Protocol of the Session on August 19, 2010

Das hat in seiner grundlegenden Entscheidung vom 5. Februar 2004 die Streichung der zehnjährigen Höchstgrenze bei einer erstmalig angeordneten Sicherungsverwahrung ausdrücklich für verfassungsgemäß erklärt. Es hat aber deutlich herausgestellt, dass es das Grundgesetz rechtfertigt, unabdingbare Maßnahmen zu ergreifen, um wesentliche Gemeinschaftsgüter vor Schaden zu

bewahren. Die Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Wohl der Allgemeinheit überwiegt danach das Vertrauen der Betroffenen auf den Fortbestand der alten Zehnjahresgrenze.

Den Entscheidungen des EGMR kommt im Gegensatz zu den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts keine unmittelbare Gesetzeskraft zu. Die deutschen Gerichte haben die Entscheidungen des EGMR lediglich im Rahmen der Gesetzesauslegung zu berücksichtigen. Die Gerichte sind nicht gezwungen, Entscheidungen des EGMR schematisch umzusetzen.

Ich halte es nicht für vertretbar, Sicherungsverwahrte ohne weitere Abwägung von Grundrechtsgütern allein mit Rücksicht auf die EGMRRechtsprechung zu entlassen.

(Zustimmung von Ursula Körtner [CDU])

Ich sehe mich im Übrigen in meiner Rechtsauffassung durch das Bundesverfassungsgericht bestätigt. Das Bundesverfassungsgericht hat nämlich mit Beschlüssen vom 22. Dezember 2009, 19. Mai 2010 und 30. Juni 2010 in Kenntnis der EGMREntscheidung vom 17. Dezember 2009 die Entlassung von Sicherungsverwahrten im Wege der einstweiligen Anordnung abgelehnt und dabei jeweils auf die Gefährlichkeit des Untergebrachten abgestellt.

Eine Abwägung, die im Hinblick auf eine Entscheidung des EGMR vom 17. Dezember 2009 geboten war, ergab für die Verfassungsrichter, dass das Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit das Interesse des Beschwerdeführers an der Beendigung der Freiheitsentziehung überwiege.

Das Bundesverfassungsgericht hat damit eindeutig, jedenfalls vorläufig, das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit über die Freiheitsrechte der Sicherungsverwahrten gestellt und nochmals deutlich gemacht, dass die Verpflichtung des Staates zum Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit der Bürgerinnen und Bürger Vorrang vor dem individuellen Freiheitsinteresse des in der Sicherungsverwahrung befindlichen verurteilten Straftäters hat.

(Beifall bei der CDU)

Dem kann ich nur nachdrücklich zustimmen. Denn bei der Sicherungsverwahrung geht es um höchst gefährliche Straftäter, die bereits schwerste Straftaten begangen haben und in besonderem Maße rückfallgefährdet sind. Die Sicherungsverwahrung ist das einzig sichere und deshalb unverzichtbare

Instrument, um die Bevölkerung vor gefährlichen Straftätern zu schützen.

(Zuruf von Ulrich Watermann [SPD])

Ich bin besorgt. Herr Kollege, das ist ein sehr wichtiges Thema. Sie sind Zeitungsleser und haben auch Nachbarn. Sie wissen daher, was die Nation in diesen Tagen bewegt.

(Beifall bei der CDU)

Deswegen erlauben Sie mir schon, mit der notwendigen rechtlichen Fundiertheit die Geschehnisse hier im Lande Niedersachsen zu erläutern.

(Beifall bei der CDU - Ulrich Water- mann [SPD]: Dann machen Sie doch eine Regierungserklärung dazu! Wir brauchen das nicht! - Gegenruf von Heinz Rolfes [CDU]: Unglaublich!)

- Meine Damen und Herren, erklären Sie Ihrem Landrat zu Hause, wie desinteressiert Sie an der Fragestellung sind!

Meine Damen und Herren, ich schlage vor, dass der Minister fortfährt. Wenn Sie Fragen haben, können Sie sie nachher stellen. Bei einem solchen komplexen Thema ist es immer schwierig.

Herr Minister, Sie haben das Wort!

Ihnen scheint die Antwort nicht zu gefallen, Herr Kollege.

(Zuruf von der SPD: Nein, sie gefällt uns auch nicht!)

Meine Damen und Herren, ich bin besorgt, weil wir seit Dezember 2009 keinen konkreten Fortschritt bei der Neugestaltung des Instruments der Sicherungsverwahrung haben. Wir wissen um die Entscheidung des EGMR. Wir wissen um die unterschiedliche Rechtsprechung in Deutschland. Wir wissen, dass eine große Anzahl von gefährlichen Untergebrachten möglicherweise demnächst frei kommt.

