Protocol of the Session on April 5, 2017

Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Birkner, ich möchte Ihnen für die differenzierte Art und Weise, mit der Sie genau diese Fragestellung angegangen sind, ausdrücklich danken. Das sind juristisch spannende Fragen. Ich glaube, dass die Religionsfreiheit nur begrenzt berührt ist, aber das allgemeine Freiheitsrecht, sich zu kleiden, wie man möchte, mag allemal berührt sein, und das muss man dann eben abwägen.

Insofern bedanke ich mich, dass Sie eine differenzierte Betrachtung vornehmen, weil die Argumentation von Frau Tiemann aus meiner Sicht nahezu absurd ist. Ich kann es nicht mehr ertragen, dass hier permanent argumentiert wird: „Das sind doch nur ein paar wenige.“ Wir haben dies schon bei der Schülerin in Belm gehört, die, soweit ich weiß, nach wie vor vollverschleiert zum Unterricht geht: „Das ist doch nur eine von 80 000. Da macht es dann doch nichts.“

(Anja Piel [GRÜNE]: Das hat keiner gesagt: Das macht dann nichts!)

- Genau das haben Sie zum Ausdruck gebracht.

Stellen Sie sich bitte vor, wir hätten einen Tagesordnungspunkt weiter vorne bei der Frage des Klagerechts für Tierschutzverbände argumentiert, das sind doch nur einige wenige Tiere, die da gequält werden. Dafür braucht man das doch nicht.

(Anja Piel [GRÜNE]: Sie vergleichen jetzt nicht im Ernst diese Fälle mit Tie- ren, Herr Nacke? - Petra Tiemann [SPD]: Was ist das denn für eine Hal- tung?)

Was wäre bei Ihnen los? - Ihr Wertekanon stimmt in dieser Frage nicht! Das ist das Problem, mit dem Sie hier zu kämpfen haben.

(Beifall bei der CDU)

Jetzt ist die Frage, ob sich Herr Dr. Birkner angesprochen fühlt.

(Dr. Stefan Birkner [FDP]: Ja, aber ich möchte nicht reagieren!)

- Er möchte nicht.

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat sich jetzt Herr Kollege Belit Onay zu Wort gemeldet. Bitte!

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte doch zumindest mit einem Satz auf die Frage der Erheblichkeit der Zahlen zu sprechen kommen.

Es gibt keine wirklich verlässlichen Zahlen dazu, wie viele Frauen die Vollverschleierung praktizieren.

(Zuruf von der CDU: Genauso ist es!)

Die Zahl wird aber sehr, sehr gering sein. Ich habe die geschätzte Zahl 300, aber auch andere Zahlen gehört.

Letztendlich ist bei dieser Debatte aber das Problem - und es ist auch in der öffentlichen Wahrnehmung so -, dass dies bei vielen Bürgerinnen und Bürgern mit der gesamten Islamdebatte vermengt wird. Unter dieser Debatte leiden auch 4 Millionen Muslime in ganz Deutschland, weil diese Vermengung stattfindet. Die Differenzierung, die ich ausdrücklich begrüße und die hier stellenweise wirklich sehr gut war, findet nicht überall statt.

Wie gesagt, bei vielen Muslimen findet diese Praxis überhaupt keine Anwendung. Es ist eine völlig marginale Praxis. Aber dieses Marginale mindert dennoch nicht den Schutz dieser Personen, wenn sie sich auf ihre religiöse Überzeugung berufen und deshalb sagen, sie würden die Vollverschleierung tragen. Da ist meine oder Ihre Wertung, Herr Nacke, völlig irrelevant. Es kommt auf die Wertung durch die betroffene Person an.

Herr Thiele hat natürlich recht. Man kann bei den Strukturen unter Umständen davon ausgehen, dass Nötigung, also ein Zwang, dahintersteht. Aber dann wäre es auch strafrechtlich relevant; denn dann wäre der Tatbestand der Nötigung erfüllt. Darüber hinaus gibt es in Niedersachsen das Beamtengesetz, das Frau Tiemann bereits erwähnt hat.

