohl nicht so schnell überführt worden. Wache Bürgerinnen und Bürger, die Mitverantwortung übernehmen und aufpassen, sind vielleicht der beste Schutz gegen Rechtsextremismus. Ich danke auch in dieser Hinsicht allen, die in Salzhemmendorf geholfen haben, meine Damen und Herren.
In diesem Zusammenhang gestatten Sie eine Bemerkung am Rande: Derzeit schwebt vor dem Bundesverfassungsgericht ein Antrag der Bundesländer, die NPD zu verbieten. Nach allem, was ich weiß, sind viele der Umtriebe, mit denen die Rechten derzeit versuchen, die Flüchtlingsnot für ihre Zwecke zu missbrauchen, auch der NPD, ihrem Umfeld und ihren Akteuren zuzuschreiben. Ich bin froh darüber, dass wir - gegen viele Kritik - an diesem Verbotsantrag festgehalten haben, und ich bin
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vom „hellen Deutschland" und von „Dunkeldeutschland" hat der Bundespräsident kürzlich gesprochen. Stimmt, auch in Niedersachsen kennen wir beide Seiten. Wir sind keine Insel der Seligen. Das helle Niedersachsen ist aber um ein Vielfaches größer, wichtiger, prägend für unser Land als die dunklen Facetten. Niedersachen präsentiert sich in diesen Tagen mitfühlend, mitmenschlich und weltoffen. Das ist das moderne Niedersachsen im Spätsommer 2015! Und unter dem Eindruck der überwältigenden Reaktion vieler Bürgerinnen und Bürger am vergangenen Wochenende in ganz Deutschland füge ich hinzu: Ich bin froh und stolz, Bürger dieses Landes zu sein, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Wir erleben derzeit eine große, eine sehr große Herausforderung für Staat und Gesellschaft. Die Bundeskanzlerin hat recht, wenn sie sagt: Wir schaffen das! - Das gilt für das Jahr 2015 und die damit verbundenen Aufgaben. Richtig ist aber auch: Unser Land wird einen solchen Druck wie in diesen Tagen nicht auf unabsehbare Zeit aushalten können. Alle Anstrengungen der Zivilgesellschaft, der Kommunen, des Landes und des Bundes sind dringend notwendig. Sie werden aber eines nicht können, nämlich das Problem grundsätzlich zu lösen. Ohne eine wirksame internationale Politik müssen alle unsere Anstrengungen Stückwerk bleiben. Dessen müssen wir uns bewusst sein. Es muss darum gehen, eine Situation herzustellen, in der Menschen in ihrer eigenen Heimat bleiben und dort ein menschenwürdiges Leben führen können, meine sehr verehrten Damen und Herren. Das ist die zentrale Aufgabe!
Für die Europäische Union ist das gegenwärtige Flüchtlingsdrama ein Debakel. Ich bin Kommissionspräsident Juncker sehr dankbar für seine deutlichen Worte, die er gestern gefunden hat.
Es ist nicht hinzunehmen, dass sich die Bundesrepublik und einige wenige andere EU-Mitgliedstaaten ihrer humanitären Verantwortung stellen, alle anderen aber so tun, als ob sie damit nichts zu tun hätten. In Deutschland suchen inzwischen mehr als 40 % aller europäischen Flüchtlinge Zuflucht. Die Flüchtlinge seien ein deutsches Problem, hat der ungarische Ministerpräsident Orban in der letzten Woche kalt festgestellt. - Was für ein widerlicher Zynismus!
Die Flüchtlingsnot zu leugnen, mit ihr nichts zu tun haben zu wollen, das ist eine größere Gefahr für den europäischen Gedanken als griechische Finanzprobleme. Davon bin ich fest überzeugt.
Eine faire Verteilung der Menschen, die in Not zu uns kommen, ein fairer Umgang mit ihnen, eine Harmonisierung der Flüchtlingspolitik - das ist überfällig. Die Notwendigkeit zu einer nachhaltigen Entwicklung in den Herkunftsstaaten und die Bekämpfung der Fluchtursachen - das ist selten so deutlich geworden wie in diesen Tagen -: Das muss die Hauptaufgabe der europäischen Außenpolitik sein. An dieser Stelle brauchen wir dringend Bewegung, damit wir auch in Niedersachsen wieder zu normalen Verhältnissen zurückkehren können, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Offene Grenzen innerhalb der Europäischen Union - das ist der größte Erfolg Europas. Wer diesen Erfolg und damit auch Europa und seine Einigung nicht aufs Spiel setzen will, der muss mit allem Nachdruck für eine gemeinsame faire Flüchtlingspolitik kämpfen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich hierzu einmal aus einer E-Mail zitieren, die mich in diesen Tagen erreicht hat und die, wie ich finde, die Aufgaben auf den Punkt bringt. Sie stammt von Professor Wolfgang Nebel, den manche von Ihnen kennen werden. Er ist Professor an der Universität Oldenburg und leitet das Informatikinstitut OFFIS. Ich zitiere:
entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie hiermit belästige, aber es bewegt mich einfach: Sind gerade auf unserem Sommersegelur
laub in Symi (kleine griechische Insel) nahe der Türkei. Viele Flüchtlinge aus Syrien - ich nenne sie eher Vertriebenen aus ihrer Heimat. Mit einigen haben wir gesprochen. Ein besonders aufgeweckter junger Mann (Chefbuchhalter einer Bank) war Beispiel. Bei solchen Begegnungen werden nüchterne Zahlen zu Menschen und Gesichter zu Stimmen mit sehr persönlichen Tragödien. Viele wollen nach Deutschland über die bekannt gefährliche Route Mazedonien, Ungarn...
Wann schafft es die Politik, direkt an der EUGrenze eine Erfassung und dann für die Asylbewerber mit realistischer Chance auf Anerkennung einen geordneten, legalen und sicheren Weg in ein Zielland zu ermöglichen?“
„Die Vorstellung, dass dieser junge Mann, seine Familie oder andere der sehr bedauernswerten Menschen hier in einem Gefriertransporter ersticken könnten, ist unerträglich!!!"
Ich stimme Herrn Nebel voll und ganz zu. Darum muss es gehen, wenn wir die Probleme lösen wollen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Niedersachsen war von Anfang seiner Geschichte an ein Land der Flüchtlinge. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren mehr als ein Viertel unserer Bevölkerung Vertriebene. Es gibt unzählige Beispiele dafür, dass diesen Menschen am Ende ihrer Flucht 1945 bei uns in Niedersachsen nicht ausgestreckte Arme entgegengehalten wurden, sondern dass ihnen in vielen Fällen Distanz und Ablehnung begegneten. In der Familiengeschichte von vielen von uns gibt es dafür zahlreiche Beispiele. Viele Vertriebene empfanden ihre neue Heimat damals als eine kalte Heimat. Gleichzeitig wissen wir heute: Es waren vor allem Vertriebene, die für den Wiederaufbau unseres Landes unersetzbare Beiträge geleistet haben. Diese Erfahrung ist - wenn ich das so sagen darf - Teil unserer niedersächsischen DNA.
Heute sind wir wieder - unter ganz anderen historischen Bedingungen - mit Menschen konfrontiert, die aus tiefer Not zu uns kommen, die Zuflucht suchen. Heute können wir in Niedersachsen zei
gen, dass wir es besser machen können, dass eine wohlhabende Gesellschaft versucht, zu helfen, wo sie helfen kann, dass der Staat energisch und weitsichtig handelt und dass wir gemeinsam unsere offene Gesellschaft verteidigen, der wir alle miteinander sehr, sehr viel zu verdanken haben.