Wir brauchen daher unverzüglich eine gesetzliche Regelung, wie wir gefährliche Sicherungsverwahrte aufgrund ihrer Persönlichkeitsstörungen weiter in Verwahrung nehmen können. Wir brauchen klare gesetzliche Vorgaben, wie bestehende Schutzlücken zu schließen sind. Wir brauchen keinen Disput darüber, ob nicht vielleicht die Bundesländer zuständig sind; denn sie sind es nicht.

Das weiß auch jeder, der sich einmal mit der Thematik beschäftigt hat. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2004 ist eindeutig. Auf das Rechtsinstitut der nachträglichen Sicherungsverwahrung werden wir nicht verzichten können.

Meine Damen und Herren, das alles in Ausführlichkeit vorausgeschickt, kann ich es jetzt kurz machen und die Dringliche Anfrage zu drei Punkten einfach so beantworten: Zu allen drei Punkten darf ich mich auf die Vorbemerkungen beziehen und verweise darauf.

Danke.

(Beifall bei der CDU)

Vielen Dank, Herr Minister. - Die erste Zusatzfrage stellt Frau Flauger von der Fraktion DIE LINKE.

(Jens Nacke [CDU]: Das war also doch nicht ausführlich genug! Doch noch Fragen!)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor dem Hintergrund, dass hier gerade ausgeführt wurde, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Europäische Konvention für Menschenrechte dahin gehend interpretiert hat, dass er ein Rückwirkungsverbot bei Sicherungsverwahrung ausgesprochen hat, vor dem Hintergrund, dass gerade ausgeführt wurde, dass hier zwar nicht die Entscheidungen von Gerichten kritisiert werden, dass aber Sicherungsverwahrte nicht automatisch entlassen werden müssten, frage ich die Landesregierung: Soll ich daraus folgern, dass sie nicht bereit ist, der Interpretation der Europäischen Konvention für Menschenrechte durch den Europäischen Gerichtshof entsprechend Folge zu leisten und ihr Verhalten an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs auszurichten? Heißt das, dass jeder Einzelne den gesamten Instanzenweg durchklagen muss, um gegebenenfalls sein Recht bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu erstreiten?

Herr Minister, bitte!

Herr Präsident! Frau Kollegin Flauger, am Ende entscheiden unabhängige Gerichte, ob es einem passt oder nicht. Das ist auch gut so.

Ich darf zum Grundsätzlichen Folgendes sagen: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist der Meinung, dass Sicherungsverwahrung, insbesondere nachträgliche Sicherungsverwahrung, eins obendrauf auf die ursprünglich verhängte Strafe ist. „Ne bis in idem“ heißt es: Zweimal darfst du nicht. - Wenn das so wäre, würde ich das sogar unterschreiben.

Das Bundesverfassungsgericht sagt uns aber in der grundlegenden Entscheidung aus 2004: Jemand hat eine Straftat begangen, hat die Haftzeit abgesessen, gilt aber als gefährlich, und deswegen muss aus präventiven Gründen das Rechtsinstitut der Sicherungsverwahrung auch in die Zukunft hinein präventiv zur Anwendung kommen dürfen, um die Allgemeinheit zu schützen. - Das ist ein grundlegender Auffassungsunterschied.

Wie Sie meiner Antwort angemerkt haben, liege ich auf der Linie des Bundesverfassungsgerichts, zumindest was die Entscheidung aus 2004 anbelangt. Ich meine, das Schutzinteresse der Bevölkerung stützt solche Betrachtungen auch.

(Beifall bei der CDU)

Jetzt zum Vorgehen. Das sage ich, soweit es überhaupt in der Macht eines Justizministers liegt. Wir haben unabhängige Gerichte und Staatsanwaltschaften, die wir nicht mit Weisungen belegen wollen. Ich sage gleichwohl: Wir werden nicht angesichts der Entscheidung aus Straßburg vom Dezember von Amts wegen in unsere Justizvollzugsanstalten gehen und die Altfälle - darum geht es ja insbesondere; Tat und Verurteilung vor 1998 - sozusagen von Amts wegen in die Entlassung schicken.