Der Gesetzentwurf der CDU beinhaltet ein grundsätzliches Verbot der Verhüllung des Gesichtes in öffentlichen Räumen. Ein wenig drängt sich hier der Verdacht auf, es sei eine konzertierte Aktion, weil dies schon in verschiedenen Bundesländern und Landtagen zur Sprache gekommen ist. Aber egal, kommen wir zur Sache!

Wenn der Gesetzgeber das Tragen religiös besetzter Kleidung verbietet, dann greift er damit erheblich in die Glaubensfreiheit der Bürgerinnen - in diesem Fall - ein. Ein Verbot der Vollverschleierung im öffentlichen Raum wird nicht mit oberflächlichen Argumenten, das gehört ja nicht zu unserer Kultur, zu begründen oder zu rechtfertigen sein. Eine Einschränkung der freien Religionsausübung ist vielmehr nur dann denkbar, wenn es zu Konflikte mit anderen überragenden Verfassungswerten oder den Grundrechten Dritter kommt. In Betracht kommt hier meines Erachtens das Gebot der Menschenwürde oder der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Wenn da Nötigung im Spiel ist, dann - das sagte ich bereits - ist das ohnehin strafrechtlich relevant.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung von Petra Tiemann [SPD])

Es gibt ja Erkenntnisse. Das Beispiel Frankreich wurde schon genannt. Seit dem Jahr 2010 gibt es da das Gesamtverbot der Vollverschleierung. Meines Erachtens läuft dort das Verbot ins Leere. Die Burkaträgerinnen sind nicht verschwunden; darauf hat Frau Tiemann schon hingewiesen. Es gibt regelrecht einen Fonds. All die, die das nicht bezahlen können, werden aus dem Leben herausgedrängt. Sie werden noch weiter in ihrer Parallelwelt marginalisiert, in der sie ohnehin schon gefangen sind. Da bin ich ja voll bei Ihnen.

Zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Falle Frankreichs: Der oberste Maßstab in Deutschland ist das Grundgesetz. Die Europäische Menschenrechtskonvention hat nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lediglich den Rang eines einfachen Gesetzes, steht damit also unter dem Grundgesetz, weshalb der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages im Dezember 2014 in einem Gutachten zu dem Ergebnis gekommen ist, dass trotz der Entscheidung des EGMR ein Burkaverbot in Deutschland nicht mit unserer Verfassung vereinbar sei. Ich lasse mich aber gern in den Beratungen überzeugen.

Neben dieser rechtlichen Debatte ist doch die Beantwortung der Frage, wie wir da praktisch ansetzen, viel wichtiger. Ich denke, dabei sind wir wieder beieinander. Wir hatten hier in Niedersachsen ein, zwei Fälle, die wir immer wieder diskutiert haben. Meines Erachtens können wir mit einem Verbot dieser Situation nicht Herr werden. Bei diesen Fällen geht es um Personen, die wirklich in einer Parallelwelt gefangen sind. Wenn Sie, Herr Thiele,

schon unterstellen, dass ein Zwang, zumindest ein subtiler Zwang, dahintersteht, der vielleicht religiös begründet sein mag, dann bedeutet ein Verbot, sich in der Öffentlichkeit bzw. in öffentlichen Einrichtungen zu zeigen, dass kein Mann, der dahintersteht und dies bei seiner Frau durchsetzen will, einknicken und sagen wird: Okay, du darfst ohne Burka nach draußen gehen.

Dieses Weltbild, dieses Nötigungspotenzial ist meines Erachtens völlig weltfremd. Diese Fälle zeigen, dass sich diese Personen der Öffentlichkeit dann auch stellen müssen, z. B. in dem Kontakt zu beRATen e. V., der Beratungsstelle hier im Lande Niedersachsen. Bei der Schülerin in Belm ist es so, dass die gesamte Familie zu einem Gespräch sozusagen gezwungen werden kann, sodass Überzeugungsarbeit geleistet werden kann. Das geht aber nicht auf die Schnelle; das ist mir klar. Aber ein Verbot bringt gar nichts, da dann diese Frauen in ihrer Parallelwelt, zu Hause oder wo auch immer, gefangen sind, also in ihrer marginalisierten Welt. Insofern glaube ich, dass wir mit einem Verbot nicht weiterkommen.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung bei der SPD)

Es ist keine falsche Toleranz, wie hier anklang. Wir sagen nicht, dass jemand eine Burka gutheißt, dass wir dies als kulturelles Colorit akzeptieren.

