Protocol of the Session on October 6, 2010

In der Antwort behaupten Sie, die Gesetzesformulierung hätte keinerlei Auswirkungen auf die Praxis gehabt. Entschuldigen Sie, meine Damen und Herren, aber das ist lächerlich. Wenn Ihre Gesetze keine Auswirkungen in der Praxis haben, dann könnten Sie es gleich sein lassen. Nein, die Auswirkungen sind da. Sie sind sichtbar.

Herr Justizminister, Sie selbst wollen Entlassungsvorbereitungen und Übergangsmanagement vorantreiben, was ich sehr begrüße. Es ist sehr wohltuend, solche öffentlichen Äußerungen dazu auch einmal von einem Konservativen zu hören. Das geht aber leichter mit mehr Lockerungen, offenem Vollzug und einer flächendeckenden Ausdehnung des Projekts „Fit für die Zukunft“. Fälle, in denen Menschen quasi von heute auf morgen ohne Erprobung in die Freiheit entlassen werden und dann mit einer Sporttasche in der Hand vor dem Gefängnistor stehen, sollte es nur noch in Filmen geben. Es gibt sie aber leider vereinzelt auch in Niedersachsen. Wir sollten das dringend abstellen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Über die Sicherungsverwahrung ist hier in den letzten Monaten schon viel diskutiert worden. Deshalb dazu nur so viel: Die Zahl der Sicherungsverwahrten hat in den letzten Jahren - entgegen den sonstigen Haftzahlen - deutlich zugenommen. Angesichts der Tatsache, dass es sich hier um Haft auf Prognose handelt, ist das eine höchst problematische Entwicklung. Dem Trennungsgebot sind Sie auch in Niedersachsen nicht immer ausreichend nachgekommen. Hier wären mehr Mut zur Offenheit und Orientierung an den Rechtstatsachen angebracht.

So ist es doch höchst bemerkenswert, was die Studie der Göttinger Universitätspsychiatrie jüngst gezeigt hat, die sämtliche bis zum Jahre 2008 getroffenen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs, in denen dieser eine nachträgliche Sicherungsverwahrung abgelehnt hat, ausgewertet hat. Nur etwa ein Viertel der von den Gutachtern als gefährlich eingestuften Straftätern ist nach ihrer Entlassung wieder schwerwiegend straffällig geworden.

(Minister Bernhard Busemann [CDU]: Ein Drittel zu viel!)

Die anderen drei Viertel, Herr Justizminister, haben in den zwei Jahren nach ihrer Entlassung keine weiteren Straftaten begangen, die eine Unterbringung oder gar Sicherungsverwahrung rechtfertigen würden. Ich meine, dass diese Erkenntnisse anzeigen, dass wir jedes Schüren von Hysterie zu diesem Thema tunlichst vermeiden sollten und nicht auf durchsichtige Weise mit den Ängsten der Bürgerinnen und Bürger spielen sollten.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung von Professor Dr. Dr. Ro- land Zielke [FDP])

Beim Jugendarrest fällt vor allem eines auf: Zahlen über Rückfallgefahr nach einem verbüßten Jugendarrest haben Sie nicht. Die einzigen Zahlen aus einer wissenschaftlichen Untersuchung, die Sie haben, gehen von etwa 70 % Rückfalltätern nach einem verbüßten Jugendarrest aus. Meine Damen und Herren, 70 %! Das sollten Sie sich einmal vor Augen führen, bevor Sie großspurig die Ausweitung des Jugendarrestes und die zusätzliche Einführung des Warnschussarrestes propagieren.

Die Jugendanstalt Hameln hat zu Recht ein hohes Renommee. Allerdings bleibt hier - genau wie im Frauenvollzug - das Problem der heimatnahen Unterbringung ungelöst. Vielleicht wäre es gut,

auch in diesem Bereich stärker über eine Kooperation mit anderen Bundesländern, z. B. Hamburg, nachzudenken. Die JVA Hahnöfersand, zumal auf niedersächsischem Boden gelegen, könnte auch niedersächsische Gefangene aus der Nordostregion aufnehmen und so auch für Frauen und Jugendliche aus der Region eine heimatnahe Unterbringung ermöglichen.

Meine Damen und Herren, es ist gut und vorbildlich, dass wir in Niedersachsen Mutter-KindStationen haben. Aber angesichts des gesellschaftlichen Wandels sollten auch Maßnahmen zur Stärkung der Vater-Kind-Beziehung unternommen werden, wo es die Sicherheit zulässt. Nicht jeder verurteilte Straftäter ist ein schlechter Vater. Hier sehe ich deutlichen Nachholbedarf.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Abschließend bleibt festzuhalten: Der niedersächsische Justizvollzug, so wie er ist, ist im Großen und Ganzen auf einem guten Weg; aber es gibt noch viel zu tun.