Es kann aber passieren und passiert auch, dass der Rechtsweg beschritten wird: Der einsitzende Sicherungsverwahrte stellt mit der Begründung „Straßburg“ einen Antrag auf Entlassung. Die örtliche Strafvollstreckungskammer in Niedersachsen hat diesen Antrag zu behandeln und als unabhängiges Gericht darüber zu befinden. Ich gehe davon aus, dass unsere Staatsanwaltschaften dann, wenn die örtliche Strafvollstreckungskammer entscheidet, dass entlassen werden muss, sagen würden: Schutz der Allgemeinheit, Karlsruhe, wir beugen uns dieser Entscheidung nicht. - Dann müsste der Antragsteller den Beschwerdeweg vor

das Oberlandesgericht beschreiten müssen. Oder umgekehrt: Würden sie sagen, dass entlassen werden muss, würden vielleicht die Staatsanwaltschaften in die Beschwerde und zum Oberlandesgericht gehen. - Wir hatten bereits zwei Fälle zu Sicherungsverwahrten in Niedersachsen. Das OLG Celle hat in beiden Fällen in sehr fundierten Entscheidungen gesagt: Karlsruhe, Schutz der Allgemeinheit, Gefährlichkeit ist unverändert attestiert, die beiden Sicherungsverwahrten bleiben drin! - Der nächste Weg ist, zum Bundesverfassungsgericht zu gehen, wo bundesweit mittlerweile einige Anträge vorliegen und wo einige Anträge auf einstweilige Anordnung auch schon abgewiesen worden sind und die Endentscheidung in der Hauptsache ansteht.

Ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir möglichst zeitnah aus Karlsruhe die grundlegende Entscheidung dazu bekommen, wie das zu sehen ist; denn ich halte es für einen unmöglichen Zustand, wenn in Deutschland ein OLG so und das nächste OLG so entscheidet. Denn das ist Rechtsunsicherheit und auch keine Werbung für den Rechtsstaat, wenn dieser Zustand über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten wird. Ich glaube, darüber sind wir uns einig unabhängig davon, wo wir in rechtlicher Hinsicht positioniert sind. Deswegen hoffe ich, dass darüber Klarheit geschaffen wird, weil auch der Bundesgesetzgeber, wie ich mit zarten Worten gesagt habe, reichlich durchhängt, weil er offenbar nicht so richtig weiß, was er machen soll.

(Beifall bei der CDU)

Vielen Dank, Herr Minister. - Die nächste Frage wird vom Kollegen Haase von der SPD-Fraktion gestellt.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal mein Dank für die im Kern doch sachliche Information der Regierung, wenn auch im Stil einer Regierungserklärung. Aber, bevor es laut wird: Dieses Thema ist einfach ein ernsthaftes Thema. Insoweit sind wir zwar in vielen Fragen der Bewertung z. B. der Wirkung des Urteils des EGMR - - -

Herr Kollege, wir sind aber in einer Fragestunde!

Wir sind da nicht so weit auseinander. Das wird hier im Landtag in 14 Tagen oder drei Wochen Thema der Debatte sein.

Ich komme zurück zu dem Sachverhalt und möchte dazu zwei Fragen stellen, Herr Präsident. Und schon bin ich da!

Erstens. Herr Minister, Sie sprachen von frühzeitiger Info, die zwischen den Justizverwaltungen der Länder vereinbart war. Dann haben Sie den folgenden Sachverhalt erzählt: Am 13. Juli bekommen Sie die Information, am 15. Juli war der Tag der Entlassung, auf den es ankam. - Haben Sie die Ursachen überprüft, wissen Sie, woran es gescheitert ist, dass die Vereinbarung zwischen den Justizverwaltungen der Länder nicht zum Tragen kam?

Ergänzend frage ich: Können Sie ausschließen, dass andere Behörden des Landes Niedersachsen seitens Behörden des Landes Baden-Württemberg informiert sind und insoweit die Landesregierung schon frühzeitiger informiert war?

Ich denke, dass diese Frage geklärt werden sollte. Werden dort überhaupt Ermittlungen angestellt?

Herr Minister!

Herr Präsident! Herr Kollege Haase, ich danke zunächst für das Verständnis, in dieser doch bedeutenden Frage etwas über die enge Fragestellung hinausgegangen zu sein. Ich sage es ganz offen: Wir haben als Justizminister der Länder schon nach der Dezember-Entscheidung gewusst, dass vor allem dann, wenn es dabei bleibt, Schwierigkeiten in technischer, rechtlicher und verfassungsrechtlicher Hinsicht und wie auch immer auf uns zukommen. Es war unser Bestreben - das ist ja schon vor Monaten geschehen -, dass wir ein Netzwerk aufbauen, damit wir in den Ländern erfahren, was jeweils wo Sachstand ist. Ein Oberlandesgericht in irgendeinem Bundesland, das eine Freilassung letztlich möglich macht, muss uns und den jeweiligen anderen Bundesländern auch sagen, wo der Mensch seinen Wohnsitz nimmt. Denn es ist doch völlig klar: Wenn das OLG X im Bundesland X eine Freilassung verfügt, dann kann der gute Mensch frei herumlaufen und sagen: Ich habe zwar in München eingesessen, finde es aber in der Lüneburger Heide schöner. - Derjenige, der in Hamburg freigelassen wird, kann