(Mechthild Ross-Luttmann [CDU]: Was ist Ihr Vorschlag?)

Darum geht es nicht. Es geht einzig und allein darum, wie man Zugang zu diesem marginalen Personenkreis bekommt, um damit umgehen zu können.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Herr Kollege, es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage. Wenn Sie diese zulassen, erteile ich Herrn Thiele das Wort.

Vielen Dank, Herr Onay.

Herr Präsident! Herr Onay, Sie selbst haben gerade Belm angesprochen. Ich habe aus den Beratungen im Kultusausschuss einen anderen Eindruck darüber gewonnen, wie diese Gespräche ablaufen. Ich bitte Sie, zu erwägen, Ihre Position noch einmal zu überprüfen.

Die Situation ist, dass die Gespräche auf freiwilliger Basis stattfinden und keinerlei - nach der Interpretation der bisherigen Rechtslage durch unser Kultusministerium - Handhabe besteht, das minderjährige Mädchen dazu zu bringen, die Burka im öffentlichen Raum abzulegen.

Stimmen Sie mir nicht zu, dass die Rechtslage für die Schule, für alle Beteiligten, auch für das Kultusministerium, einfacher wäre, wenn wir eine entsprechende gesetzliche Grundlage hätten, die eindeutig ist, um dieses Mädchen dazu zu bringen, die Burka abzulegen, jenseits der Frage, ob zu Hause, in ihrem Elternhaus dieses gebilligt wird oder nicht, weil sie es dann tun müsste?

Bitte die Antwort, und danach möchte Frau Bertholdes-Sandrock eine Frage stellen.

Herr Präsident! Vielen Dank, Herr Thiele, für die Frage. Wir drehen uns ein Stück weit im Kreis. Ich habe versucht, das gerade auszuführen. Ich teile Ihre Auffassung, dass diese Praxis völlig weltfremd ist und mit unserem Gesellschaftsbild, mit unserem Verständnis eines Zusammenlebens von Frau und Mann nicht vereinbar ist.

Aber die Frage ist doch gar nicht, ob wir das gutheißen oder nicht,

(Editha Lorberg [CDU]: Doch!)

sondern wie wir damit umgehen. Diese Frage ist meines Erachtens nicht mit Verboten zu beantworten, auch nicht mit Geldstrafen oder anderen Sanktionen. Auch mit Blick auf die Schullösung müsste die Frage gestellt werden: Welche Sanktionen möchten Sie daran anknüpfen? Soll dem Mädchen die Burka am Schultor mit Zwangsmaßnahmen heruntergerissen werden? Oder wird sie dann nicht mehr zur Schule kommen? - Dann sind wir wieder da, was ich Ihnen vorhin zu beschreiben versucht habe: gefangen in der Familie, die das mindestens gut heißt, wenn nicht sogar einfordert. Insofern glaube ich, dass für das Mädchen keine Lösung über Verbote gefunden werden kann.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der SPD - Der Redner verlässt das Redepult)

Halt! An sich steht Frau Bertholdes-Sandrock für eine Zwischenfrage an. Es sei denn, Sie lassen die nicht zu.

(Belit Onay [GRÜNE]: Nein!)

- Nun nicht mehr?

(Belit Onay [GRÜNE]: Nein!)

- Er lässt sie nicht zu.

(Karin Bertholdes-Sandrock [CDU]: Er lässt sie nicht zu?)

- Nein.

(Karin Bertholdes-Sandrock [CDU]: So ein Pech, Herr Onay!)