Das Gesundheitsmanagement für Bedienstete muss ausgebaut, Vollzugslockerungen und Entlassungsmanagement müssen verstärkt und der Justizvollzug muss insgesamt auf die kommenden Herausforderungen und Veränderungen vorbereitet werden.

Das vorbildhafte Projekt des Haftraummediensystems der JVA Wolfenbüttel sollte möglichst bald flächendeckend eingeführt werden.

Eine höhere Investition in die Bildung und Ausbildung der Gefangenen sowie in die lebenslange Fort- und Weiterbildung der Bediensteten wäre zukunftsweisend.

Was wir allerdings nicht brauchen, sind teure Großprojekte in Privathand. Haben wir doch Vertrauen in die staatlichen Bediensteten, meine Damen und Herren!

Danke schön.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Meine Damen und Herren, für die Landesregierung erteile ich nun Herrn Minister Busemann das Wort. Er hat zugesagt, nicht die gesamte Antwort auf die Anfrage vorzulesen.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe dem Präsidenten als Gegenleistung dafür versprochen, nur eine Stunde zu reden.

(Hans-Dieter Haase [SPD]: Wir haben es befürchtet!)

Aber Spaß beiseite; denn Strafvollzug ist ein ernstes Thema. Ich darf mich beim Kollegen Limburg für den Beitrag bedanken. Man kann natürlich in Regierung und Opposition machen. Aber man kann in einem Bereich, der zwar nicht problemfrei ist, der jedoch dank der Hilfe und Arbeit vieler eigentlich ganz ordentlich aufgestellt ist, Debatten auch im Dialogwege führen. So verstehe ich unser Thema Strafvollzug jedenfalls in diesen Tagen.

Bereits am 27. August, Herr Kollege, haben wir dem Landtag eine - inklusive Anlagen - 169 Seiten starke umfassende Bestandsaufnahme des niedersächsischen Justizvollzuges vorgelegt, die, wie ich denke, ihresgleichen sucht und die Sie inzwischen sicherlich kennen und mit Interesse gelesen haben. So etwas hat es, glaube ich, in der Geschichte des Landtages noch nicht gegeben, ein solches Kompendium, ein so umfassendes Werk, in dem an den Fragestellungen des Vollzugsgesetzes entlang alles abgefragt und alles beantwortet wird. Insofern sage ich den Grünen - man ist ja froh, wenn das Ergebnis hinterher stimmt - herzlichen Dank dafür. Auch wenn die Beantwortung mit Knirschen abgegangen ist und mit viel Arbeitsbelastung verbunden war, so haben wir ein tolles Kompendium von Zahlen, Daten und Fakten zum Justizvollzug, das die Wirklichkeit, die wir insbesondere seit 2003 hier geschaffen haben, widerspiegelt.

Ich darf das dann doch sagen: Wir haben in Niedersachsen einen sehr modernen Strafvollzug, der sich im Ländervergleich im Spitzenbereich etabliert hat. Er ist human, er ist sicher, und er ist ausgerichtet auf die Wiedereingliederung der Gefangenen in die Gesellschaft. Hierauf dürfen wir alle miteinander ein Stück weit stolz sein.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Es gibt natürlich den Strafanspruch der Gesellschaft, dem auch Genüge getan werden muss. Aber ich glaube, das vorrangige Ziel oder zunächst mindestens parallele und dann vorrangige Ziel muss die Wiedereingliederung in die Gesellschaft sein. Das ist ein Teil des Sicherheitsanspruches, den die Bevölkerung an uns im Vollzug naturgemäß richtet.

Die Große Anfrage ist natürlich auch eingebracht worden, um die Sinnhaftigkeit des Baus einer neuen JVA in Bremervörde zu hinterfragen. Hier gibt es einen Dissens, den wir heute sicherlich nicht auflösen werden. In der Zwischenzeit ist diese Frage auch in den Ausschüssen des Landtages behandelt worden. Sie kennen die Haltung der Landesregierung, auch meine persönliche, hierzu. Die Landesregierung jedenfalls hält die Realisierung des Vorhabens für wirtschaftlich. Das ist auch ein Anspruch an ÖPP. Wir können, sollen, müssen und dürfen es nur dann machen, wenn es - bei aller Wahrung von qualitativen Ansprüchen - kostengünstiger ist, als wenn man denn selber baut.

(Hans-Dieter Haase [SPD]: Das wird Ihnen nicht gelingen!)

Hier haben wir, Herr Kollege Haase, den Wirtschaftlichkeitsnachweis geliefert. Ich sage Ihnen ganz offen: Wir sind davon überzeugt, dass wir mit Bremervörde den richtigen Weg gehen. Ich bin auch entschlossen, die weitere Entwicklung und die Ergebnisse, insbesondere in finanzieller Hinsicht, sauber evaluieren zu lassen, um Gewissheit über unsere aktuellen Annahmen zu bekommen. Sie kennen sie ja auch aus den Ausschüssen. Damit haben wir nicht die geringsten Probleme. Alles, was - es sei denn, der Datenschutz verbietet uns das; Sie werden es nächste Woche von mir hören - an Daten, Fakten und Zahlen dazu zu liefern ist, bekommen Sie geliefert. Wir haben den gemeinsamen Auftrag, das Ganze dann über 25 Jahre zu betrachten, zu bewerten und zu evaluieren. Ob ich so lange im Amt bleibe, weiß ich nicht; darüber müssen wir reden.

(Hans-Dieter Haase [SPD]: Eher nicht!)

- 25 Jahre sind ja doch eine lange Strecke. Aber wir sind gut dabei.

Meine Damen und Herren, viele Entwicklungen im Vollzug sind ausgesprochen erfreulich. Zu den besonders positiven Entwicklungen zähle ich vor allem auch die Belegungssituation. Mussten wir 2003 noch mit einer geradezu dramatischen Überbelegung und über 7 000 Gefangenen im Jahresdurchschnitt fertig werden, so haben wir mittlerweile eine nach unseren Ansprüchen ausgeglichene Belegung. Das verbessert nicht nur die Möglichkeiten der gebotenen Differenzierung im Vollzug - das ist ja wichtig -, wie etwa die Tätertrennung im U-Haft-Bereich, sondern hilft auch, schutzbedürftige Gefangene von gewaltbereiten Gefangenen und behandlungswillige Gefangene von den nicht

zur Mitarbeit bereiten Gefangenen zu trennen, Sicherheitsanforderungen bei der Unterbringung einzelner Gefangener zu berücksichtigen und Drogenabhängigen mit dem Willen zur Abstinenz Räume ohne Verführungsrisiken zu geben. Das alles sind Dinge, meine sehr geehrten Damen und Herren von der Opposition, die allzu oft und allzu leicht vergessen werden. Ihre Rechnung „Haftplätze minus Gefangene gleich Bremervörde muss nicht gebaut werden“ ist natürlich falsch. Wir müssen Spielräume haben - das ist gut im Sinne eines erfolgreichen Vollzuges -, auch für die Zeit danach mit weniger Aggression im System usw. usf. Eigentlich kennen Sie diese Argumente.

Dass wir insgesamt gute Daten vorzeigen können, ergibt sich aus dem gesamten Werk. Ich darf an dieser Stelle noch einmal einflechten: Die Belegungssituation ist bekannt. Aber wir haben im geschlossenen Vollzug zu 80 % Ein-Personen-Unterbringung in den Zellen. Da wollen wir noch ein bisschen besser werden. 100 % kann und darf man auch nicht erreichen; das haben wir hier diskutiert. Wir haben eine sehr günstige Beschäftigungsquote. Es ist für Leute, die einsitzen, unheimlich wichtig, dass auch gearbeitet werden kann, dass Beschäftigung vorhanden ist und dass man für die Zeit danach ausbildet. Arbeit bedeutet auch ein Stück Zufriedenheit. Das gilt auch für den Strafvollzug.

Die Bedingungen für unser vorrangiges Vollzugsziel, die Resozialisierung, sind infolge sinkender Belegung deutlich besser geworden. Ich sage: Gott sei Dank; denn ich habe nicht vergessen, wie es im Vollzug in Zeiten dramatischer Überbelegung aussah. Einige von Ihnen werden sich erinnern. Ich war ja auch schon in den 90er-Jahren hier im Parlament - allerdings auf der Oppositionsseite - im rechtspolitischen Bereich unterwegs. Wir mussten den sozialdemokratischen Justizministern der 90er-Jahre und auch Anfang dieses Jahrzehnts immer wieder vorhalten, dass Überbelegungssituationen vorhanden sind, mit all den Problemen, die das mit sich bringt.

(Zuruf von Wolfgang Jüttner [SPD])

- Ja, es brauchte aber einigen Druck der damaligen Opposition, bis etwas in Bewegung gekommen ist.

(Hans-Dieter Haase [SPD]: Olden- burg, Sehnde - alles zu unserer Zeit!)

Dann kamen Rosdorf und Sehnde, jetzt kommt Bremervörde. Ich habe gar kein Problem damit.

Aber Sie vergessen, dass wir damals manche schwierige Diskussion miteinander haben führen müssen. Ich bin heute besser dran als meine Amtsvorgänger von Ihrer Seite. Sagen wir es ruhig einmal so.

(Hans-Dieter Haase [SPD]: Weil das Haus sehr gut bestellt war!)

- Regen Sie sich doch nicht auf! Ein bisschen historische Aufarbeitung darf doch sein.

Meine Damen und Herren, wir sind hinsichtlich der Neugestaltung der Justizvollzugslandkarte in Niedersachsen auf einem guten Weg. Wir stehen in unserem Justizvollzug für eine schlanke Verwaltungs- und zukunftsfähige Organisationsstruktur.

Die Beschäftigungsquote - das habe ich schon erwähnt - ist außerordentlich hoch; sie liegt im 80-prozentigen Bereich; das ist sicherlich auch ein bisschen konjunkturabhängig. Übrigens wächst auch - das ist mir ganz wichtig - die Zahl der Plätze in der Sozialtherapie. Auch hier stimmen die Verhältnisse; das geht in die richtige Richtung.

Auch unsere Sicherheitskennzahlen sind gut. Das darf man bei alldem nicht vergessen. Die Bevölkerung macht die Situation des Strafvollzuges oft - ein bisschen schlicht - an der Fragestellung fest, ob noch jemand ausbricht oder nicht. Dabei sind wir gut aufgestellt. Sicherheit im Vollzug bedeutet stets Wachsamkeit und richtige Prognosen. Jede Straftat eines Gefangenen innerhalb des Vollzugs oder in der Lockerung ist eine zu viel. Jede Entweichung ist eine zu viel, meine Damen und Herren. Auch jede falsche Prognose ist eine zu viel. So etwas ist in diesen Tagen Gott sei Dank fast nicht wahrnehmbar, das ist statistisch auf niedrigstem Niveau. Trotzdem kann man immer noch ein bisschen besser werden. Nichts ist so gut - das sagen wir alle gemeinsam -, als dass es nicht noch besser werden könnte. Das sollten wir im Dialog besprechen; das habe ich schon verschiedentlich angeboten. Dabei sollten wir uns gemeinsam weiterbewegen.

Wir arbeiten in Niedersachsen u. a. an der Gestaltung des Übergangs aus der Haft in die Freiheit. Ich teile nicht die Auffassung des Kollegen Limburg zur Gewichtung von geschlossenem und offenem Vollzug. Aber ich denke, das Stichwort „Übergangsmanagement“ ist sehr wichtig: Das ist ein Arbeitsfeld, an dem wir miteinander arbeiten sollten. Sie werden festgestellt haben, dass ich in den letzten zwei Jahren hier durchaus einen Schwerpunkt gesetzt habe. Da sind wir tätig. Der

Übergang ist eine Zeit, die für viele Gefangene sehr schwierig ist. Der Übergang in die Freiheit muss gelingen. Arbeit, Ausbildung, Wohnung, Umfeld usw. müssen rechtzeitig angegangen und organisiert werden, damit der Mensch, wenn er in die Freiheit entlassen wird, aufgefangen wird und sich in der Gesellschaft vernünftig weiterentwickeln kann, sodass er nicht verlassen dasteht und drei Tage später wieder eine Straftat begeht, um ein paar Monate später wieder im Vollzug zu sein.

Wir haben eine Menge auf den Weg gebracht. Wir haben Entlassungskoordinatoren als feste Ansprechpartner zur Vermeidung von Zeit- und Reibungsverlusten in allen Vollzugseinrichtungen benannt und erarbeiten einheitliche Standards für den Vollzug, den ambulanten Justizsozialdienst und die Anlaufstellen der freien Träger in der Straffälligenhilfe.

Ich will noch einen anderen Punkt aufgreifen, den auch der Kollege Limburg angesprochen hat, und zwar die Sicherungsverwahrung. Ich will das Thema nicht wieder von der rechtlichen Grundlage her aufdröseln; das haben wir in den Debatten der letzten Monate schon getan. Ich kann nur sagen: Hoffentlich schafft es der Bundesgesetzgeber möglichst zügig, eine klare, am Sicherheitsinteresse der Bevölkerung orientierte Rechtslage zu schaffen. Das ist meine Forderung. Es eilt.